Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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13

Blake überdachte eine Weile schweigend, was er eben gehört hatte.

»Der Scheck ist am 28. Februar ausgestellt, sagen Sie? Dann war Richard Malvery an diesem Tage also noch am Leben!«

»Ein vollgültiger Beweis ist das natürlich nicht, denn er kann sich im Datum geirrt haben, oder er hat den Scheck spät abends am 27. ausgestellt und ihn für den nächsten Tag vordatiert. Mit diesen Möglichkeiten muß man allerdings rechnen. Aber die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß er am 28. noch lebte.«

»Könnte man seine Spur durch diesen Scheck verfolgen?«

»Das ist schwierig. Ich sagte Ihnen ja, daß der Scheck auf den Überbringer ausgestellt war. In England ist es Sitte, in diesem Fall nicht den Namen auf die Rückseite zu schreiben; der Betrag wurde dem Betreffenden so ausgezahlt. Der Scheck lautete ja auch nur auf zwölf Pfund. Sehen Sie, hier ist das Formular. Datiert am 28., vorgelegt erst am 7. März, also eine ganze Woche später. Das bringt mich auf den Gedanken, daß Malvery den Scheck irgend jemand auf dem Lande aushändigte, vielleicht in Brychester oder in Shilhampton, und daß der Betreffende den Scheck behielt, bis er in die Stadt kam. Ich werde einmal den Beamten rufen, der den Scheck ausgezahlt hat; vielleicht kann er uns näheren Aufschluß geben.«

Der Beamte, der gleich darauf erschien, hatte ein gutes Gedächtnis und wußte noch verschiedenes über den Mann.

»Er war nicht auffallend gekleidet«, berichtete er, »trug einen dunklen Gehrock und schielte. Das ist mir besonders in Erinnerung geblieben.«

Blake bedankte sich für die Auskünfte und brachte seine neuen Ermittlungen dann sofort Mr. Colwyn, der darüber sehr befriedigt war.

»Nun, die Sache rundet sich immer mehr ab. Hier liegen schon Bürstenabzüge von dem Artikel, mit dem ich morgen früh herauskomme. Wenn Sie sich die Mühe machen wollen, ihn einmal durchzusehen, werden Sie finden, daß alles genau Ihrer Erzählung entspricht. Nur ein Detail habe ich ausgelassen, nämlich das Verschwinden der Miß Hester Prynne.«

»Warum denn? Ich halte das für einen sehr wichtigen Punkt.«

»Möglich«, entgegnete Colwyn trocken. »Aber ich möchte doch jetzt noch nichts davon verlauten lassen. Wir haben keinen Beweis dafür, daß ihr Verschwinden mit Malvery zu tun hat. Miß Prynne kann irgendwelche anderen Gründe für ihr Weggehen gehabt haben, und außerdem kann sie jeden Augenblick wieder in Brychester auftauchen. Wir könnten den Umstand höchstens erwähnen, wenn die Polizei offiziell davon informiert ist, daß man sie vermißt. Dann können wir allerdings sehr viel daraus machen.«

»Nun, ich überlasse Ihnen die Entscheidung. Sie müssen es am besten wissen. Durch die Veröffentlichung Ihres großen Artikels tritt ja nun die ganze Sache in ein neues Stadium. Tausende lesen ihn morgen in der Gegend von Brychester, und Zehn- und Hunderttausende lesen ihn im ganzen Lande. Der Fall Malvery ist jetzt eine allgemeine Angelegenheit.«

*

Blake dachte wieder an diese Worte, als er am nächsten Morgen im »Kardinalshut« die Treppe herunterkam. Es schien ihm, als ob jeder, der ihm im Hotel oder auf der Straße begegnete, den »Argus« läse. Und an einem kleinen Zeitungsstand, der dem Hotel gegenüberlag, las er die großen Plakate:

Das Geheimnis von Malvery Hold.
Verschwinden eines zukünftigen Baronets unter außergewöhnlichen Umständen!

Der alte Oberkellner betrachtete Blake mit neuem Interesse, als er ihm das Frühstück servierte.

»Das ist eine merkwürdige Angelegenheit, diese Geschichte mit Mr. Richard. Ich wußte nicht, daß Sie mit ihm bekannt waren, bis ich heute morgen die Zeitung las.«

»Sie können sich doch aber auch noch auf ihn besinnen?« bemerkte Blake.

William räusperte sich diskret und sprach dann mit gedämpfter Stimme.

»Er ist mir noch fünf bis sechs Pfund schuldig. Wissen Sie, er kam öfter hierher und machte allerdings nur kleine Zechen, manchmal zehn Schilling, manchmal fünf, aber mit der Zeit summiert sich das. In Malvery Hold sieht es ja mit Geld recht traurig aus. Die Geschichte ist wirklich außergewöhnlich. Aber ich glaube, daß Sie nun durch die Veröffentlichung allerhand erfahren werden.«

»Ich bin in dem Punkt nicht so sicher.«

»Sie können sich darauf verlassen. Sicher wissen verschiedene Leute hier in der Gegend noch manches, was sie bisher nicht erzählt haben, weil sie den Dingen kein Gewicht beilegten.«

Was Blake zuerst zu hören bekam, war ein Wutausbruch von Mr. Boyce Malvery, den er in Athertons Büro traf. Er ging nach dem Frühstück zu dem Polizeibeamten, um über seine letzten Erfahrungen und über den Artikel im »Argus« mit ihm zu sprechen.

Aber kaum hatte er den Mund aufgetan, als Boyce Malvery wütend in das Zimmer stürzte.

Blake versuchte keineswegs, seine Abneigung gegen den Notar zu verbergen. Atherton setzte eine kühle Amtsmiene auf, und Boyce ließ seinen Ärger zunächst an dem Fremden aus.

»Ich brauche ja kaum zu fragen, wer für diesen Unfug verantwortlich ist«, sagte er eisig und warf die Zeitung auf den Tisch. »Den Artikel haben Sie natürlich inspiriert, das spricht aus jeder Zeile. Aber ich möchte Sie fragen, Atherton, ob das mit Ihrem Einverständnis geschehen ist? Haben Sie diese Sache offiziell sanktioniert?«

»Offiziell nicht, aber persönlich schon«, erwiderte der Beamte gelassen. »Ich war derjenige, der Mr. Blake darauf aufmerksam machte, daß meiner Meinung nach Ihr Vetter sich daraufhin melden würde, wenn er noch am Leben ist. Auf jeden Fall bekommen wir mehr Nachrichten, wenn das öffentliche Interesse auf den Fall gelenkt wird. Ich habe Mr. Blake diesen Rat gegeben, und ich würde es heute unter denselben Umständen wieder tun.«

»Was für ein Recht haben Sie denn, sich mit unseren Familienangelegenheiten zu beschäftigen?« fuhr Boyce Blake an. »Welches Recht haben Sie, unseren Namen an die Öffentlichkeit zu zerren, besonders in einem solchen Blatt, das nur auf Sensationen ausgeht? Ich bin das Haupt der Familie Malvery –«

»Nicht, solange Sir Brian noch lebt«, unterbrach ihn Atherton.

»Ich bin auf jeden Fall das Haupt der Familie«, erwiderte Boyce hitzig, »und wenn, wie es allem Anschein nach der Fall ist, mein Vetter Richard nicht mehr lebt –«

»Dann ist immer noch seine Schwester da, und die gehört zu der Hauptlinie, wie Sie wohl wissen«, unterbrach ihn Atherton aufs neue. »Sie sind doch von der Nebenlinie. Und in einem Fall wie diesem kommt eine Schwester vor einem Vetter.«

Boyce machte eine ungeduldige Handbewegung, aus der hervorging, daß seiner Meinung nach Frauen überhaupt nicht in Betracht kämen.

»Ich wiederhole Ihnen, ich bin die Person, die vorher um Rat gefragt werden mußte. Niemand hat das Recht, ohne meine Erlaubnis unsere Familienangelegenheiten in die Öffentlichkeit zu zerren. Sie kommen hierher und stellen Nachforschungen an über eine Sache, die Sie gar nichts angeht! Sie sagen, Richard war irgendwo in Kanada Ihr Teilhaber, aber wir wissen nicht einmal, ob Ihre Angaben stimmen! Vielleicht haben Sie irgendwelche persönliche Gründe für Ihre Handlungsweise und verfolgen damit andere Interessen.«

Blake richtete sich in seinem Stuhl auf und reckte seine Schultern. Verächtlich sah er auf den kleinen Boyce herunter, wie eine große Bulldogge auf einen kleinen, kläffenden Terrier.

»Es wäre besser, wenn Sie nicht in diesem Ton mit mir sprächen«, entgegnete er dann ruhig. »Ich kann meine Handlungsweise rechtfertigen. Dick Malvery war mein Teilhaber, und als er Abschied von mir nahm, wußte er, daß er und warum er hierherkommen wollte. Und ich werde auch noch herausbekommen, was aus ihm geworden ist. Ich unternehme nichts anderes, bis ich das weiß. Und nun will ich ein offenes Wort mit Ihnen sprechen, da Sie sich so unverschämt benommen haben. Ich will mich hier nicht brüsten; aber ich sage Ihnen nur, daß ich ein Vermögen von einer halben Million Pfund, wohlverstanden, nicht Dollars, besitze! Und ich werde, wenn es notwendig ist, mein ganzes Vermögen dafür einsetzen, um die Wahrheit über Dick Malvery zu erfahren. Und wenn Sie noch nicht wissen sollten, wer ich bin, so finden Sie auf dieser Karte die Adressen meines Rechtsanwaltes und meines Bankiers, beide sehr angesehene Firmen, die Sie kennen werden. Machen Sie nie wieder Andeutungen, als ob ich irgendwelche anderen Interessen haben könnte, sonst sollen Sie es bitter bereuen!«

»Lassen Sie zu, daß man mich hier in Ihrem Büro beleidigt?« wandte sich Boyce an Atherton.

»Sie haben sich das selbst zuzuschreiben, denn Sie haben angefangen«, entgegnete Atherton ruhig. »Ich kann das Vorgehen, wie Mr. Blake die Wahrheit über seinen Freund herausbringen will, nur billigen. Solche Andeutungen von Ihrer Seite kann er sich natürlich nicht gefallen lassen. Und außerdem hat die Familie, deren Oberhaupt Sie sind, wie Sie vorhin behaupteten, noch nichts unternommen.«

»Ich lasse mir nicht vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe«, erwiderte Boyce erregt und nahm die Karte mit den Adressen auf. »Ich werde Weiteres veranlassen. Wenn Mr. Blake seine halbe Million Pfund ausgeben will, dann mag er es ruhig tun. Mr. Blake kann sich das Verschwinden Richard Malverys wahrscheinlich nur durch einen Mord erklären.«

»Wissen Sie denn eine andere Erklärung?« fragte Blake ruhig.

»O ja, ich kann mir verschiedenes denken, wenn ich den früheren Lebenswandel von Richard Malvery in Betracht ziehe. Aber forschen Sie nur weiter, und geben Sie Ihr Geld aus!«

Mit einem hämischen Lachen ging Boyce zur Tür.

»Einen Augenblick noch, Mr. Malvery«, hielt ihn Atherton zurück, »Haben Sie Nachricht von Miß Prynne?«

»Diese Sache ist bisher noch nicht Angelegenheit der Öffentlichkeit. Offiziell habe ich Ihnen davon noch nichts mitgeteilt.«

Boyce verließ in hochmütiger Haltung das Büro. Atherton schüttelte den Kopf und wollte gerade eine Bemerkung machen, als ein Polizeibeamter mit einer Karte hereinkam. Er las sie laut.

»Mr. Newman Cuffe, Rennwetten, Shilhampton. – Führen Sie ihn herein!«

 


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