Joseph Smith Fletcher
Der Verschollene
Joseph Smith Fletcher

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7

»Sie zweifeln also daran?« fragte der Wirt.

»Wir stehen erst am Anfang unserer Nachforschungen. Sie sagten doch eben, daß der große Mann mit dem schwarzen Bart und dem weichen Hut nach dem Weg nach Shilhampton fragte. Was ist denn Shilhampton für ein Ort?«

»Es ist ein kleines Küstenstädtchen«, erklärte Atherton, »etwas mehr als fünf Kilometer von hier entfernt. Es hat auch einen kleinen Hafen. Aber ich verstehe nicht recht, daß jemand von Brychester über Marshwyke nach Shilhampton geht. Briscoe, Sie halten das doch auch für sonderbar? Shilhampton erreicht man von Brychester aus am bequemsten mit der Bahn. Ein vernünftiger Mensch macht jedenfalls zu Fuß nicht erst einen langen Umweg nach Süden und Osten, wenn er auf nächstem Weg mit dem Zug ans Ziel kommen kann.«

Blake überlegte einen Augenblick.

»Er könnte doch am Kreuzweg von Marshwyke seinen Plan, direkt nach Hause zu gehen, geändert und sich statt dessen entschlossen haben, den Weg nach Shilhampton einzuschlagen«, sagte er dann. »Der Kreuzweg von Marshwyke ist über zehn Kilometer von Brychester entfernt, und Sie erwähnten doch eben, daß Shilhampton nur fünf Kilometer weit von hier liegt. Wenn er also plötzlich seine Absicht änderte und nach Shilhampton gehen wollte, wäre es doch viel einfacher gewesen, die fünf Kilometer zu Fuß zurückzulegen, als über zehn Kilometer nach Brychester zurückzuwandern und dort einen Zug zu benutzen.«

»Sie haben vollkommen recht«, sagte Atherton. »Aber dann nehmen Sie an, daß er bereits auf dem Weg nach Shilhampton war, als er hier in das Gasthaus kam.«

»Ich habe nur gesagt, was mir als das Wahrscheinlichste vorkommt. Ich glaube nicht, daß er nur hierhergekommen ist, um ein Glas Whisky zu trinken, und ich glaube auch nicht, daß er die Straße nach Shilhampton entlangging, ohne daß dieser Ort sein Ziel war. Am besten forschen wir dort einmal selbst nach.«

»Bevor wir das tun, müssen wir aber noch an vielen anderen Stellen Erkundigungen einziehen«, erwiderte Atherton und erhob sich. »Also, Briscoe, halten Sie Augen und Ohren offen!«

Blake und der Kommissar verließen das Gasthaus.

»Ich habe Ihnen übrigens noch nichts von einem Vorfall erzählt, der sich gestern abend in der Wohnung von Mr. Boyce Malvery ereignete«, sagte der Beamte plötzlich.

»Steht er in Zusammenhang mit dieser Sache?«

»Das ist immerhin möglich. Die alte Mrs. Malvery hat eine Gesellschafterin, eine gewisse Miß Hester Prynne, die auch weitläufig mit der Familie verwandt ist. Ein junges, hübsches Mädchen, aber ich hatte schon immer den Eindruck, daß sie einen geheimen Kummer mit sich herumträgt. Als ich gestern abend geradeheraus sagte, daß Dick Malvery möglicherweise ermordet worden sein könnte, fiel sie in Ohnmacht.«

Blake blieb stehen und sah seinen Begleiter scharf an. »Damen in diesem Alter verlieren doch das Bewußtsein nicht ohne guten Grund! Was war denn die Ursache?«

»Boyce, der es nicht tragisch nahm, sagte mir später, daß sie sich in Dick Malvery verliebt hätte. Das ist sehr leicht möglich. Dick war so eine Art Mädchenjäger, und sie ist wohl nicht die einzige, die ihm nachtrauert. Aber wenn jemand zu bedauern ist, so ist es seine Schwester dort drüben.« Er zeigte nach Malvery Hold hinüber. »Ich meine Miß Rachel Malvery.«

»Ja, da haben Sie recht. Ich hatte auch den Eindruck, als ich gestern dort war.«

»Dort geht es furchtbar zu. Hypotheken, Schulden und dergleichen mehr. Man kann ruhig sagen, daß weiter nichts übriggeblieben ist als der bloße Titel.«

»Den Boyce gar zu gerne haben möchte«, sagte Blake, als sie wieder zu dem Auto zurückgingen. »Ich fahre jetzt nicht mit Ihnen zurück, Atherton. Ich habe Miß Malvery versprochen, heute wieder bei ihr vorzusprechen und ihr zu sagen, wie weit wir gekommen sind. Ich gehe zu Fuß nach Malvery Hold und komme später nach Brychester zurück.«

Blake bog am Ufer in den Weg ein, der quer durch die Bucht führt, und grübelte über all die ungelösten Fragen nach. Das Verschwinden Dick Malverys erschien ihm einfach unerklärlich. Die Annahme, daß Dick auf demselben Weg durch Unachtsamkeit in den Triebsand geraten war, kam Blake noch am glaubwürdigsten vor. An Mord oder Raubmord konnte er nicht glauben. Dick war klug, intelligent und jeder Situation gewachsen. Er hatte in Kanada ein rauhes Leben in wilder Umgebung geführt und war an Gefahren gewöhnt. Er war nicht der Mann, den man in einen Hinterhalt locken oder überraschen konnte. Außerdem boxte er glänzend, trug stets eine Schußwaffe bei sich und war ein vorzüglicher Schütze.

»Nein«, sagte Blake zu sich selbst, als er sich der anderen Seite der Bucht näherte. »Wenn Dick fünfzehnhundert Pfund bei sich hatte, saß seine Pistole sicher locker in der Tasche, und er war gewitzigt und auf dem Sprung. Ich glaube nicht, daß irgendwelche Leute aus dieser Gegend ihn ohne weiteres hätten fassen können.«

Plötzlich entdeckte er am Rand der Bucht in der Nähe des Tores von Malvery Hold Rachel Malvery. Sie war das einzige menschliche Wesen, das er in dieser grauen Einöde sehen konnte. Er beschleunigte seine Schritte, um zu ihr zu kommen. Sie hielt die Bekanntmachung in der Hand.

»Haben Sie das veranlaßt?« fragte sie kurz, nachdem sie ihn begrüßt hatte.

»Ja, ich habe es mit Captain Atherton besprochen.«

»Und Sie geben auch das Geld? Sie tun so viel zur Wiederauffindung Richards! Waren Sie so eng mit ihm befreundet?«

»Erst später. Zuerst war er sehr zurückhaltend, aber nachher hat er mir alles erzählt. Ich habe ihn sehr liebgewonnen.«

»Das freut mich«, erwiderte sie ruhig. »Haben Sie auch Boyce Malvery schon gesehen?« .

»Er kam gestern Abend zu mir ins Hotel. Atherton brachte ihn mit und stellte ihn mir vor.«

»Und welchen Eindruck haben Sie von ihm?«

»Ich kann ihn nicht leiden. Ich empfand sofort eine unerklärliche Abneigung gegen ihn.«

Rachel Malvery lachte bitter.

»Ich glaube, es kann ihn niemand leiden. Ich hasse ihn! Ich weiß, was sein erster Gedanke war, als er von dem Verschwinden Richards hörte.«

»Er hat auch nur eine Frage an mich gestellt, und zwar, ob Dick verheiratet war.«

Rachel errötete leicht.

»Und welche Antwort haben Sie ihm gegeben?«

»Ich erwiderte ihm, daß Dick mir niemals gesagt hat, ob er verheiratet war.«

»Boyce wollte natürlich nur wissen, ob eventuelle Nachkommen Richards ihn daran hindern könnten, den Titel zu erben. Er ist so selbstsüchtig! Stets hat er nur an sein eigenes Interesse gedacht. Aber darauf kommt es jetzt im Augenblick nicht an. Haben Sie schon irgend etwas gehört oder herausgefunden?«

Blake berichtete ihr kurz, was er seit dem Morgen erfahren hatte, und zum Schluß erzählte er ihr von seiner Vermutung, wie Dick umgekommen sein könnte. Aber zu seinem Erstaunen schüttelte Rachel den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, daß Richard in den Triebsand geraten ist. Sie müssen sich einmal vergegenwärtigen, daß er die Bucht ganz genau kannte. Wenn er zu Ebbezeit den Weg an den Pfählen entlangging, war er sicher sehr vorsichtig und behutsam. Wir beide haben den Weg unendlich oft, selbst in den dunkelsten Nächten, benützt. Aber wenn Richard nicht mehr am Leben ist, wird ihn der Tod dort drüben ereilt haben!« Sie zeigte über die Bucht hinüber zu dem Clentschen Haus. Ihre Augen blickten düster, und ihre Lippen preßten sich zusammen. »Richard wird nicht nach Shilhampton gegangen sein. Viel wahrscheinlicher ist es, daß er Gillian Clent wiedersehen wollte.«

Blake antwortete nicht sofort. Er richtete seinen Blick über das Wasser hinüber nach dem einsamen Haus. Es lag allerdings abseits genug, um dort heimlich ein Verbrechen verüben zu können. Er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß ein Mann, der dort von Feinden in einen Hinterhalt gelockt wurde, kaum die Möglichkeit hatte, mit dem Leben davonzukommen.

»Glauben Sie denn, daß nach so langer Zeit noch eine solche Rache möglich ist?« fragte er schließlich. »Ich habe auch von den Clents gehört. Dick soll das Mädchen schlecht behandelt haben?«

Rachel wandte sich mit brennenden Augen zu ihm um. »Schlecht behandelt? Dieses Mädchen? Mr. Blake, Sie vergessen, daß Richard noch ein ganz junger Mensch war, als er nach Kanada ging. Er war eben einundzwanzig geworden, aber Gillian Clent war damals achtundzwanzig! Sie wollte ihn doch in ihre Netze ziehen, um Lady Malvery zu werden.«

»Ach so, ich verstehe. Deswegen hat also dieser Judah Clent mit Mord und dergleichen gedroht.«

»Judah Clent ist ein Renommierheld, der viel schwätzt. Aber Dick mag aus irgendeinem Grund in jener Nacht dorthin gegangen sein. Vielleicht glaubte er, daß er sich von den Clents durch Geld loskaufen könnte, und wer weiß, was passierte, als sie sahen, wieviel Geld er bei sich hatte.«

»Sie glauben also auch, daß er des Geldes wegen ermordet wurde?«

»Sehen Sie dort hinüber«, sagte sie und zeigte wieder auf das Clentsche Haus. »Wie sollte er von dort entkommen, wenn man ihn unerwartet angriff?«

»Derselbe Gedanke kam mir eben auch. Viel Aussicht dazu hatte er wohl nicht.«

Rachel hob ihre Hand aufs neue und wies in der zunehmenden Dunkelheit auf einen Punkt in der Bucht, jenseits der Clentschen Hütte.

»Wenn dieses Haus auch schon so einsam und verlassen liegt, daß dort ein Mord nicht weiter bemerkt wird, so liegt weiter hinten noch eine Stelle, wo die Clents verschwinden lassen können, was sie wollen. Sehen Sie den dunklen Flecken dort? Wenn Sie ihn näher betrachten, erkennen Sie, daß das Wasser dort dauernd wirbelt und Schaum und Gischt darauf stehen.«

»Es sieht aus wie ein gefährlicher Strudel.«

»Das ist es auch. Und wenn der Triebsand schon bodenlos ist, so ist es der Strudel noch mehr. Nichts, was dort hineinkam, hat man jemals wiedergesehen.«

Sie wandte sich um und ging auf das Haus zu. Blake begleitete sie.

»Was ist nun Ihre Meinung?« fragte er und brach plötzlich ab.

»Ich denke, daß mein Bruder in jener Nacht überfallen wurde, und daß er wahrscheinlich dort in dem Strudel liegt. Aber das ist nur eine Annahme. Vielleicht bringen Sie die Wahrheit heraus.«

Dann dankte sie ihm für sein Kommen und verabschiedete sich. Blake versprach, ihr wieder zu berichten, und machte sich in tiefen Gedanken auf den Weg nach Brychester. Als er an dem Kreuzweg bei Marshwyke ankam, begann es heftig zu regnen, und er eilte nach dem Gasthaus, um sich vor dem Unwetter zu schützen. In der dunklen Eingangshalle traf er Briscoe, der warnend die Hand hob und ihm ein Zeichen gab, ihm in das kleine Zimmer hinter der Gaststube zu folgen.

»Kommen Sie herein«, sagte er leise. »Ich sah, wie Sie auf das Gasthaus zukamen, und fing Sie ab. Judah Clent ist in der Gaststube. Sie können ihn hier in aller Muße beobachten.«

 


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