Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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18

Die beiden blieben auf dem Weg stehen, während der Hund fürchterlich heulte und bellte. Gillian Clent kam näher, und auf ein kurzes Wort von ihr kroch das Tier augenblicklich in seine Hütte zurück. Die Stille wurde jetzt nur noch durch das Rauschen der Wellen auf dem sandigen Strand und die Schritte Gillian Clents unterbrochen.

»Wer ist da?« fragte sie mit tief tönender Stimme.

Blake war aufs neue von dieser weichen, melodischen Stimme überrascht, und er war auch erstaunt, daß Gillian nicht in dem ortsüblichen Dialekt sprach. Der Wohllaut ihrer Stimme rief die Erinnerung an die gereifte Schönheit dieser Frau, die er nur einmal kurz gesehen hatte, in ihm wach.

»Hier ist Captain Atherton von Brychester«, erwiderte der Polizeikommissar auf Gillians Anruf. »Es tut mit leid, daß ich Sie störe, Miß Clent, aber ich möchte gern Sie, Ihre Mutter oder Ihren Bruder auf ein paar Minuten sprechen.«

»Meine Mutter schläft schon, und mein Bruder ist nicht zu Hause«, entgegnete Gillian mit gewinnender Freundlichkeit. »Aber ich stehe Ihnen zur Verfügung, Captain Atherton. Treten Sie bitte näher. Der Hund tut Ihnen nichts, solange ich hier bin.«

»Ist er wirklich so gefährlich wie sein Bellen?« fragte Atherton.

»Ja«, antwortete Gillian, als sie die beiden ins Haus führte. »Bis jetzt hat er noch niemand gebissen; er hatte auch noch keine Gelegenheit dazu. Aber wenn er einmal jemand fassen sollte, würde er ihn wahrscheinlich fürchterlich zurichten. Er ist ein sehr guter Wachhund, deswegen halten wir ihn ja auch. Meine Mutter und ich sind häufig allein, und Sie wissen ja selbst, wie verlassen die Gegend hier ist. Aber, bitte, treten Sie näher!« Sie ging zur Seite, um die beiden eintreten zu lassen, und sah sie lächelnd an, als sie über die Schwelle schritten.

Blake hatte noch nie ein so merkwürdiges Haus gesehen. Von außen sah es wie ein großer Haufen von Holz und Steinen aus, die irgendwie zusammengefügt waren. Der größere Teil mußte aus dem Wrack eines Schiffes gebaut sein, das der Sturm hier ans Ufer getrieben hatte. Das sonderbare Aussehen wurde noch dadurch erhöht, daß hier und dort von außen Stützmauern errichtet waren, um das altersgraue Holz am Zusammenfallen zu hindern. Das Haus selbst lehnte sich, wie Atherton schon vorher bemerkt hatte, gegen einen hohlen, massigen, dunklen Felsen.

Als sie eintraten, sahen sie niemand in dem gemütlich und behaglich eingerichteten Raum, in den Gillian Clent sie führte. Blake wurde zuerst an die Weinstube in einer altmodischen Kneipe erinnert, dann an eine Schiffskabine, in der Kapitäne von altem Schrot und Korn ihre Pfeife rauchten und ihren Grog tranken. In welchen Verhältnissen die Clents auch leben mochten, auf jeden Fall verstanden sie es, sich mit Komfort zu umgeben. Mochten draußen die Stürme heulen und die See toben, in dieser Wohnung war es warm und traulich. Dieses Haus lag abgeschlossen von der Umwelt, und man konnte von außen her kaum beobachten, was darin vorging. Blake legte sich wieder die Frage vor, ob Richard hierher gelockt worden war. Während sie sich vom Land aus der Wohnung näherten, war kein einziger Lichtstrahl aus der Hütte gedrungen, und nun entdeckte Blake, daß das einzige Fenster nach der Landseite durch starke Holzläden geschützt war. Auch vor der Tür hing ein dicker Vorhang. Aber auf der anderen Seite bemerkte er ein kleines Fenster, das in einer Wandnische angebracht war. Von dort konnte man wahrscheinlich direkt auf den Eingang der Bucht und die offene See hinaussehen. Zweifellos diente dieses Fenster zeitweilig als Lichtsignal.

Gillian wies einladend auf zwei Polsterstühle und nahm selbst in einem Sessel neben dem Kamin Platz, in dem ein helles Feuer brannte. Sie fühlte sich offenbar hier ebenso wohl wie eine Dame von Welt in ihrem Heim. Atherton, der noch nie in engere Berührung mit den Clents gekommen war, befand sich in einiger Verlegenheit, wie er die Unterhaltung beginnen sollte, aber Gillian fühlte sich nicht im mindesten eingeschüchtert. Sie betrachtete die beiden Männer mit einem leichten Lächeln, und auch Blake geriet dadurch in Verwirrung. Gillian wandte sich schließlich an den Beamten, der ebenso wie Blake das Innere des Raumes mit seinen Blicken musterte.

»Was führt Sie zu uns, Captain Atherton?« fragte sie anscheinend gleichgültig. »Ich kann Ihnen vielleicht genau so Auskunft geben wie meine Mutter oder mein Bruder. Meiner Mutter geht es in letzter Zeit nicht sehr gut, und Judah ist selten zu Hause. Ich versehe den Haushalt, und man muß sich an mich wenden, wenn man etwas erfahren will.«

»Nun gut, dann wollen wir gleich zur Sache kommen. Sie haben sicher schon von dem Verschwinden Richard Malverys gehört?«

Gillian zeigte auf den Aufruf, in dem die Belohnung versprochen wurde. Er war dicht neben dem Kamin an die Wand genagelt.

»Sehen Sie, das hat mir jemand gegeben, der hier auf der Straße vorbeikam.«

»Ich ziehe Erkundigungen über Malvery ein. Sicher war er am Abend des 27. Februar in Marshwyke. Es ist auch festgestellt worden, daß er an demselben Abend in Norman's Point war, dicht vor Shilhampton. Er muß also wenigstens zweimal an diesem Abend hier vorbeigekommen sein.«

»Das ist leicht möglich«, erwiderte Gillian, »aber hier kommen viele Leute vorbei, die wir nicht sehen. »Wissen Sie wirklich genau, daß er hier in der Gegend war?«

»Ja, ganz bestimmt.«

Gillian schwieg eine Weile. Dann sah sie Blake durchdringend an.

»Ist Ihr Begleiter ein Detektiv?« fragte sie plötzlich.

»Nein, Mr. Blake war der Teilhaber von Mr. Malvery in Kanada und will unbedingt auf die Spur seines alten Freundes kommen.«

»Hat ihm denn jemand gesagt, daß er ihn in diesem Haus finden würde?« fragte sie mit einem spöttischen Lächeln und zeigte ihre weißen Zähne.

Atherton warf ihr einen vielsagenden Blick zu.

»Ich glaube, daß Mr. Malvery früher oft hierherkam.«

Gillian lachte.

»Sie können ruhig sagen, daß er den größten Teil seiner Zeit hier zubrachte, Captain Atherton.«

»Und das war wahrscheinlich auch die Veranlassung zu den – unvorsichtigen Bemerkungen, die Ihr Bruder über ihn machte?«

»Sie können ruhig sagen: Drohungen. Judah hat immer diese dumme Angewohnheit, viel zu reden und sich über irgend etwas oder irgend jemand zu beklagen. Ich habe niemals etwas gegen Dick Malvery gehabt. Er kam sehr oft hierher und lief mir natürlich nach, denn ich war damals jung und hübsch. Aber als er dann fortging, war es eben zu Ende. Und wenn er im Februar wieder in diese Gegend zurückkam, so hat er doch uns nicht besucht. Und Judah war zu der Zeit überhaupt nicht in England.«

»Das habe ich gehört«, entgegnete Atherton. »Dann wissen Sie also nichts Genaueres über Richard Malverys Verschwinden? Haben Sie gar nichts gehört?«

Gillian schüttelte den Kopf.

»Nein, ich weiß nur, daß er vor Jahren plötzlich verschwand und sich nicht einmal von seinen alten Freunden verabschiedete. Aber ich will Ihnen sagen, was ich sonst von ihm weiß, wenn Sie Wert darauf legen.«

»Wir sind für jede Mitteilung dankbar«, erwiderte Atherton.

»Er schuldete meiner Mutter und auch mir Geld. Sie wissen ja genau, wie die Verhältnisse in Malvery Hold liegen. Als junger Mensch hatte er niemals Geld, und ab und zu haben wir ihm kleine Beträge geliehen, im ganzen etwa fünfundzwanzig Pfund. Er hat immer gesagt, daß er uns das Geld zurückzahlen wollte; noch am Tag, bevor er wegging, versprach er es fest. Und wir hatten auch guten Grund, zu glauben, daß er es ehrlich meinte. Wenigstens ich glaubte das – aber er hat uns keinen Pfennig gegeben. Wenn er wirklich tot ist, dann tut es mir leid, daß ich darüber gesprochen habe. Aber Sie baten mich ja, Ihnen alles zu sagen, was ich weiß.«

»Und mehr wissen Sie nicht?«

Gillian antwortete nicht. Sie sah Blake an, der ihren Blick erwiderte.

»Wenn Sie gestatten, zahle ich Ihnen das Geld zurück«, sagte er plötzlich impulsiv.

Gillian betrachtete ihn noch eine Weile schweigend, ohne auf Atherton zu achten.

»Ach, das ist im Augenblick nicht nötig«, sagte sie dann. »Sie meinen es sicher gut, aber das hat noch Zeit. Wir sind bisher auch ohne das Geld ausgekommen. Jedenfalls danke ich Ihnen für das Angebot.«

Atherton hatte sich erhoben und gab Blake einen Wink. Gillian führte sie schweigend hinaus und begleitete sie bis zur Hundehütte. Ihre aufrechte Gestalt hob sich noch klar vom Wasser ab, als die beiden nach Brychester zurückfuhren.

Der hohe Turm der alten Kathedrale tauchte schon vor ihnen auf, bevor einer von beiden sprach. Dann verringerte Atherton die Geschwindigkeit und wandte sich an seinen Begleiter.

»Blake, darf ich Ihnen einen Rat geben? Gehen Sie nicht allein zu den Clents, um ihnen das Geld zu bringen, oder aus irgendeinem anderen Grund. Diese Gillian ist ein verteufelt gefährliches Mädchen!«

»Ja, das habe ich gesehen.«

»Ich glaube ihr nicht«, fuhr Atherton fort. »Sie weiß noch mancherlei, was sie uns nicht sagen will. Aber ich habe etwas entdeckt, was vielleicht noch von großer Bedeutung sein kann. Zum vorigen Weihnachtsfest schenkte ich Boyce Malvery eine besonders schöne Tabakspfeife. Unsere beiden Monogramme sind auf dem Pfeifenkopf eingraviert. Und heute sah ich diese Pfeife! Sie lag auf dem Tisch in Clents Haus direkt neben mir. Blake! Boyce Malvery war dort!«

 


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