Egid von Filek
Wachtmeister Pummer
Egid von Filek

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14.

Ja, sie hatten ihn ermordet, den Franz Ferdinand von Este, der so voll von heißer Sehnsucht nach der Herrschaft war und allen wie ein dunkles Rätsel erschien, sich selbst vielleicht am meisten . . .

Sie hatten ihn ermordet an jenem höchsten Trauertag der Serben, dem Tag der Schlacht auf dem Amselfelde, den er sich allen Warnungen zum Trotz für seinen triumphierenden Einzug nach Sarajewo gewählt. Nach jenem Sarajewo, das vor sechsunddreißig Jahren von den Österreichern gewaltsam besetzt worden war – dem Schmerzenskind der großserbischen Bewegung, heiß und leidenschaftlich umworben als »unerlöstes« Gebiet. So wollte er zeigen, wie das große Staatsproblem, Österreich genannt, zu 314 lösen sei . . . Er hat einen schweren Irrtum schwer gebüßt.

Aber jedes vergossene Blut schreit um Rache, mag es aus den Adern eines Fürsten oder eines Bettlers geflossen sein.

Die Welt kam nicht mehr zur Ruhe seit jenen verhängnisvollen Revolverschüssen des mißleiteten slawischen Gymnasiasten, der in jugendlich wollüstigem Durst nach einer großen Tat zum Mörder ward. Man ging über ihn zur Tagesordnung über . . .

Aber seine Tat blieb. Die wirkte weiter und zeigte wie ein glühendes Signallicht dem ganzen in der Finsternis bangenden Europa, daß es keinen Ausweg mehr aus dem Wirrsal gab als den Krieg.

Und die Finsternis wich, und es ward Tag, der Tag des Weltgerichtes und des Weltkrieges, jener Tag, den keiner von allen, die ihn mitgemacht, sein ganzes Leben lang vergessen kann; eingeprägt steht er in den Seelen als unauslöschliches Brand- und Blutmal! 315

Wie alle anderen Tage hatte er begonnen; mit dampfenden Nebeln, die aus den Wäldern emporstiegen, in denen der Morgenwind stärker rauschte, mit Hahnenschrei und Glockenläuten zur Frühmesse; nur daß eine große Schwüle in der Luft lag und im Osten bleigraue Wolken sich türmten und immer drohender und finsterer wurden, als nahe von dorther etwas Böses.

Die junge Herrin des Luxhofes stand in der Butterkammer; eben hob sie einen mächtigen goldgelben Wecken auf die Wage, da richtete ein Knecht aus: sie möchte schnell in die Bürgermeisterkanzlei kommen. Und sie lief, von böser Ahnung die Stufen emporgetrieben; der Schwiegervater stand vom Schreibtisch auf und streckte ihr die Hand hin. Das war so ganz und gar gegen seine Gewohnheit, daß sie zu zittern begann und sich auf einen Stuhl setzen mußte. »Dirndl, sei g'scheit,« sagte der Alte; er nannte sie immer Dirndl, wenn er recht gut zu ihr sein wollte. »Es hat ja doch einmal kommen müssen. Und jetzt ist es halt da.« 316

»Was denn, Vater, um Gottes willen?« fragte sie und wurde noch bleicher.

Da zeigte er ihr ein Telegramm von der Bezirkshauptmannschaft, darauf stand: »Allgemeine Mobilisierung.«

»Jetzt muß alles weg, was jung is und stark. Und da müssen halt wir Alten machen und die Weiber. Aber wir halten zusammen, gelt ja?« Und er fuhr sich über die Stirn. »Hart is für uns beide, wohl, wohl. Du mußt den Mann hergeben und ich den Sohn. Meinen einzigen. Ja, ja.« Er schluckte heftig, und der Adamsapfel an seinem vertrockneten, faltigen Hals ging auf und nieder, als er sie die Hände vors Gesicht schlagen und bitter weinen sah. Sie stand ihm nahe in ihrer jungen Kraft und Schönheit. Aber im Hintergrund seines Herzens regte sich etwas wie verhaltene Freude, weil er nun doch wieder der Herr war in seinem Hof und Haus.

Sie hob das tränenüberströmte Gesicht und sah, daß eine Menge Schreibarbeit auf dem 317 Tisch lag; und noch aus dem Weinen heraus fragte sie: »Kann ich vielleicht dem Herrn Vatter helfen?«

O ja, sie konnte: sie schrieb die Einberufungsbefehle für alle die kleinen Dörfer und Weiler, die in den Bereich des Bürgermeisteramtes gehörten, und unter der Arbeit trockneten allmählich ihre Tränen.

Und bald eilten die Mobilisierungsboten durch die Gegend: die einen zu Fuß, auf schweren gedoppelten Bauernsohlen, die sonst nur gewöhnt waren, über Sturzäcker zu stampfen; andere flogen auf Fahrrädern dahin, wieder andere trabten zu Pferd wie die apokalyptischen Reiter. Und diese Eile, dieses Rennen und Laufen war etwas Unerhörtes für die Menschen der Scholle, die sich zum Leben und zur Arbeit immer so viel Zeit ließen. Aber keinem fiel es ein, zu murren oder zu klagen. Still legten sie ihr Arbeitszeug beiseite und machten sich fertig. Der Kaiser rief, und da gab's nichts zu deuten und zu reden. 318

Und wenn da und dort gesunde Roheit zum Vorschein kam – ohne ein Stück Roheit hat sich noch kein Mann durchs Leben gehauen, auch im tiefsten Frieden nicht!

Dem langen Gendarmen Stiegler kam die Einberufung sehr gelegen. Er hatte schon wieder was mit einem Mädel angestellt, die lag ihm in den Ohren mit Jammern und Betteln und wollte noch schnell geheiratet sein. Die schwarze Siebzehnjährige war's, damals vom Kirchtag. Der Stiegler sprach ihr Trost zu: So ein Krieg, meinte er, dauert nicht lang. In fünf, sechs Wochen ist alles vorüber, dann kehrt er heim mit der Goldenen Tapferkeitsmedaille, und es wird noch immer eine schöne Hochzeit, grad' zur rechten Zeit.

Kamerad Griensteidl ging nicht so gern. Er sah auf seinen dicken Bauch herunter und fragte mißtrauisch: »Glaubst, Stiegler, daß in Serbien auch a guts Bier is?« Aber der lachte ihn aus und zog ihn ins Wirtshaus. Stolz marschierten sie über den Platz, und der Stiegler 319 pfiff sich das Liedel: Muß i denn zum Städtle hinaus und du, mein Schatz, bleibst hier.

Der Moser machte in diesen Tagen ein Bombengeschäft. Die Burschen kamen, um den Abschiedstrunk zu halten und sich ein wenig auf die Helden zu spielen; mancher, der am liebsten daheim geblieben wäre, trank sich den nötigen Mut und dazu noch einen kleinen Rausch an – je größer die Gesellschaft ist, desto höher steigt ja die Kurage. Die älteren Männer besprachen am Biertisch die politische Lage. Königreiche und Länder wurden verteilt, Dynastien abgesetzt, Kriegspläne entworfen und der »Waldviertler Bote« studiert, der eine Kriegsausgabe veranstaltet hatte. Und mancher harte, graue Bauernschädel, dem bisher das Leben als eine höchst überflüssige Kunst gegolten, vergrub sich nun in die Wiener Zeitungen, die man sich hatte kommen lassen, und wurde rot vor Eifer und Wein, und Fäuste schlugen auf den Tisch und zermalmten symbolisch alle Feinde des Kaisers. Und zum Schluß kamen auch noch die Weiber 320 ins Wirtshaus, um ihre Mannsbilder abzuholen und ein bißchen zu flennen und zu jammern. Der Moser jammerte auch, und seine Ehehälfte jammerte mit ihm; aber in der Küche steckten sie die Köpfe zusammen und überschlugen den Gewinn des Tages.

Der Lux Ferdl stand auf der großen Wiese beim Klosterwald, mit Heurechen beschäftigt. Die Hanni schwang in seiner Nähe den langen Rechen, zwei andere Mägde türmten einen Haufen empor so hoch wie ein Roß, ein Knecht dengelte die Sense; das scharfe Auge des jungen Herrn überwachte sie alle, und dennoch waren seine Gedanken ganz wo anders; die Mirzl klagte seit ein paar Wochen über Schwindel und Übelkeit und Erbrechen, und der Ferdl wußte schon, was das bedeutet; voll Behagen dehnte er die Arme und freute sich. Da kam vom Ort her ein bloßfüßiger Bub gelaufen und schwang einen weißen Zettel in der Hand. Jetzt bog er von der Straße ab, lief den Waldrand entlang, sprang über den Bach, rot und verschwitzt stand er vor ihm. 321 »Vom Herrn Vattern,« keuchte er. Der Ferdl nahm das Papier. Er studierte es lange, obwohl nur ein paar Worte darauf standen. Der Bub wartete sprungbereit und ängstlich, ob sich die Spannung im Gesicht des Lesers nicht plötzlich entladen werde, etwa in der Form einer kräftigen Ohrfeige für den Überbringer der Botschaft; aber es geschah nichts dergleichen, sondern der Lux Ferdl ließ nur den Zettel sinken und starrte ein paar Sekunden verloren den nächsten Heuhaufen an. Dann ruckte er sich zusammen und rief dem arbeitenden Gesinde zu, daß es weit in den Wald schallte: »Feierabend machen, 's wird Krieg!«

Aber die arme kleine Frau Oberlehrer traf beinahe der Schlag vor Schrecken; mit vielen anderen Gerüchten hatte sich die Schauermär verbreitet, daß alle Männer bis zu fünfzig Jahren, ob gedient oder nicht, sofort ins Feld rücken müßten. Und sie zitterte für ihren geliebten Mann. Darum stieg sie eiligst, als die ersten Einberufungszettel in den Ort flatterten, nach 322 dem oberen Stock des Schulhauses hinauf und klopfte an die Tür des Herrn Gärtner.

Ein mattes »Herein« kam von drinnen, wo der Lehrer mit bleichem Gesicht in den Kissen lag. Die Liedertafel war ihm gar nicht gut bekommen. Seit der argen Erkältung während der F-dur-Sonate nahm sein Lungenleiden in erschrecklicher Weise eine Wendung zum Schlimmen. Und er brachte fast die ganze schulfreie Zeit im Bette zu und mußte vom Herrn Wimmer immer öfter vertreten werden.

Die Abhandlung von Schopenhauer »Über den Tod und die Unzerstörbarkeit unseres Wesens« lag auf einem Stuhl neben dem Bett. Frau Rosel schob sie zur Seite, setzte sich nieder und schüttete ihm unter Tränen ihr Herz aus. Und er, dem selber der Tod auf der Brust saß, beruhigte die Weinende: war doch der Oberlehrer nie beim Militär gewesen und zu alt zum Frontdienst, und die Schulen müßten doch auf jeden Fall weiterbetrieben werden; sicher würde man ihn entheben, ganz sicher! Und als die Frau 323 halbgetröstet wieder die Stufen hinabstieg, den kleinen Hans zu küssen und zu liebkosen, richtete sich der Kranke im Bett auf und betrachtete seine kleine stille Welt, den Böcklin mit dem geigenden Tod, die kleine Bücherei mit den schöngebundenen Klassikern, das geliebte Cello und das Notenpult mit dem Beethoven, mit seinem Beethoven; und wenn er daran dachte, daß Millionen eisengrauer Männer in ganz Mitteleuropa sich jetzt in Bewegung setzten, um die herrliche deutsche Kulturwelt, die Künstler und Dichter geschaffen, wieder einmal zu verteidigen gegen asiatische Roheit und britische Hinterlist, jauchzte sein krankes Herz auf, und er wäre am liebsten heute noch aufgestanden, um sich zum Militärdienst zu melden. Aber dann fiel ihm bitter schwer auf die Seele, daß dieser Kampf viele Hunderttausende Todesopfer kosten müsse; er sah Ströme von Blut über grüne Felder fließen und hörte das schmerzliche Weinen der Frauen eines ganzen Weltteils; da krampfte sich sein Herz zusammen in bitterem Weh, und auf das weiße Polster fielen seine heißen Tränen. 324

Auch die Mariann im Pfarrhof weinte in jener Nacht. Mondlicht hatte sie aufgeweckt aus einem bösen, wirren Traum; sie setzte sich im Bett auf und holte tief Atem, das Herz war ihr bang und schwer wie in Vorahnung eines großen Unglücks. Und das kalte Mondgesicht starrte so schreckhaft bleich in das Zimmerchen und flimmerte in der Flasche mit der Kreuzigung des Heilands so seltsam, daß die Mariann sich fürchtete, ein Stoßgebet sprach und die Decke über den Kopf zog. War am Ende jemand über ihr künftiges Grab gegangen? Aber am nächsten Morgen fand sie im Vorgärtchen, unter der größten ihrer bunten Glaskugeln, ein kleines versiegeltes Paket, an dem ein Brief im goldgeränderten Umschlag angebunden war. Und klopfenden Herzens las sie die mit Bleistift hingeworfenen Worte:

»Bin hier durchgewandert in der Nacht, ganz allein. Morgen meld' ich mich zur Front hinaus, und ich will schaun, daß ich was leisten kann, damit die Schand abgewaschen wird von mir. Das Paket bitte ich 325 zu verbrennen, wenn ich nimmer heimkomme. Ein paar Blumen hab ich mir mitgenommen zum Andenken. Behüt Euch Gott und vergeßt mich nicht ganz.«

Ein paar Blumen . . . Ach, und die arme Mariann hätte den ganzen Garten geopfert, wenn er nur dageblieben wär'! Abschiedsweh verklärt den Scheidenden zum Helden, zum Gott. Sie streichelte das schmale, in weißes Papier gehüllte Paket, wie man ein liebes Haustierchen streichelt. Und die silberne Glaskugel spiegelte ein kleines Gesicht voll Trauer, Schmerz und rollenden Tränen.

Da schreckte sie auf. Marschtritte von schweren Schuhen, Gesang aus rauher Kehle schallte über den Platz. Die jungen Kleriker vom Stift waren es. Die hielten sich untergefaßt und waren so fröhlich, wie nur einer sein kann, der aus der Kutte in die Montur springt. Von geistlicher Würde war nichts mehr da als die glattrasierten Gesichter. Alle fünf hatten sich freiwillig gemeldet und gingen nun von Eltern und Verwandten in den Nachbarorten Abschied nehmen. 326

Droben im ersten Stock stand der Pfarrer, neben ihm der Kaplan. »Mir scheint, Sie wollen mitgehn, lieber Bruder in Christo – wie?«

Der Kaplan nickte verträumt:

»Eigentlich ja. Mein Gott, wenn man noch jung und gesund ist – Seelsorger sein ist doch kein Beruf für einen Fünfundzwanzigjährigen.«

Der Pfarrer blies bedächtig den Pfeifenrauch durch die Nase:

»Unsinn. Danken Sie unserem Herrgott, daß Sie nicht mit müssen. Auch die ecclesia militans braucht Soldaten. Man darf ja nichts sagen, aber mir gefällt es ganz und gar nicht, dieses Bündnis unseres Staates mit dem protestantischen Deutschland und den Mohammedanern – Sie werden sehen, das wird nicht gut enden – Sie werden sehen!«

Der Pater Balduin zuckte die Achsel. Sein politisches Glaubensbekenntnis lautete anders. Aber er mußte schweigen.

Bald kam ein fieberhaftes Leben und Treiben in die sonst so stille Gegend. Pferde und Wagen 327 wurden requiriert, gar mancher Knecht ritt samt dem Pferde weg, auf dem er saß. Roß und Reiter gehörten dem Kaiser. Auf der großen Gemeindewiese hinter dem Ort war Pferdeassentierung; Kommandoworte tönten und Wiehern der vielen Tiere und harte Hufschläge gegen die Holzplanken. Und endlich zog alles fort, singend, jauchzend, mit Blumen geschmückt, mit Bändern am Hut, und überall auf den Straßen marschierten singende Trupps im gleichen Schritt und Tritt, Männer, Männer, Männer, Männer, alte und junge, dicke, schlanke, solche, die müde und gleichgültig einen Fuß vor den anderen setzten, und kernige, elastische Leute mit federndem Gang, und das alles sammelte sich, wie ein Strom seine Gewässer sammelt, aus Bächen wurden Flüsse und Fluten von Menschen, die weiter und weiter zogen, den Hauptstädten, den Eisenbahnen zu, eine ungeheure Völkerwanderung.

Das war das Wunderbare, das niemand vermutet hätte in dem völkerbunten, von so vielen Parteien hin und her gerissenen Land: daß sich 328 in der Stunde der Gefahr nun doch alle wieder, wie einst in der Türken- und Franzosenzeit, zu einem großen Ganzen zusammenschlossen. Bei Tschechen, Ungarn, Slowenen schwieg der Hader; eine ungeheure elektrische Welle ging durch das ganze Reich und machte alle Herzen zittern; in Wien waren die Straßen schwarz von Menschen, zu den Füßen der Monumente von Feldherren und Fürsten dröhnte tausendstimmige Begeisterung, die Ringstraße widerhallte von Hochrufen, flimmerte von bunten Fahnen, leuchtete abends im Schein der Lampions, wenn die Menge vor das große, plumpe Gebäude des Kriegsministeriums zog und zum alten Vater Radetzky emporjubelte.

Draußen aber, fern von der fiebernden, tobenden Hauptstadt, rasten die Eisenbahnzüge durch das weite, friedliche Land, dreimal so lang als sonst, erfüllt von ängstlichen, treibenden, hastenden Menschen – man mußte den Verkehr beschleunigen, schon von morgen an gab es täglich nur zwei Züge für Zivilpersonen, jede 329 Schiene, jeder Wagen, jede Signalglocke, jeder Morse-Apparat gehörte der Militärverwaltung. Ganze Familien verließen in wilder Flucht ihre Sommerfrischen; Karlsbad, Marienbad, Franzensbad standen plötzlich verödet, alles strebte nach der Hauptstadt, als sei man dort näher an dem Herzschlag des fieberkranken, in Krämpfen zuckenden Weltteils.

Und in hellen Haufen standen überall die Landleute an der Strecke und sahen den Zügen nach, die ihnen das Teuerste fortführten. Aber niemand hörte man klagen oder seufzen. Das kam erst später, wenn man allein war mit seinem Weh. Jetzt standen sie nur schweigend und starrten hinter den Rädern her. Und halbwüchsige Buben hoben die geballten Fäuste und riefen: »Nieder mit den Serben!« Aus den Fenstern der Züge aber tönten alle die lieben alten Volkslieder, die nun plötzlich aus den Tiefen des Herzens aufstiegen und den dummen Operettensingsang mit einemmal verdrängten, und die monotone Begleitung der ratternden 330 Eisenbahnräder gab die metallene Unterstimme zum Lied vom »Guten Kameraden« und vom »Prinzen Eugenius, dem edlen Ritter«. Und die Phantasie des leichtblütigen, liederfrohen Österreichervolkes bildete aus den Trümmern halbvergessener Lieder neue, die zu dem Neuen paßten, das da unsichtbar über die Welt ging, erhebend und zermalmend zugleich. Und wenn sie sich müde gesungen hatten, so blickten sie voll Zuversicht hinaus aus den kleinen Wagenfenstern auf die Heimatscholle, auf die Felder, wo mit Anspannung aller Kräfte noch das letzte Getreide geschnitten ward. Da und dort dengelte ein Alter seine Sense und rief seinem Weib, das daherkeuchte unter der Last der goldgelben Garben; und wenn er ausruhend sich den Schweiß von der Stirne wischte und die dunkle Gestalt wie ein Schattenbild sich abhob vom rotglühenden Sonnenuntergangshimmel, so glich er dem Bilde jenes furchtbaren, unerbittlichen Schnitters, dem wir alle, alle ohne Ausnahme verfallen sind – auch die Zurückbleibenden . . . 331

Und es wurde stiller im Land, und das Rollen der Eisenbahnzüge, die Tag für Tag die singenden, jauchzenden Scharen hinausgeführt, immer leiser und leiser; aber dafür kamen andere Züge von draußen herein, die fuhren tief in der Nacht mit gelöschten Lichtern, und auf den Wagen leuchtete ernst und stumm das rote Kreuz, und drinnen war Blut und Seufzen und Stöhnen Verwundeter.

Der schönste Herbst brach an, der seit vielen Jahren sein Füllhorn ausgegossen. Aber niemand freute sich seiner. In dumpfer Stille zogen die goldenen, schwerbeladenen Erntewagen dahin, um die so viele Sorgen und Mühen, so viele Gedanken von Furcht und Hoffnung schweben, von denen der Stadtmensch nichts ahnt. Keinen bunten Schnitterkranz gab's diesmal, keine Tanzerei. Wohl saßen ein paar halbwüchsige Buben beim Moser und winkten mit den Fingern, um die Mädeln zu locken. Aber denen war nicht ums Tanzen.

Aber wenn es auch nichts war mit dem Erntefest, und auch der Kirchtag in diesem Jahr 332 eigentlich nur aus einer stillen Messe bestand mit darauffolgendem Wirtshausbesuch und Kannegießern über die politische Lage: die Schwarzseher, die das Ende der Welt oder wenigstens den Zusammenbruch des Staates vorausgesagt hatten, machten erstaunte Augen, als sie sahen, daß doch so ziemlich alles im alten Geleise weiterging; daß der Herr Pfarrer Messen las und der Kaplan predigte, sehr kriegerisch natürlich, wie es sich gehörte in dieser Zeit; daß Herr Adalbert Kerzendocht nach wie vor Kaffee, Zucker und Kolonialwaren, Tabak und Schnittware verkaufte, nur daß alles viel teurer war als früher. Und es wurde Schule gehalten und Steuern gezahlt, in den Scheunen klang das Ticktack der Dreschflegel, das Rasseln der von Ochsen statt Pferden getriebenen Göpel, das Schnattern der Getreideputzmühlen und das Klirren der Futterschneidemaschinen. Wieviel ungebrochene Kraft, wieviel Lebens- und Arbeitsfreude war doch in diesem Volke; besonders die Weiber zeigten, was sie leisten konnten! Wenn sie auch abends todmüde 333 ins Bett fielen und mit dem ersten Hahnenschrei wieder heraus mußten – sie arbeiteten unverdrossen wie Zugtiere im Geschirr. Und obwohl keine von ihnen jemals von einer Frauenbewegung und der Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter gehört hatte: sie bewiesen die Richtigkeit der Theorie durch die Tat.

Sechs Wochen mochten nach der Mobilisierung vergangen sein; schon brannte das unglückliche Europa an allen Enden, Rußland, England, Frankreich, Serbien und Belgien hatten den Zentralmächten den Krieg erklärt, Italien duckte sich zum Sprung und wartete seine Zeit ab: da kamen die ersten Feldpostbriefe in den stillen Ort. Und die ängstliche, bange Spannung begann sich zu lösen; also waren doch nicht alle Fäden abgeschnitten zwischen denen da draußen und den Zurückgebliebenen in der Heimat!

Das Regiment, bei dem sie standen, operierte an der galizischen Grenze und war noch nicht ins Feuer gekommen; so viel konnte man doch aus den Nachrichten herauskriegen, trotz sorgfältiger 334 Zensur. Die Luxbäuerin bekam eine der ersten Karten. Sie weinte und drückte sie an ihre Brust; noch brannten die Abschiedsküsse des Ferdl auf ihrem Mund und seine wilden Zärtlichkeiten in ihrem Blut. O, er war doch ein guter Mensch! Wenn nur mehr gestanden hätte auf solch einem schmalen rosaroten Zettel! Er schrieb, daß es ihm gut gehe, daß die Verpflegung und Behandlung nicht übel sei; freilich, hart war's schon, so mit der Eisenbahn ins wilde Land hinauszufahren, es dauert schon seine Zeit, bis man das gewöhnt. Und was mit der Haferernte sei, und wie es dem Vater ginge. Sie antwortete noch am selben Tag. Auch der Alte schrieb; er hatte Schweine gekauft, die Preise stiegen von Tag zu Tag, und wenn man sie gegen den Winter verkaufte, gab's einen schönen Gewinn.

Wochen und Monate gingen ins Land. Der Tag hob sein Haupt aus blutroten Morgenschleiern, hüllte sich in nasse Nebelgewänder, frostig und feldgrau, schlief wieder ein in den Farben von Blut und Feuer. 335

Kein Fest gab's im Ort, keine bunten Bänder, keinen Gesang. Der Männergesang- und Orchesterverein war längst entschlummert; die russischen Kanonen machten stärkere Musik. Feinde im Osten, Feinde im Süden. Ob das entsetzliche Ringen wohl zu Weihnacht oder zu Neujahr zu Ende war?

Warten mußte man, warten . . .

Die Russen drangen in Galizien ein, wurden blutig zurückgeschlagen, drangen neuerdings vor; die Nachrichten wurden spärlich und blieben ganz aus. Das Regiment mußte nun wohl schon recht weit draußen sein, wo die Feldpost in Kot und Schlamm steckenblieb.

Frauenarme hatten die Ernte eingebracht, Frauenhände streuten die Wintersaat, strickten warme Socken und Jacken und Kniewärmer, stopften Zigaretten und zupften Scharpie.

Warten, warten, warten . . .

Eines Tages kam die lang erwartete Nachricht vom ersten Verwundeten. Der Kerschbaum Poldl war's. Er hatte die linke Hand durchschossen 336 und eine Wunde am Schenkel von einem Granatensprengstück. Es war nicht schlimm, er lag in einem Spital in Wien und fragte an, ob ihn jemand besuchen könne – sakrisch langweilig war ihm halt das Faulenzen, und er wolle am liebsten schon wieder hinaus. Mutter Kerschbaum zeigte den Brief im ganzen Ort herum; er wurde angestaunt wie eine Heiligenreliquie und sein Verfasser als Held und Märtyrer gefeiert. Und dann machte sich die Alte auf und fuhr nach Wien, und als sie zurückkehrte, konnte sie nicht genug erzählen vom Spital und vom Poldl, der schon herumging und Zigaretten rauchte; und eine Menge Pflegerinnen gab's dort, alte und junge, und die beim Poldl zu tun hatte, war ein kreuzsauberes Madel, von einem Bäcker die Tochter, und hatte dem Poldl gesagt, sie bekomme ein hübsches Stück Geld mit, wenn sie heiraten werde. Ja, das war halt a Feiner, ihr Poldl!

Die Stammtischecke beim Moser glich jetzt fast einem Generalstabsquartier, wenigstens was die 337 Dekoration der Wände betraf; da hing gerade unter dem Kruzifix eine riesige Karte von Galizien und seinen Nachbarländern, daneben Belgien und Nordfrankreich, Serbien und Montenegro und zum Überfluß noch die Türkei wegen der Dardanellen-Belagerung. Auf gemeinsame Kosten hatte man Karten, illustrierte Lieferungshefte, Stecknadeln und bunte Fähnchen angeschafft, und Abend für Abend wurden an der Hand der eingelaufenen Wiener Zeitungen sorgfältig alle Stellungen der Armeen markiert. Natürlich besaß jedes Mitglied der Tafelrunde noch seine eigene Spezialkarte. Das große Wort bei der strategischen Debatte führte der Herr Oberlehrer; Herrn Kerzendochts Spezialgebiet waren die Wirtschaftsfragen, der Pfarrer erörterte die Wirkungen des Krieges auf die menschliche Seele und ihre Bedürfnisse, und der Kaplan hörte allen andächtig zu. Die Leitung der Verhandlungen lag aber doch in der Hand des Herrn Oberlehrers, der gern dozierte und tiefe historische Kenntnisse besaß. Nur wenn er in der Hitze 338 des Wortgefechtes den sicheren Boden der großen Politik verließ und sich zu weit ins rein militärische Detail wagte, mußte er sich vom Förster belehren lassen; denn der hatte drei Jahre lang wirklich beim Militär gedient. Aber dafür warf er ihm wieder einen Granatenhagel von historischen Daten und Jahreszahlen aus den Napoleonischen Feldzügen an den Kopf, die er kurz vorher daheim nachgelesen hatte; da konnte der Förster nicht mit. So wogte die Wortschlacht hin und her, die Luft ward dick und schwer vom Dampf der Pfeifen, Donar gähnte in seinem Winkel beim Kachelofen, der Moser berechnete in der Küche mit seiner Frau die Tageslosung, und auf dem Tisch schimmerte im ernsten Glanz des polierten Stahles eine russische Schrapnellhülse, mit den letzten Blumen des Herbstes gefüllt; der Lux Ferdl hatte sie seinem Schwiegervater aus Russisch-Polen zu freundlicher Erinnerung gesendet.

Einmal, als gerade eine längere Pause in den kriegerischen Stammtischoperationen eingetreten 339 war, fragte der Förster aus einer tiefen Versunkenheit heraus:

«Was wird denn jetzt unser Wachtmeister Pummer machen?«

Schweigendes Achselzucken war die Antwort. Der Pfarrer sprach nach einer nachdenklichen Pause: »Vorgestern hat er meiner Mariann g'schrieben. Ich hätt die Karte gern mitgebracht, aber sie gibt's nöt her. Es geht ihm gut und er ist viel auf Patrouillengängen – soll gefährlich sein, schreibt er.«

Und da der Moser just ein frisches Bier brachte, erhob sich der Pfarrer und sagte ernsthaft:

»Unser Freund Pummer soll leben. Prosit!«

Die anderen taten ihm Bescheid.

Dann schnitt der Oberlehrer wieder das unerschöpfliche Thema an. Wie lange wird der Krieg noch dauern?

Mit dem Förster war seit einiger Zeit eine starke Veränderung vorgegangen. Er konnte mitten in den interessantesten strategischen Erklärungen des Herrn Oberlehrers wie 340 geistesabwesend vor sich hinstarren und ganz leise den grauen Kopf schütteln. Einmal ging ihm sogar die Wasserpfeife aus. Als der erste Schnee fiel, verschwand er auf einige Tage aus Kasdorf zum größten Staunen der Korona, und als er wiederkam, lag in seinem ganzen Auftreten etwas so Feierliches und zugleich Entschlossenes, daß man im höchsten Grade gespannt war, was denn da los sei. Aber erst nach dem dritten Krügel tat er seinen Mund auf und sprach:

»Vorgestern hab ich mich beim Kommando zum freiwilligen Kriegsdienst gemeldet.«

Allgemeine Verblüffung. Der Oberlehrer fand zuerst die Sprache wieder:

»Na ja – aber in deinem Alter . . .«

Aber der Förster wurde beinahe grob.

»Was Alter – so a elender Krüppel bin i no lang nöt. Das leisten meine Knochen schon noch. Und der Oberst hat g'sagt, wenn's bei der Front am End doch nöt geht, so komm ich zum Kader und richt' Rekruten ab. Und mit Offiziersrang ruck i ein, dös haben's mir versprochen.« 341

Das große Ereignis wurde mit einer Pulle des besten Strohweins begossen, den der Moserkeller lieferte. Der Förster brachte noch eine Menge Neuigkeiten mit: man brauche viel, viel mehr Soldaten, und es sei eine Musterung aller Ungedienten bis zu fünfzig Jahren oder vielleicht gar noch darüber geplant. Das habe ihm ein höherer Offizier mitgeteilt.

»Unsinn – da mußt du falsch verstanden haben, Förster,« rief der Oberlehrer, der ein wenig blaß geworden war. »Wie kann man denn so alte Leute noch ausbilden! Dös gibt's nöt!«

Wenn der Oberlehrer in große Erregung kam, sprach er im Dialekt.

Aber der Förster blieb dabei. »Is auch ganz in der Ordnung. Dös dumme Reden vom Krieg und dös Politisieren da hinterm warmen Ofen – da kommt nix außi. Mitmachen muaß man's, mitmachen! Ja, ja, Oberlehrer, du kommst a noch dran . . . Wirst a fescher Soldat. Vielleicht sehen wir zwa uns noch amal draußen in Russisch-Polen – Servus, Kamerad!« Und er schlug 342 ihm kräftig auf die Schulter und trank das ganze Glas aus. Wie ein Rausch von Kraft und Jugend war es über den Alten gekommen, daß seine Augen glänzten und er noch auf dem Heimweg, begleitet von den andern, das tollste Zeug durcheinanderschwatzte.

Noch vor Weihnacht rückte er ein.

»So, schön, jetzt hat unser armer Stammtisch gar nur vier Füß,« klagte Herr Kerzendocht.

Und dann kam der Heilige Abend. Weiber und Kinder hatten nasse Augen. Wie werden die Männer draußen im Schützengraben Weihnachten feiern!

Und kein Ende des Weltenbrandes abzusehen, kein Ende . . .

Im Pfarrhof, wo es Berge von gestrickten Schneehauben, Pulswärmern und Wadenstutzen auf allen Tischen gab, seit ein Dutzend Frauen und Mädchen unter dem Vorsitz der Mariann an dem Liebeswerk arbeitete, bekamen die Weberkinder ihre Bescherung. Ihre schmalen Wangen waren noch blasser als voriges Jahr, und das 343 »Stille Nacht, heilige Nacht« klang recht traurig. Alle hatten Väter und Brüder im Feld.

»Willst du nicht noch auf den Luxhof gehen, Mariann?« fragte der Pfarrer nach der Bescherung. Die junge Luxbäuerin erwartete ihre schwere Stunde, und die Mariann, in der noch immer etwas von dem alten Groll unter der Asche glomm, hatte sich recht wenig um ihr Patenkind gekümmert. Aber heute, am Heiligabend, mußte sie doch wohl nachsehen. Sie schlüpfte in ihre warme Jacke und machte sich auf den Weg.

Eingeschneit lag der Ort; der Heilige Florian trug seine weiße Krone wie jedes Jahr, das Wasser in der Bassena war zu einem Eisblock gefroren; aber kein einziger Weihnachtsbaum flimmerte diesmal hinter all den vielen mit Eisblumen bedeckten Fenstern. Und die Mariann dachte an ihn, dessen Bild sie immer mit sich trug, an ihre tränenvolle letzte Liebe. Heilige Jungfrau, schütze ihn!

Sie kam zu spät auf den Luxhof. Alles war vorüber – die Mirzl lag in ihrem Bett, matt 344 und glücklich, sie streckte ihr eine heiße, müde Hand hin und dankte für ihren Besuch. Ein Bub war's, ein schöner, starker Bub, und daß er in der Nacht vor dem Heiligen Abend gekommen, war sicher ein gutes Zeichen. Und der alte Lux hatte eine Axt genommen und eine mächtige Kerbe eingehauen in den großen Eichbaum neben der Scheune; das war Brauch in der Dynastie Lux seit undenklichen Zeiten, daß der Vater eine Kerbe in den Stamm schlug, wenn ihm ein Sohn geboren war. Diesmal mußte es eben der Großvater besorgen. Und die Mariann dachte an ihren Wachtmeister und an den Lux Ferdl, die nun vielleicht beide beim Schneesturm im Schützengraben lagen, und in ihrem Herzen schwieg der Groll; lange saß sie am Bettrand und plauderte, und das Kleine weinte mit seinem feinen Stimmchen und war erst dann still, als es aus schöner, weißer Naturflasche sein Nachtmahl bekam.

Ja, hier glomm ein neues Licht auf am unendlich reichen Lichterbaum der Menschheit, und ein 345 paar Häuser weiter brannte ein anderes trüber und trüber seinem Ende entgegen, das noch lange seinen warmen, milden Schein hätte verbreiten können durch die kalte Winternacht dieses Lebens.

Der arme Gärtner konnte das Bett nicht mehr verlassen. Eine kranke Lunge, ein rauhes Klima und der Schulmeisterberuf dazu – das sind drei emsige Totengräber für ein Siebenmonatkind.

Gierig verschlang er die Zeitungen, die ihm der Oberlehrer hinaufschickte, und wenn ihm ein wenig besser war, suchte er auf der großen Landkarte, die auf seiner Bettdecke lag, alle die kleinen unaussprechlichen Nester, die jetzt mit Blut und Feuer zu berühmten Schlachtorten getauft wurden. Und all das Hin und Her des Krieges spiegelte sich in seinem Zustand; ruhig, fast fieberfrei lag er da, wenn gute Nachrichten kamen, und dann schüttelten ihn wieder Frost und Hitze zugleich, wenn er von Mißerfolgen hörte.

Es war die Art des sanguinischen Österreichers, der es nicht recht fertigbringt, gleich dem Deutschen 346 die Zähne zusammenzubeißen und schweigend durchzuhalten, weil er immer bald himmelhoch jauchzen und bald zu Tode betrübt sein muß.

Und als die Osterzeit kam und der schwarze Karfreitag, als die Festung Przemysl genommen war und die österreichischen Soldaten wie Löwen in den Karpathenpässen kämpften, als der dreimal stärkere, furchtbare Feind fünf Stunden weit von der Hauptstadt Budapest stand und die Kaffeehausphilister daheim schimpften, weil man nichts von Erfolgen las: da gab der Kaplan dem Lehrer die letzte Ölung. Und als er mit der Funktion fertig war, sprachen sie noch lange miteinander von Tod und Unsterblichkeitsglauben und von der ewigen Wiederkehr alles dessen, was einst gewesen war, und vom Gesetz der Erhaltung des Lebens; es war gut für den Kaplan, daß niemand von seinen geistlichen Oberen zuhören konnte, die hätten sich mächtig gewundert über seine Ansichten; aber für den Kranken waren sie Trost und Erquickung. Und dazu schrie der kleine Hans in der Wohnung unten, wie 347 kleine Kinder schreien in der Lust ihres Lebens, und als er müde ward, schläferte ihn die Mutter ein mit alten, lieben Wiegenliedern, und ihre helle Stimme drang bis zu Herrn Gärtner herauf, als wolle sie auch den zur Ruhe singen.

Und dann ging's schneller und schneller dem Ende zu.

Als die Maiglöckchen zu läuten begannen, kam einmal der Oberlehrer sehr aufgeregt mit einer Zeitung in der Hand und las ihm vor: wie die Russen nun endlich, endlich aus den Karpathen vertrieben, ihre Front zerrissen und hunderttausend gefangen seien, wie in Wien und Berlin Siegesfahnen flatterten und alle Kirchen widerhallten vom brausenden Tedeum. Und es war, als leuchte die Lebensflamme noch einmal auf in der zerstörten Brust, und seine Augen glänzten, die Finger fuhren auf der großen bunten Karte ruhelos hin und her, sie wanderten in Polen herum, sie umkreisten Warschau, als wollten sie all das weite Land in Besitz nehmen für das geliebte Österreich – aber dann sank der Kopf 348 zurück auf das Kissen, die Nase wurde spitz und lang, die Finger standen still, und ein rasselndes Röcheln kam aus der Brust. Starr hefteten sich die Augen auf das Violoncell im Winkel, über dem das Böcklinbild mit dem geigenden Tod hing.

Aber der Mann mit der Sense war stärker als der Mann mit der Geige. 349

 


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