Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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23

Blake dachte sofort an das sonderbare Benehmen Jakob Elphicks, als er damals das Boot losbinden wollte, das jetzt auf der Oberfläche des Strudels hin und her geworfen wurde.

»Der Burggraben!« rief er. »Es ist merkwürdig, aber Jakob war damals so besorgt, daß ich nicht mit dem Boot in dem Graben fahren sollte!«

»Ich habe einen Jungen zum Dorfarzt geschickt, aber ich glaube nicht, daß er ihm noch helfen kann.«

Sie führte Blake in einen Teil des Hauses, den er bisher noch nicht betreten hatte. Über eine altersschwache Treppe kamen sie zu einem Zimmer, in dem der Alte auf dem Bett lag. Er war vollständig angekleidet, konnte sich aber offenbar nicht mehr bewegen. Nur seine Finger zuckten und verkrampften sich in der Decke, die man über ihn gebreitet hatte. Ein Mädchen stand in der Nähe und schüttelte den Kopf, als Rachel und Blake eintraten.

»Es bleibt immer dasselbe«, berichtete sie. »Er sagt nichts anderes als diese Worte. Ich habe mit ihm gesprochen, aber er scheint mich nicht zu verstehen, denn er gibt mir keine Antwort.«

Blake trat an das Bett und neigte sich über Jakob. Auf den ersten Blick erkannte er, daß das Ende nahe bevorstand. Diesen Mann quälte ein Geheimnis, das in Verbindung mit dem Burggraben stand, und Blake hielt es für gut, dieses Geheimnis noch zu erfahren, bevor der Alte starb. Freundlich beugte er sich über das aschgraue Gesicht und sprach leise zu ihm.

»Was ist es, Jakob? Was wollen Sie uns sagen?«

Elphick starrte Blake einige Zeit an, als ob er sich Mühe gäbe, ihn wiederzuerkennen, dann sah er auf Rachel, die neben dem Bett stand, und auf das Mädchen.

»Ihr müßt ihn aus dem Graben herausholen«, erwiderte er schwach. »Aus dem Graben. Ich – ich – werde keine Ruhe im Grabe haben, wenn nicht auch er richtig begraben worden ist.«

Das waren zum erstenmal andere Worte.

»Jakob, wer ist es denn – wer liegt denn in dem Graben?« fragte Blake eindringlich.

Aber Elphick starrte verständnislos in die Gesichter der anderen. Blake gab Rachel ein Zeichen, ihm aus dem Raum zu folgen. Sie traten leise an ein Fenster und sahen auf die Nebengebäude und den Teich, wo die Schwäne in einsamer Ruhe segelten.

»Jakobs Worte bedeuten etwas, Miß Malvery. Es liegt jemand in dem Graben.«

Rachel wurde bleich und setzte sich auf das steinerne Fensterbrett. Auch ihr kam derselbe furchtbare Gedanke, der in Blake aufgetaucht war. Er nickte, als sie ihn entsetzt ansah.

»Natürlich habe ich sofort daran gedacht. Es kam mir schon damals so sonderbar vor, daß der Alte unruhig und ängstlich wurde, als ich mit dem Boot in den Burggraben fahren wollte. Dort muß jemand im Wasser liegen, und ich werde den Graben durchsuchen. Kommen Sie bitte nicht mit.«

Einige Augenblicke starrte sie ihn beklommen an, dann schaute sie auf den Burggraben hinaus, dessen Oberfläche von Schilf und Schlinggewächs bedeckt war.

»Ich bin auf alles gefaßt«, sagte sie schließlich. »Ja, gehen Sie. Aber wenn Sie den Teich oder breitere Stellen des Grabens untersuchen wollen, brauchen Sie ein Boot.«

Blake lachte bitter.

»Ja, das Boot ist durch meinen Fehler in den Strudel geraten. Ich bin in der vergangenen Nacht hinausgefahren und der gefährlichen Stelle zu nahe gekommen – Gillian Clent hat mir das Leben gerettet.«

Rachel zuckte zusammen, und ihre Wangen erglühten.

»Ja, es stimmt«, fuhr Blake fort. »Sie hätte mich ja auch im Stich lassen können, wenn sie gewollt hätte. Dann wäre mir nichts übriggeblieben, als mich die ganze Nacht an den Pfahl anzuklammern, aber das hätte ich wahrscheinlich nicht ausgehalten, denn es war sehr kalt. Ja, sie hat mich gerettet; ich verdanke ihr mein Leben. Ich blieb dann noch einige Stunden in dem Clentschen Haus, ruhte mich aus und stärkte mich. Sie ist eine sonderbare Frau, und obwohl wir viel miteinander gesprochen haben, habe ich doch nicht mehr erfahren als bei meinem ersten Besuch.«

Rachels Wangen brannten plötzlich.

»Ich will nichts von Gillian Clent hören. Ich will wissen, was – was Jakob meinte.«

»Natürlich«, entgegnete Blake ruhig. »Ich kann mir vorstellen, was Sie fühlen müssen. Ich gehe jetzt und suche den ganzen Graben ab. Aber fürchten Sie sich nicht unnötig, vielleicht sind es nur leere Worte.«

»Nein, das glaube ich nicht. Aber selbst wenn es das Schlimmste sein sollte, so ist es besser als diese ewige Ungewißheit.«

Blake ging durch das verfallene Haus auf den alten, gepflasterten Hof. Dort blieb er einen Augenblick stehen und überlegte, auf welche Weise er den Burggraben methodisch absuchen könnte. Wenn diese merkwürdigen Worte Jakobs einen Sinn hatten, so war ein Toter in dem Graben verborgen. Die erste Frage war nun, in welchem Teil des Grabens er wohl liegen könnte.

Das Haupthaus und die Nebengebäude von Malvery Hold waren ziemlich ausgedehnt. Spätere Eigentümer hatten das burgähnliche Schloß aus dem sechzehnten Jahrhundert immer mehr ausgebaut. Es stand auf einer natürlichen Bodenerhebung an der Grenze des Marschlandes, das die Bucht einfaßte, und der Graben erhielt sein Wasser von der See. Zur Flutzeit war er bis an den Rand, während der Ebbe dagegen nur wenig gefüllt. Er begann am äußersten Ende der Umfassungsmauer, die das Haus, die Nebengebäude, Gärten und Hof umgab, und erweiterte sich an der Stelle zu einem kleinen Teich, wo Blake das Boot gefunden hatte. Von da aus verengerte es sich wieder, bis er in die Bucht mündete. Dieser Punkt lag östlich zwischen dem Haus und dem Gehölz, in dem der Wachtturm stand. Hier wollte er mit seinen Nachforschungen beginnen und dann den Graben bis zum anderen Ende verfolgen. An der von Efeu und Schlinggewächs bedeckten Umfassungsmauer zog sich ein schmaler Fußpfad rings um das Haupthaus und die Nebengebäude. Er öffnete sich an einer Stelle auf die Gärten, an einer anderen auf den Hof und an einer dritten auf das Gelände vor dem Teich. Blake ging diesen Fußweg entlang und kam bald an den Flügel des Gebäudes, in dem Richard Malverys Zimmer lagen. Er sah den viereckigen Turm mit der Wendeltreppe. Auch Richard mußte bei seinem letzten Besuch den Weg benützt haben, den Blake jetzt ging.

Der junge Mann legte sich eine Theorie zurecht, nach der sich die Vorgänge erklären ließen. Er hatte genug von Jakob Elphick gesehen, um zu wissen, wie eifersüchtig dieser alte Mann das ihm anvertraute Grundstück bewachte. Auf seine alten Tage war der Mann überängstlich geworden und hatte sich wahrscheinlich auch zur Nachtzeit zuweilen durch einen Rundgang vergewissert, ob alles in Ordnung war. Vielleicht hatte er auf diesen Gängen auch eine Schußwaffe bei sich getragen. Wenn Jakob nun an jenem Februarabend Dick Malvery in der Dunkelheit aus dem Haus herauskommen sah, war es da nicht möglich, daß er ihn nicht erkannte und auf ihn schoß? Bei der Gemütsverfassung des Alten war es sehr wohl denkbar, daß er Dick auf diese Weise getötet hatte. Und was war dann natürlicher, als den getöteten, vermeintlichen Einbrecher und Dieb in aller Eile in den Graben zu werfen? Je länger Blake darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihm diese Lösung.

Blake hörte, wie oben im Haus ein Fenster geöffnet wurde, und schaute hinauf. Rachel zeigte auf jemand, der neben ihr stand und lehnte sich, dann etwas mehr heraus.

»Dr. Strahan kommt zu Ihnen hinunter!« rief sie ihm zu.

Blake wartete, bis der Arzt aus der Tür des viereckigen Turms heraustrat. Dr. Strahan sah aus, als ob er etwas von seinem Beruf verstünde, und schien sich für die Vorgänge sehr zu interessieren. Sie begrüßten sich durch ein Nicken.

»Miß Malvery hat mir erzählt, was Sie hier unten machen. Der alte Elphick ist tot. Er starb gleich, nachdem ich kam. Aber ich hörte noch, wie er wieder diese Worte sprach, die Sie alle in solche Aufregung versetzt haben.«

»Sie müssen doch schließlich eine Bedeutung haben, wenn er sie immer wiederholte.«

»Er kann auch Wahnvorstellungen gehabt haben. Ich möchte sagen, er lag in einem leichten Delirium«, erwiderte der Arzt, der mit großem Interesse den Graben entlang sah. »Natürlich habe auch ich von dem geheimnisvollen Verschwinden Mr. Richard Malverys gehört. Bringen Sie die Worte des Alten irgendwie damit in Verbindung?«

»Gerade als Miß Malvery mich eben anrief, dachte ich daran.« Er wiederholte dem Arzt kurz, wie er sich den Gang der Ereignisse vorstellte. »Es ist leicht möglich, daß sich die Sache so zugetragen hat. Der arme, alte Jakob war in der letzten Zeit schlimmer als ein losgelassener, bissiger Wachthund. Er hat auch mich mehr als einmal angefahren, einmal sogar direkt bedroht.«

»Und Sie wollen jetzt den Graben untersuchen? Für den Fall, daß –«

»Ja. Es wird eine ziemlich mühsame und langwierige Arbeit sein. Zweimal am Tag steigt die Flut, und dann ist der Graben vollkommen gefüllt. Zur Ebbezeit ist der Wasserstand nicht sehr hoch, wie Sie eben sehen können. Ich habe an einigen Stellen mit einer Stange ins Wasser gestoßen und dabei festgestellt, daß der Grund weich und schlammig ist. Wenn etwas Schweres hineingeworfen wird, so sinkt es wahrscheinlich unter, aber nicht sehr tief. Wenn nun der alte Jakob einen Toten hier in den Graben warf, so hatte er ihn doch wahrscheinlich beschwert. Denn wenn er diese Vorsichtsmaßregel außer acht ließ, dann kann nur das Wurzelwerk der Erlen und der anderen Bäume am Ufer den Körper verhindern, wieder an die Oberfläche zu kommen. Wenn er ihn aber beschwerte, dann wird er in den Schlamm eingesunken sein.«

Während dieses Gespräches waren sie auf die Brücke zugegangen, die zu dem Gehölz hinüberführte. Plötzlich packte der Arzt Blake am Arm und wies auf einen Weidenstamm jenseits des Grabens. Dort hatte jemand erst vor kurzem ein rohes Kreuz mit einer Axt in die Rinde geschlagen.

»Was ist das?« rief Strahan. »Warum ist dort ein Kreuz angebracht?«

Blake sah hinüber und schaute dann zu den Fenstern des Hauses hinauf. Wenn sie in dem Graben etwas fanden, so sollte Rachel Malvery jedenfalls nicht dabei sein, wenn es ans Tageslicht befördert wurde.

»Kommen Sie, wir wollen über diese Brücke gehen und einmal den Schlamm unterhalb dieses Stammes untersuchen.«

An der Stelle stand das Wasser etwa fünfzig bis sechzig Zentimeter tief, und der Grund war mit weichem, schwarzem Schlamm bedeckt. Strahan sah zögernd auf seine eleganten Schuhe und Beinkleider, aber Blake, der einen derben Anzug trug, krempelte nur seine Ärmel hoch und sprang dann, ohne sich zu besinnen, hinein. Er durchsuchte den Boden zwischen den Wurzeln des alten Baumes und richtete sich plötzlich erregt wieder auf:

»Ich habe etwas gefunden. Hier ist ein Tau an eine alte Wurzel gebunden. Und es ist angespannt – wir haben etwas gefunden!«

 


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