Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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11

Einen Augenblick starrten die beiden auf die Brieftasche aus schönem, braunem Leder. Dann legte Rachel sie auf die Schreibplatte des Sekretärs.

»Sie gehört ohne jeden Zweifel Dick!« wiederholte Blake. »Ich habe sie ihm zum letzten Weihnachtsfest geschenkt, damit er seine Papiere besser zusammenhalten sollte. Sehen Sie, ich sagte Ihnen ja, er war hier. Nun haben wir den positiven Beweis dafür. Vielleicht wollte er nur die Brieftasche hier in Sicherheit bringen, bevor er wo anders hinging. Vielleicht enthält sie das Geld, das er in London von der Bank abgehoben hat. Bitte, sehen Sie doch einmal nach.«

Rachel setzte sich plötzlich, ohne sich um den dicken Staub zu kümmern, auf den nächsten Stuhl und schüttelte abwehrend den Kopf.

»Tun Sie es. Ich kann sie nicht mehr anrühren.«

Blake nahm die Brieftasche und öffnete sie.

»Papiere und Schriftstücke sind darin. Sehen Sie, hier ist eine Rechnung vom Minerva-Hotel in London. Dort hat Dick gewohnt. Das kann uns einen Schritt weiter führen. Hier sind noch andere Schriftstücke, die wir später in Ruhe durchsehen wollen. Und hier ist auch Geld!«

Er nahm aus dem Seitenfach der Brieftasche ein Bündel englischer Banknoten und reichte sie Rachel. Aber sie schrak davor zurück.

»Meine Annahme war also richtig«, fuhr Blake fort. »Er kam her, um die Tasche in Sicherheit zu bringen. Jedenfalls ist das ein Zeichen dafür, daß er sich an einen gefährlichen Ort begab. Wir wollen die Banknoten einmal zählen.«

Rachel saß verstört da, während Blake die neuen Scheine schnell durch die Finger gleiten ließ.

»Zehn Fünfzigpfundnoten, vierzig Zehnpfundnoten und zwanzig Fünfpfundnoten«, sagte er schließlich. »Das sind im ganzen eintausend Pfund. Er hat von der Bank in London fünfzehnhundert abgehoben; also hatte er noch fünfhundert bei sich, als er diesen Raum verließ.«

»Was bedeutet das?« fragte Rachel leise.

»Ich schließe daraus, daß er die Absicht hatte, schnell hierher zurückzukommen, in derselben Nacht noch.«

Blake schob die Banknoten wieder zusammen und legte sie in die Brieftasche zurück. »Aber die Frage, die wir zu klären haben, ist immer noch nicht gelöst. Wohin ging er? Ich habe immer mehr den Eindruck, daß wir in der Vergangenheit nachforschen müssen, um zum Ziel zu kommen. Wohnt hier eigentlich jemand in unmittelbarer Nachbarschaft, dem er Schulden hätte abzahlen können?«

Rachel schüttelte den Kopf.

»Das weiß ich nicht. Ich wußte wenig über seine Angelegenheiten. Mir ist nur bekannt, daß viele Leute nach Richards Verschwinden zu meinem Vater kamen und Geld von ihm haben wollten für die Schulden, die mein Bruder gemacht hatte. Einzelheiten weiß ich leider nicht. Aber warum sollte er solche Eile gehabt haben? Es war doch die erste Nacht nach seiner Rückkehr. Und wenn er nur fortging, um jemand zu bezahlen, warum kam er dann nicht wieder hierher? Nein, es scheint mir, daß er eine ganz besondere Absicht hatte, als er diese fünfhundert Pfund mitnahm, und daß er sich in gefährliche Gesellschaft begab – Sie wissen ja, was ich darüber denke.«

»Gewiß. Aber nun wollen wir einmal die Papiere durchsehen.«

Eine schnelle Untersuchung der anderen Schriftstücke zeigte Blake, daß Richard sich nicht viel Mühe gegeben hatte, Dokumente aufzubewahren. Er fand einen Brief, den er selbst an Richard Malvery postlagernd nach Liverpool gesandt hatte, dann das Programm eines Konzerts an Bord des Dampfers, mehrere Hotelrechnungen und Quittungen über Einkäufe in Liverpool und London, außerdem noch ein Telegramm. Er faltete es erregt auseinander.

»Das kann ein wichtiger Anhaltspunkt sein«, meinte er. »Es wurde an Dick nach London gesandt. Sehen Sie, hier ist der Aufgabestempel.«

Rachel sah auf die Stelle.

»Shilhampton!« rief sie.

»Etwas Ähnliches hatte ich erwartet. Und an demselben Tag, an dem er das Telegramm erhielt, kam Dick hier an. Das ist doch ganz klar. Das Telegramm wurde in Shilhampton um acht Uhr dreißig vormittags aufgegeben und kam in London um neun Uhr fünfzehn an, und zwar am 27. Februar. Der Text ist nur ganz kurz, es sind sieben Worte: ›Hier zu jeder Zeit am gewöhnlichen Platz‹. Keine Unterschrift. Das Wort ›Hier‹ steht natürlich für Shilhampton. ›Zu jeder Zeit‹ heißt sicher heute oder morgen, und ›am gewöhnlichen Platz‹ beweist, daß es in früherer Zeit eine Stelle in Shilhampton gab, an der Dick jemand zu treffen pflegte. Erinnern Sie sich vielleicht, wer das sein könnte?«

»Nein, ich kann mich nicht darauf besinnen, daß er überhaupt jemand in Shilhampton gekannt hat. Aber ich habe seine Freunde ja niemals gesehen. Er ging, wohin er wollte, und er tat, was er wollte. Ich glaube, er hatte ein paar sehr schlechte Bekanntschaften.«

»Das ist leicht möglich. Wer dieses Telegramm abgeschickt hat, muß aber Namen und Adresse auf das Aufgabeformular geschrieben haben, selbst wenn er seinen Namen nicht in dem Telegrammtext erwähnte. Wir können also auf jeden Fall feststellen, wer es aufgegeben hat. Der Betreffende wird allerdings einen falschen Namen und eine falsche Adresse angegeben haben. Die Leute auf dem Postamt werden uns auch nicht viel helfen können.«

»Ach, es sieht alles so hoffnungslos aus«, sagte Rachel müde, erhob sich und sah ernst auf die Brieftasche mit ihrem Inhalt. »Was werden Sie damit anfangen?«

»Die Hotelrechnung und das Telegramm nehme ich mit. Dann fahre ich nach London und sehe einmal zu, ob ich dort in dem Hotel etwas erfahren kann. Die anderen Sachen schließen Sie ein, auch das Papiergeld. Sie haben doch einen Safe im Haus?«

»Ja, wir haben einen alten Geldschrank, in dem der Rest unseres Tafelsilbers eingeschlossen ist. Ich verwahre den Schlüssel. Ach, warum ist Richard in jener Nacht nicht zu mir gekommen?« rief sie plötzlich bitter. »Er hätte mir doch die Brieftasche zur Verwahrung übergeben können, statt sich heimlich hierherzuschleichen!«

»Sagen Sie das nicht. Wir wollen ihn nicht zu hart beurteilen, besonders wenn wir daran denken, daß er vielleicht tot ist. Es mag sehr spät gewesen sein – er kann große Eile gehabt haben – vielleicht wollte er Sie auch nicht erschrecken – es ist ja ganz gleich, was der Grund gewesen ist. Die Hauptsache bleibt, daß er bestimmt hier im Haus war. Nun müssen wir herausbekommen, wohin er von hier aus ging. Wahrscheinlich nach – Shilhampton.«

»Dann wollen Sie also mit Ihren Nachforschungen in Shilhampton beginnen?« fragte Rachel, während Blake die beiden Zimmer sorgfältig abschloß und die Schlüssel mitnahm.

»Nein, ich will es zuerst im Minerva-Hotel in London versuchen«, erwiderte er, als sie die Treppe hinabstiegen. »Zur Bank werde ich auch gehen und mir die Nummern der Banknoten geben lassen, die nicht in der Brieftasche sind. Erst dann möchte ich nach Shilhampton gehen. Ich will jetzt nach Brychester zurückreiten und Atherton erzählen, was wir hier gefunden haben. In der Zwischenzeit bitte ich Sie, über alles zu schweigen. In ein oder zwei Tagen bin ich wieder hier.«

In scharfer Gangart ritt er zurück nach Brychester, traf dort den Polizeikommissar in seinem Büro und gab ihm einen kurzen Bericht über die Ereignisse des Vormittags.

»Während des ganzen Rückwegs habe ich darüber nachgedacht«, sagte er am Schluß lachend, »ob unsere Entdeckung die Lage vereinfacht oder kompliziert.«

»Es wird beides der Fall sein«, meinte Atherton. »Jedenfalls hat dieser Streifzug manche Aufschlüsse gebracht. Sie wissen nun gewiß, daß Richard Malvery in Malvery Hold war, und zwar, daß er heimlich dort war.«

Blake lachte wieder.

»Davon war ich auch noch fest überzeugt, als ich von Malvery Hold wegritt. Aber inzwischen sind mir doch wieder Bedenken gekommen.«

Der Beamte sah ihn erstaunt an.

»Er ist doch vollkommen unbemerkt in das Haus gekommen«, fuhr Blake fort. »Nehmen wir nun einmal an, daß jemand anders in das Haus ging und die Brieftasche dorthin legte – jemand, der sie ihm vorher abgenommen hatte und sie aus einem bestimmten Grund dort versteckte, jemand, der mit der Lage der Räume vertraut war – verstehen Sie, was ich meine?«

»Ja, ich verstehe Sie wohl. Aber diese Theorie leuchtet mir nicht besonders ein. Ich erkläre mir die Sache so: Dick Malvery verließ das Gasthaus in der Absicht, nach Shilhampton zu gehen, änderte dann aber seinen Entschluß und ging zuerst zum Herrenhaus – und zwar aus einem ganz bestimmten Grund.«

»Ich bin sehr gespannt.«

»Er wollte den größeren Teil des Geldes dort in Sicherheit bringen. Vielleicht rechnete er mit einer möglichen Gefahr und ließ deshalb das Geld zurück.«

»Er hatte aber doch noch fünfhundert Pfund in der Tasche!«

»Wissen wir das? Er mag sie bei sich gehabt haben oder nicht. Vielleicht hat er das Geld schon in London ausgegeben, nachdem er es von der Bank holte. Ich weiß, daß er auch dort Schulden hatte.«

»Haben Sie inzwischen etwas Neues erfahren?«

»Nein. Von Miß Prynne hat man nichts weiter gehört. Abinett war hier und hat sich erkundigt, wann er seine hundert Pfund ausbezahlt bekommt, und Boyce Malvery hat sich noch nicht entschieden, wie er die Bekanntmachung abfassen soll, in der er seine Belohnung verspricht. Ich selbst habe vor, die ganze Sache jetzt in die Öffentlichkeit zu bringen. Dadurch erfahren wir sicher am meisten. Es hat keinen Zweck, in einem Fall wie diesem mit den Tatsachen hinter dem Berg zu halten. Die Sache muß von einer führenden Zeitung aufgegriffen werden und in richtiger Aufmachung herauskommen. Das gibt doch glänzende Artikel! Die sensationellen Überschriften kann ich mir jetzt schon vorstellen.«

»Aber denken Sie doch an die Familie! Ich habe bei meinen Besuchen gesehen, wie schlecht es den Leuten geht, und ich glaube nicht, daß sie ihre Verhältnisse in der Öffentlichkeit breitgetreten wissen wollen. Der alte Sir Brian ist natürlich so weit hinüber, daß ihm das nichts mehr ausmacht. Aber Sie müssen doch Rücksicht auf seine Tochter nehmen. Und wenn auch Dick tot ist –«

»Ja, dieses Wenn!« Atherton sprang auf. »Daran hängt ja alles. Aber ist er denn wirklich tot?«

Blake sah ihn verwundert an.

»Aber Atherton, ich dachte, über diesen Punkt wären wir einig.«

»Nein, wir sind unserer Sache durchaus nicht sicher. Richard Malvery mag verschwunden sein, aber er kann doch noch leben!«

»Meinen Sie, er hält sich absichtlich irgendwo versteckt?« fragte Blake ungläubig.

»Das wäre möglich. Wir wissen ja nicht, was alles in jener Nacht passiert ist. Vielleicht hat Malvery damals etwas gehört, was ihn veranlaßt hat, wieder zu verschwinden.«

»Glauben Sie denn, daß er ohne weiteres tausend Pfund im Stich ließ?«

»Möglicherweise blieb ihm keine Wahl, und er war dazu gezwungen. Wir wissen doch überhaupt nichts! Und deswegen sage ich wieder, wir müssen die Tatsachen veröffentlichen. Ich kenne einen Redakteur vom ›Argus‹. Hier ist seine Karte. Er ist ein persönlicher Freund von mir. Suchen Sie ihn doch in London auf, und erzählen Sie ihm alles. Der wird die Sache schon richtig anpacken. Sie brauchen nicht zu zögern – die Lokalpresse ist bereits an der Arbeit und beschäftigt sich mit dem Fall. Die Aussetzung Ihrer Belohnung hat die Leute auf die Spur gebracht, aber die verderben mehr, als sie gutmachen. Eine große Londoner Zeitung eignet sich viel besser dazu.«

»Ja, das stimmt. In ein paar Tagen bin ich also wieder hier.«

»Lassen Sie mir Ihre Adresse da. Ach, ich vergaß, Sie wohnen ja im Hotel Cecil.«

»Diesmal werde ich im Minerva-Hotel wohnen, wo auch Dick Malvery abstieg. Dort erfahre ich vielleicht etwas – man muß jeden Vorteil auswerten.«

 


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