Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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22

Blake zitterte noch in Erinnerung an dieses grauenvolle Erlebnis, und es war ihm sehr lieb, sich einige Zeit ausruhen und sammeln zu können. Fast unbewußt machte er einige Schritte auf das Haus zu.

»Wenn Sie gestatten, ruhe ich mich ein wenig aus.«

»Das ist das beste, was Sie machen können, Mr. Blake.«

Sie führte ihn bis zur Tür und stieß diese mit den Ellenbogen auf. Dann winkte sie Blake herein, setzte die Laterne auf den Tisch und steckte die Hängelampe an. Aus einer Ecke brachte sie dann eine Flasche und ein Glas.

»Ein Schluck wird Ihnen gut tun. Es ist guter, alter französischer Kognak, eine Sorte, die Sie selbst für Geld und gute Worte nicht kaufen können.«

Blake war froh, daß er etwas zu trinken bekam und dankte ihr. Er hatte großen Respekt vor ihren starken muskulösen Armen bekommen.

»Sie fürchten sich offenbar nicht vor diesem schrecklichen Strudel da draußen«, sagte er bewundernd. »Sie scheinen die Strömung so genau zu kennen, daß sie Ihnen nichts anhaben kann.«

»Da haben Sie allerdings recht«, entgegnete sie lachend. »Aber ich fürchte mich ebenso davor wie alle andern, die ihn kennen, nur mit dem Unterschied, daß ich weiß, wie ich mich davor schützen kann – Sie wissen es nicht. Wäre Ihr Boot nicht glücklicherweise gegen den großen Pfosten gestoßen, so wären Sie längst ertrunken. Sie kennen das Meer nicht genügend, um in einer dunklen Nacht hinausrudern zu dürfen. Denken Sie daran, Mr. Blake!«

»Jedenfalls können Sie es aber«, erwiderte er und beobachtete sie, während sie das Feuer im Kamin anfachte und einen Wasserkessel darüberhing.

»Ich kenne jede Stelle der Bucht genau so gut wie diese Wohnung hier. Das ist auch ganz erklärlich, denn ich habe ja mein ganzes Leben hier zugebracht. Ich würde meinen Weg in der Bucht mit verbundenen Augen finden. Aber wenn Sie klug sind und ein anderes Boot bekommen, dann seien Sie selbst am Tage vorsichtig, wenn Sie hier in die Nähe kommen. Es gibt hier Strömungen und Strudel, die nur Leute kennen, die jahrelang an dieser Bucht gelebt haben. Deshalb kommt auch das viele Treibholz hier ans Ufer. Wir wissen genau, wo wir es auflesen müssen.«

Blake anwortete nichts. Er war bis auf die Knochen durchfroren und trank schweigend seinen Kognak. Gillian Clent war ihm ein großes Rätsel, und die Situation war merkwürdig genug. Mitten in der Nacht saß er in einem einsamen Haus allein bei dieser Frau. Irgendwo in einem Winkel dieses Hauses schliefen wohl ihre Mutter und ihr Bruder, aber er hatte ein unbestimmtes Gefühl, daß die beiden nicht in der Wohnung waren. Gillian sprach plötzlich, als ob sie seine Gedanken erraten hätte.

»Sie finden, daß dies ein sonderbares Haus ist, und es kommt Ihnen überhaupt alles sonderbar vor. Sie denken über die ungewöhnliche Tatsache nach, daß ich zu einer solchen Zeit in die Bucht hinausrudere, aber wenn meine Mutter und Judah, wie heute, fort sind, dann fahre ich öfters nachts zu meinem Vergnügen hinaus und rudere, bis ich müde bin. Warum sollte ich das nicht tun? Es macht mir Spaß, genau wie es Ihnen Spaß macht, die Nächte in dem Wachtturm zuzubringen.«

»Woher wußten Sie denn das?«

»Es wäre sehr merkwürdig gewesen, wenn ich das nicht bemerkt hätte. Ich beobachte alles ganz genau, was hier in der Gegend vorgeht. Außerdem war ich neulich abends dort, um mich zu vergewissern, und habe Sie gesehen. Es gibt dort Risse in den Mauern, von denen Sie keine Ahnung haben.«

Blake schwieg wieder. Gillian setzte sich in einen Sessel neben dem Kaminfeuer und sah ihn nachdenklich an.

»Sie glauben, Sie können etwas über Richard Malvery erfahren, wenn Sie diesen Platz und die Bucht beobachten. Lassen Sie sich von mir warnen, und geben Sie es auf. Es hat keinen Zweck.«

»Ich gebe nichts auf, was ich einmal begonnen habe, wenn nicht ein guter Grund dafür vorhanden ist«, erwiderte Blake hartnäckig. »Ich will alles über Dick Malverys Verschwinden herausbringen, ganz gleich, wie lange ich dazu brauche und was es kostet.«

»Vielleicht kostet es aber mehr als Geld«, sagte sie bedeutungsvoll. »Es leben hier in der Gegend Leute, die nicht wünschen, daß man ihnen dazwischenkommt. Es kann Ihnen schlecht gehen.«

»Das heißt, daß Sie mehr wissen, als Sie sagen wollen. Aber ich fürchte mich nicht.«

»Das sehe ich. Sie gehören nicht zu den Ängstlichen. Aber ich warne Sie, weil ich es gut mit Ihnen meine. Sie kommen sicher nicht in Unannehmlichkeiten, wenn Sie nur nach dem Verbleib Dick Malverys forschen, aber die Schwierigkeiten bleiben nicht aus, wenn Sie Ihre Nase in Dinge stecken, die weder mit ihm noch mit Ihnen zu tun haben. Ist das klar?«

»Nein.«

Gillian lachte, als sie den Kessel mit dem kochenden Wasser vom Feuer nahm und sich daran machte, Tee zu bereiten.

»Manchmal passieren hier in der Bucht Dinge, über die man weiter nicht zu sprechen braucht«, sagte sie.

»Ja, das weiß ich. Hier wird geschmuggelt.«

»Es kommen Leute her, die wissen, wen sie hier finden. Wenn sie aber Fremde treffen, können sie abscheulich werden, und gewöhnlich haben sie es viel zu eilig, um lange zu fragen, was die andern hier wollen.«

»Natürlich, das weiß ich. Sie schlagen einem lieber den Schädel ein oder stechen einen mit dem Messer nieder. Aber ich bin ja gar nicht darauf aus, mit diesen Leuten zusammenzustoßen. Wenn sie derartig guten Kognak oder Tabak oder Spitzen bringen, dann ist das Sache der Zollbeamten, nicht meine.«

»Es wäre aber doch möglich, daß die Leute Ihnen das nicht glauben«, sagte Gillian. »Ich sage Ihnen, daß Sie sich dadurch in Gefahr begeben. Ich weiß eigentlich nicht, warum ich Sie überhaupt warne, aber es wäre mir wirklich sehr unangenehm, wenn ein so hübscher junger Mann wie Sie zu Schaden kommen sollte.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar. Und ich wäre Ihnen noch mehr verpflichtet, wenn Sie mir mehr von Dick Malvery erzählen wollten. Haben Sie noch nichts von der neuen Belohnung gelesen, die ausgesetzt wurde?«

Gillian hatte einige Erfrischungen auf den Tisch gestellt und wandte sich jetzt scharf zu ihm. Ihre Augen blitzten ärgerlich.

»Ich frage nicht viel nach Belohnungen. Wenn ich etwas wüßte und es nicht sagen wollte, würde mich keine Geldsumme dazu bringen. Nehmen Sie etwas von dieser kalten Pastete, sie ist gut. Den Tee können Sie auch trinken. Es ist nicht das billige Zeug, was einem sonst hier in der Gegend vorgesetzt wird.«

Blake aß und trank auf ihr Zureden hin. Diese Frau hatte einen merkwürdigen Einfluß auf ihn. Sie fesselte ihn so stark, daß er noch mit ihr sprach, als es schon dämmerte. Aber als er ging, war er seinem Ziel um keinen Schritt nähergekommen. Gillian wollte ihm nicht mehr über Dick sagen, als sie ihm und Atherton schon erzählt hatte.

»Ich möchte Sie aber noch eins fragen«, sagte Blake, als er schon auf der Türschwelle stand. »Glauben Sie, daß Dick Malvery wieder auftauchen wird?«

Gillian sah an ihm vorbei.

»Ich glaube nicht, daß Dick Malvery jetzt wiederkommt«, erwiderte sie zögernd. »Lassen Sie lieber alles so, wie es nun ist, Mr. Blake.«

»Nein, ich führe eine einmal begonnene Sache auch auf irgendeine Weise durch. Ich werde über das schweigen, was Sie mir heute nacht sagten – Sie wissen, was ich meine.«

»Ja«, entgegnete sie ruhig. »Ich wußte von Anfang an, daß Sie nicht darüber sprechen würden.«

Als sie ihm noch das Geleit gegeben hatte, bis er an dem Wachthund vorbei war, kehrte sie in die Wohnung zurück und schloß die Tür, während Blake in der Morgenfrühe am Ufer der Bucht entlang seinem Wachtturm zuschritt. Er hatte über vieles nachzudenken, als er durch die Sanddünen und das Marschland ging. Dies war die abenteuerlichste Nacht gewesen, die er seit seiner Ankunft in Brychester erlebt hatte, und er überdachte noch einmal alle Ereignisse. Er war dem Tod sehr nahe gewesen und von Gillian Clent gerettet worden. Dann hatte er einige Stunden allein mit dieser geheimnisvollen Frau verlebt, aber er war der Lösung des Rätsels doch nicht nähergekommen. Es stand dagegen fest, daß Gillian Clent nichts verraten würde, selbst wenn sie von dem Verschwinden Richard Malverys etwas wußte.

Blake kam nach Marshwyke, als der kleine Ort gerade aufwachte. Er sah einige Frauen an den Türen der Häuser, sah Männer, die ihre Netze flickten und am Strand aushängten, und ging an Booten vorbei, die an Land gezogen waren. Von den Schornsteinen stieg der erste graue Rauch zum Himmel auf, und die Leute sahen ihn verwundert an. Sie konnten sich nicht denken, warum er schon so früh unterwegs war. Er wollte den Weg quer durch die Bucht einschlagen, aber kaum war er einige Schritte in dieser Richtung gegangen, als ihn ein Mann von einer nahen Hütte aus anrief.

»Was machen Sie denn da?« rief der Fischer und eilte halb angezogen aus der Tür. »Der Weg ist doch nicht sicher – den können nur Leute gehen, die ihn genau kennen.«

»Solange man genau den Pfählen folgt, kann doch nichts passieren«, erwiderte Blake und zeigte auf die geschwärzten, von der See ausgewaschenen Holzpfähle, die den Weg von einem Ufer der Bucht zum andern anzeigten. »Man kann überhaupt nicht fehlgehen, wenn man sich daran hält.«

»Wenn Sie klug sind, lassen Sie es lieber bleiben. Der Triebsand hier ist sehr gefährlich. Wir kennen ihn doch, und auch wir müssen die Augen offenhalten. Gehen Sie bloß nicht dorthin, wo er trocken aussieht. Das sind die heimtückischen Stellen. Aber hier in der Bucht ist über Nacht etwas passiert. Sehen Sie einmal!«

Blake folgte mit den Blicken der ausgestreckten Hand des Mannes und sah, daß auf dem Strudel etwas Braunes hin und her gestoßen wurde.

»Das ist ein Boot, das der Strudel gepackt hat!« sagte der Alte. »Und ich möchte nicht wissen, wo der Mann ist, der in dem Boot saß. Niemand ist jemals wieder lebend aus dem Strudel herausgekommen, der einmal hineingeriet. Das Boot schwimmt oben, aber wo mag der Mann sein?«

Blake sah keinen Grund, noch mehr Rätsel aufkommen zu lassen, und sagte offen, daß er selbst versucht hätte, in der vergangenen Nacht über die Bucht zu fahren. Der Fischer zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

»Das ist aber doch nicht möglich! Wie sind Sie denn da wieder herausgekommen! Schwimmen kann man doch nicht. Solange ich denken kann, hat sich noch niemand daraus retten können.«

»Gillian Clent hat mich gerettet.«

Der Alte wandte sich plötzlich etwas schroff ab.

»Ja, ja«, murmelte er noch halblaut, »diese Clents sind unterwegs, wenn andere Leute in ihren Betten liegen und schlafen.«

Blake überquerte die Bucht auf dem Richtsteig, den Pfählen entlang. Er sah neugierig auf diese merkwürdigen, trockenen Stellen im Sand, die sich rechts und links befanden. War es möglich, daß man Dick Malvery irgendwo unter dieser unschuldig aussehenden Oberfläche suchen mußte? Er stellte sich vor, wie sein Freund diese traurige Bucht in der Dunkelheit durchquerte. Ein falscher Schritt –

Als er aufschaute, sah er Rachel Malvery, die ihm vom Gehölz her zuwinkte. Sie eilte ihm entgegen. Blake verstand, daß sie ihn suchte, und beschleunigte seine Schritte.

»Brauchen Sie meine Hilfe?« fragte er, als er bei ihr ankam.

»Ich bin schon nach dem Turm gegangen, um Sie zu holen. Der alte Jakob hat einen Anfall, und ich fürchte, er liegt im Sterben. Ich erschrak so sehr. Er sagt dauernd dieselben Worte, seitdem wir ihn gefunden haben.«

»Und was sagt er denn?«

»›Ihr müßt ihn aus dem Graben holen – ihr müßt ihn aus dem Graben holen!‹ Das sagt er immerzu, weiter nichts. Und wir wissen nicht, was er damit meint.«

 


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