Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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21

Das schwere Leben in Kanada hatte Blake abgehärtet, und Schweigen und Einsamkeit waren für ihn alltäglich. Dort drüben hatte er manchmal wochenlang nichts von Menschen gesehen oder gehört. Er hatte allerdings auch weit genug von ihnen entfernt gewohnt. Aber hier war es anders. Hier lebten Menschen in allernächster Nähe; von der anderen Seite der Bucht schimmerte Licht herüber, und ab und zu fuhr draußen auf der See ein Schiff vorüber. Aber er sah dies alles nur wie ein Gefangener hinter vergitterten Fenstern, er konnte sie nicht erreichen. Als er seine Nachtwachen in dem Turm begann, war er von der Außenwelt vollständig abgeschnitten.

Mehrere Nächte lang ereignete sich nichts. Nach Einbruch der Dunkelheit kam er zu dem Turm, sah, wie die Lichter auf der anderen Seite der Bucht allmählich aufleuchteten, mehrere Stunden brannten und dann wieder verlöschten. Mit der Zeit kannte er sie alle und wußte auch, zu welcher Zeit man in den einzelnen Häusern zur Ruhe ging. Im Gasthaus »Zum Gelichteten Anker« blieb es bis halb elf hell, in Clents Haus brannte um Mitternacht, manchmal sogar um ein Uhr noch Licht. Wenn es auch dort dunkel wurde, strahlten nur noch die Sterne und das Drehfeuer des Leuchtturms von Shilhampton. Das tiefe Schweigen der Nacht wurde nur unterbrochen von dem monotonen Rauschen des Wassers. Ab und zu trug der Wind auch den Klang der Glocken von Brychester herüber.

Blakes Hoffnungen erfüllten sich während der ersten Woche nicht. Er suchte die Bucht dauernd nach Lichtern ab, die von der Barre zum Ufer kamen, und er lauschte angestrengt auf Ruderschläge in der Dunkelheit. Aber es schien, als ob die große Bucht gegen Mitternacht in Schlaf versänke. Kein Schiff kam zur Barre und sandte ein Boot zur Küste, und kein Signal wurde vom Clentschen Haus gegeben. Weder an der Barre noch auf dem Festland blitzte ein geheimnisvolles Licht auf. Und am Ende der Woche äußerte Blake zu Rachel und zu Atherton, die um sein Vorhaben wußten, daß seine Nachtwachen vielleicht noch monatelang dauern würden.

Aber in der achten Nacht geschah etwas.

Es war zwischen ein und zwei Uhr morgens, und das Licht im Clentschen Haus war schon eine gute Stunde ausgegangen. Es war kaum ein Stern am Himmel zu sehen, nur das Licht des Leuchtturms von Shilhampton wanderte im Kreise. Blake konnte es aber auch nicht so deutlich wie sonst erkennen, da ein leichter Dunst über der Küste lag und Nebel vom Kanal heraufzog. Er dachte gerade daran, sich in seine Decken zu wickeln und einige Stunden zu schlafen, als er plötzlich das Geräusch von Rudern in der Bucht hörte. Er öffnete das Fenster, lehnte sich weit hinaus und lauschte dann angestrengt.

Es war unmöglich, auf der Oberfläche des Wassers etwas zu sehen, aber es mußte ein Boot sein, das von der Barre zum Ufer gesteuert wurde und mit der hereinkommenden Flut in die Bucht kam. Blakes Gehör war scharf entwickelt, und er hätte die Spur des Bootes auf einer Karte aufzeichnen können. Das Fahrzeug kam etwa von der Mitte der Barre direkt auf die Spitze der Landzunge zu, wo Clents Haus lag. Er konnte sogar feststellen, daß die Ruder in den Gabeln mit Tuch umwickelt waren, und er mußte darüber lachen. Das alte Boot von Malvery Hold lag verborgen unter den Bäumen des Turms. Er hatte es fertiggemacht, falls er es brauchen würde, und auch er hatte dieselbe Vorsichtsmaßregel getroffen, seine Ruder mit Tuch zu umwickeln.

Hier lockte also ein Abenteuer. Das unsichtbare Boot kam immer näher in die Bucht herein. Er wußte auch, daß es zum gegenüberliegenden Ufer steuerte. Deswegen würde es für ihn ein leichtes sein, in gerader Linie vom Wachtturm zu Clents Haus hinüberzufahren und es abzufangen.

Blake machte sich sofort an die Arbeit. In der nächsten Minute hatte er den Turm verlassen, schlich sich leise zum Wasser hinunter und band das Boot los. Bald war er aus den überhängenden Ästen und Zweigen heraus. Die Dunkelheit schien in der Bucht noch tiefer zu sein als sonst, und als er vom Ufer abstieß, bemerkte er, daß ihn der Nebel vollständig umgab.

Die Flut kam herein, aber es regte sich kaum ein Windhauch. Die Oberfläche des Wassers war glatt und ruhig, aber die Strömung stark, und Blake mußte sich fest in die Ruder legen, um dagegen anzukommen. Er hatte sich seinen Kurs genau überlegt, bevor er ins Boot stieg. In gerader Linie wollte er die Bucht durchqueren. Aber als er nach kurzer Zeit zum Ufer zurückschaute, hatten Nebel und Dunkelheit den Wachtturm vollständig eingehüllt, so daß er sich nicht mehr orientieren konnte. Bald darauf wurde er selbst von der Finsternis vollkommen verschlungen, ebenso wie das fremde Boot, das er abfassen wollte. Als er zehn Minuten kräftig gerudert hatte, hielt er an und lauschte. Nach einer kleinen Weile hörte er wieder das leise Geräusch von Rudern, das näher und näher kam. Aber plötzlich verstummte es und setzte erst nach einiger Zeit wieder ein. Es schien jetzt wieder aus größerer Entfernung zu kommen, und Blake ruderte aufs neue vorwärts. Er wußte allerdings, daß er jede Orientierung verloren hatte. Es war möglich, daß er direkt auf die Felsen zuruderte, aber ebenso konnte er auch auf Marshwyke zuhalten. Das letzte erschien ihm wahrscheinlicher, wenigstens nach der Strömung der Flut zu urteilen.

Aber zehn Minuten später machte Blake eine Entdeckung, die ihn erstarren ließ. Er ruderte mit aller Kraft so ruhig wie möglich, aber er kam nicht von der Stelle. Im Gegenteil, es war, als senke er nur die Ruder ins Wasser und höbe sie wieder heraus. Alle seine Anstrengungen blieben vergeblich, und plötzlich wußte er, daß er sich in der Nähe des gefährlichen Strudels befand.

In dem dichten Seenebel war er dorthin geraten, und nun trieb ihn die Strömung dem gefährlichen Punkt immer schneller zu. Es war, als ob ihn eine geheime unterirdische Gewalt unwiderstehlich mit sich fortriß. Obwohl Blake kaltblütig und besonnen war, packte ihn doch sekundenlang wahnsinniges Entsetzen. Wie oft hatte er diesen dunklen Fleck auf der Oberfläche der Bucht beobachtet! Wie viele Leute hatten ihm den Strudel gezeigt und ihm erzählt, daß alles unrettbar verloren war, was in seinen Bereich kam. Er hatte nicht die geringste Lust, die Geheimnisse dieses Strudels zu ergründen. Er begann wieder mit aller Kraft zu rudern, um dem Schrecklichen zu entkommen. Arme und Hände schmerzten ihn wie noch nie zuvor in seinem Leben, als er die Ruder wieder sinken ließ. Er war um keine Handbreit vorwärtsgekommen. Aber in dem tiefen Schweigen, das nun folgte, hörte er die anderen Ruder dicht in seiner Nähe.

Dieser schreckliche Kampf um sein Leben hatte ihm allen Stolz genommen. Er dachte nur noch an Rettung und Sicherheit. Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, sich ins Wasser zu stürzen und zu schwimmen, aber er sah sofort ein, daß das zwecklos war. Allein würde er noch leichter in dem Strudel verschwinden als mit dem Boot zusammen. Und als ihm nun zum Bewußtsein kam, daß Menschen in der Nähe waren, klammerte er sich an diese letzte Hoffnung und rief um Hilfe. Schrill klang sein Ruf über die Bucht.

»Hilfe! Hilfe – Hilfe!«

Im nächsten Augenblick trieb das alte Boot gegen einen großen, dunklen Holzpfahl, der hoch aus dem quirlenden Wasser herausragte. Mit aller Gewalt schlug es dagegen, drehte sich im Kreise und schlug wieder dagegen. Dann wirbelte es umher wie ein Stückchen Kork. Aber Blake hatte die Geistesgegenwart besessen, den Holzpfahl zu umklammern, und als das Boot nun unter seinen Füßen fortgespült wurde, zog er sich daran aus dem Wasser und kletterte hinauf. Das Boot war verloren, aber er war gerettet, wenn ihn jemand aus dieser entsetzlichen Lage befreien konnte.

Das Geräusch der anderen Ruder kam näher, und eine Frauenstimme rief ihn an. Es überraschte ihn nicht, daß es Gillian Clent war, die er hörte, denn er hatte schon geahnt, daß sie unterwegs war.

»Wer ist da?« rief sie. »Wo sind Sie?«

»Hier auf dem großen Pfahl«, erwiderte Blake. »Mein Boot ist verloren. Kommen Sie nicht in die Nähe, sonst werden Sie auch fortgespült.«

Zu seinem größten Erstaunen beantwortete Gillian Clent seine Warnung mit einem lauten Lachen, das ebenso sanft klang wie ihre Stimme. Und es erschien ihm eher freundlich als ironisch oder spöttisch.

»Auf dem großen schwarzen Pfahl sind Sie in Sicherheit«, rief sie wieder. »Sie können die ganze Nacht dort zubringen. Es sind Sprossen da, auf die man die Füße stellen kann.«

»Die habe ich schon gefunden, aber trotzdem möchte ich nicht die ganze Nacht hierbleiben. Gibt es denn keine Möglichkeit, von hier fortzukommen? Mein Boot ist in diesen verdammten Strudel geraten.«

Wieder hörte er ein Lachen, aber diesmal klang es unterdrückt.

»Sind Sie nicht Mr. Blake, der neulich abends mit Atherton zu uns kam?«

»Jawohl. Aber was kann man denn tun? Sie können mit Ihrem Boot natürlich nicht in die Nähe kommen.«

»Doch, das kann ich. Aber Sie müssen warten. In zehn Minuten bin ich wieder hier.«

Er hörte, daß sie angestrengt ruderte, und daß gleich darauf der Kiel des Bootes auf dem Kies des Ufers knirschte. Ketten rasselten, und etwas Schweres wurde auf nasse Bretter geworfen. Dann hörte Blake wieder das Geräusch der Ruder, und ein Licht fiel über die gurgelnden und brodelnden Wasser unter ihm. Gleich darauf erschien Gillian Clent in einem Boot. Er sah, wie sie ein festes Tau nachließ, das offenbar an einem Pfosten am nahen Ufer befestigt war. Das Boot kam dicht in die Nähe des großen Holzpfostens, und Gillian leuchtete mit einer Laterne nach oben.

»Mr. Blake, Sie müssen herunterspringen«, sagte sie ruhig. »Wenn Sie dann unten sind, müssen Sie mir helfen, das Boot aus der Strömung zurückzuziehen. Mit Rudern können Sie hier nichts anfangen.«

Blake sprang hinunter, und ohne ein weiteres Wort packte er das Tau und zog kräftig daran, bis der Kiel auf dem Ufer auflief. Ebenso schweigend half er Gillian, das Boot festzumachen. Als das geschehen war, nahm sie die Laterne und sah ihn an.

»Wollen Sie nicht zu mir hereinkommen nach Ihrem Abenteuer? Oder wollen Sie wieder zu Ihrem Wachtturm zurückgehen?«

 


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