Egid von Filek
Wachtmeister Pummer
Egid von Filek

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7.

Langsam, einen Fuß vor den andern auf die knarrenden Stufen setzend, stieg die Moser-Mirzl in ihr Zimmerchen hinauf.

Draußen warf sich der Wind gegen die Scheiben und rüttelte wie mit kräftigen Fäusten an den Fensterflügeln. Wolkenfetzen jagten am Mond vorüber, der hart und klar da drüben hing wie ein Schild aus Metall.

Die Mirzl trat zum Fenster und hob den Blick zum Nachthimmel empor. Das war ihr Abendgebet seit Kinderzeiten. Man kann nicht alle Tage beten: »Vater unser« und »Gegrüßt seist Du«, hatte ihre selige Mutter oft gesagt. Das muß den lieben Gott langweilen. Aber man soll jeden Abend ein paar Minuten lang dort hinaufschauen, wo die Sterne ziehen und der blaue Himmelsfrieden ist. Dann wird es auch da drin 139 in der Brust so still, und man hört nur die feine, leise Stimme des Gewissens, die bei Tag schweigt. Und diese Stimme lügt nie – nie. Das ist oft viel besser als beten . . .

Es war heut Mutters Todestag, darum dachte das Dirndl an all das Liebe, das die stille Frau an ihr getan, an jeden heimlichen Seufzer, den ihr die Gemütlosigkeit des Vaters ausgepreßt hatte – und es tat ihr bitter weh, daß sie so allein war.

Was hätte Mutter wohl gesagt zu der Werbung des Wachtmeisters und zur Botschaft der Mariann?

Sie konnte sich das schwer ausdenken. Als sie vor drei Jahren den mit Herbstblumen geschmückten Sarg hinaustrugen in die weite Toreinfahrt, wo die großen Kerzen in den Silberleuchtern flackerten und der Weihrauch in dichten Wolken unter der gewölbten Decke hinzog, während die knienden Mägde in ihre Tücher schluchzten, da hatte die Mirzl von Herzen mitgeweint. Aber was sie eigentlich damals verloren hatte, das begriff sie erst jetzt. 140

Was würde Mutter sagen?

Wahrscheinlich würde sie den Kopf des Mädels zwischen ihre Hände nehmen und sie lange anschauen mit den braunen Augen, die es von ihr geerbt, und dann leise über ihr Haar streichen und flüstern: »Mußt warten, Kind – warten und still sein und am Abend in Himmel schaun, wenn die Stern kommen und der Mond . . . Dort steht die Antwort auf gar viel. Ach, wenn's der Mensch nur immer gut lesen kunnt.«

Und so stand das Dirndl da und sah hinauf in das Meer von flimmernden Lichtern. Der Mond war in einen schwarzen Wolkenschlafsack gekrochen, und die Sterne funkelten stärker. Aber wem die heimliche Unrast der Liebe im Blut brennt, dem zittert die heilige Schrift da droben so sehr vor den Augen, daß er sie nicht lesen kann.

Endlich wandte sie sich vom Fenster weg, stand noch eine Weile mit lässig herabhängenden Armen da und begann sich dann zu entkleiden.

Die Tassen im Glasschrank klirrten ganz leise, als sie im Zimmer auf und ab schritt. Mitten 141 zwischen dem feinen, vergoldeten Porzellanzeug erhob sich wuchtig und schwer das Lebzeltherz des Wachtmeisters.

Donar, auf seiner dicken Wolldecke vor dem Bett der Herrin liegend, den Kopf auf den Vorderpranken, sah ihr mit schläfrig blinzelnden Augen zu. Als sie die Halbschuhe abgestreift hatte und auf dem Rand des Bettes sitzend die schmalen Füße tief in das weiche, zottige Fell wühlte, um sie zu wärmen, ließ er ein behagliches Grunzen hören. Sie kraute ihn mit den beweglichen Zehen am Rücken und freute sich über den lebenden Fußschemel.

Plötzlich hob das Tier den Kopf. Sein Knurren wurde tiefer und lauter und klang schon fast bösartig. Das Mädchen stutzte. Waren das nicht Schritte, die sich leise und vorsichtig näherten? Die Mägde schliefen doch schon längst. Und jetzt – dieses knarrende Geräusch an der Außenwand . . . Sie stand langsam auf und trat ans Fenster, forschend, aber völlig furchtlos in die Dunkelheit blickend. 142

Na also. Hat sie es doch geahnt. Da draußen steht er auf der Leiter und legt den Finger an den Mund. Und klopft leise an die Scheiben, um Einlaß bettelnd wie ein zahmer, hungriger Vogel im Winter.

Sie winkt abwehrend mit der Hand. Mit solchen Vögeln will sie nichts zu tun haben.

Aber er bettelt fort und fort und macht ein so erbärmliches Gesicht, daß sich endlich doch das Mitleid in ihr regt. Und eine schmale, ganz schmale Spalte öffnet sich und eine liebe Stimme flüstert ihm zu: »Ferdl, so sei doch g'scheit und geh fort. Was sind das für Dalkereien. Mir derfst nöt so kommen wie der ersten besten Bauerndirn. I glaub, so weit kennst mich schon.«

Er zwängt die Hand durch die Spalte des Fensterflügels und streichelt über ihre Finger. Ganz kalte Hände hat er.

»Mirzl, sei still und hör mich an. Ich muß dir was sagen. Was Ernstes.«

»Wird was Rechtes sein, was du mir sagen kannst. Und ernst, – du lieber Gott, in deinem 143 ganzen Leben hast du noch nichts Ernstes g'sagt. Das is g'wiß.«

Er schüttelt den Kopf: »Dirndl, mir is nöt zum Lachen. Es geht mir an Kragen. Der Wachtmeister is mir auf der Spur. Er zeigt mich an wegen Wilddieberei und Brandstiftung. Und du bist der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der mir helfen . . .«

»Um Himmels willen, Ferdl, was is denn g'schehn?« fragt sie und wird blaß.

Er merkt seinen Vorteil und schiebt den ganzen Arm herein, so daß er sich am Fensterbrett aufstützen kann. Und in drei Sekunden steht er im Zimmer.

Aber mit einem Satz stürzt der zottige Tugendwächter aus seiner Höhle hervor und fletscht unter dumpfem Knurren sein furchtbares Gebiß.

Der Ferdl prallt zurück. Natürlich fürchtet er sich nicht vor den blanken Zähnen. Aber in der gegenwärtigen Situation ist ihm das Erscheinen anderer Hausbewohner, die durch das Bellen und Knurren herbeigerufen werden könnten, zum mindesten sehr unerwünscht. 144

Die Mirzl scheint ähnlich zu denken, denn nach einem leisen, kurzen Auflachen, das ihre bestürzte Miene erhellt wie ein durch schwarze Wetterwolken brechender Sonnenstrahl, scheucht sie das gelbbraune Ungeheuer auf seinen Platz zurück.

»Mein Gott!« ruft sie plötzlich mit halblauter Stimme. Jetzt erst bemerkt sie, daß sie noch immer mit bloßen Armen dasteht. Schnell schlüpft sie in ihre Bluse und drängt den Burschen, der ihr behilflich sein will, gegen das Fenster zurück.

»Da bleibst! Und wennst dich rührst, so fangt der Donar zu bellen an und das ganze Haus wird wach. So, jetzt weißt's. Und erzähl, was du scho wieder für a Unheil ang'richt hast, du Galgenvogel.«

Der Lux Ferdl setzt sich auf das Fensterbrett, während das Dirndl das Kerzenlicht ausbläst, damit kein vorwitziger Schatten den späten Gast verrate.

»Wie g'sagt, Mirzl – der Pummer spannt was. Ich glaub, er hat schon beim Gericht die 145 Anzeig g'macht. Daß ich ihn nöt ausstehn kann, weiß er – und er weiß auch warum. Soll ich dir's epper sagen?«

Es ist gut, daß es so dunkel im Zimmer ist und man die verräterische Röte auf den Wangen des Mädels nicht sehen kann.

»Jetzt aber hör endlich auf mit dem Gered und sag, was hast eigentlich getan?«

»Mein – a bissel jagen san mir halt gangen, der Kerschbaum Poldl und ich. Und an Bock habn mir aufg'spürt im Klosterwald, du, ich sag dir, Mirzl, an kapitalen Bock, acht Enden, an Prachtkerl, viel zu schön für die Pfaffen drin im Stift – was brauchen die an Rehbraten, habn eh Kuchel und Keller voll –«

Das Dirndl schlug die Hände zusammen.

»Aber, Ferdl!«

»Na alsdann, wir haben ihn sicher g'habt und ihm aufpaßt – aber weißt, wer uns aufpaßt hat? Der Wachtmeister. Der hat sich am Waldrand auf die Lauer g'legt, und richtig kommt der Poldl daher und im letzten Augenblick sieht 146 er ihn hinterm Baum stehn. Wenn der Nebel nöt so dick g'wesen wär, daß man ihn hätt schneiden können, so hätt er g'schossen. Und ich steh zwanzig Schritt weit und seh die zwei – na, und ich weiß doch, wenn's licht wird, so geht's dem Poldl an Kragen und der Pummer schießt ihn nieder. Der versteht kan Spaß.«

»Mein Gott, mein Gott,« jammerte die Mirzl. »Und du bist am End den Pummer angangen?«

»Ah beilei. Ich hab mich seitwärts druckt und unsern großen Heustadel anzündt. Anderst hab i den Wachtmeister nöt rumkriegen können. Na, und wie er den Feuerschein sieht, rennt er auf den Stadel zu, und mir zwei schaun, daß wir weiterkonnnen. Mein Lebtag bin i noch nie so g'rennt. Noch am Hof vom Vatern hab i glaubt, mir stößt's das Herz ab.«

Die Mirzl atmete auf. Sie hatte schon Mord und Totschlag gefürchtet.

»No und was weiter?«

Dem Ferdl wurde das Sitzen auf dem Fensterbrett langweilig. Er zog einen Schemel herbei 147 und ließ sich schwer darauf nieder. Als er versuchte, seinen Arm um die Mitte des Mädchens zu legen, hob sich von neuem das zottige Löwenhaupt von den großen Pranken. Weiße Fangzähne blitzten durch die Finsternis. Da ließ er schnell wieder los. Die Mirzl aber dachte daran, wie sich vor wenigen Wochen erst der Arm des Mannes um sie gerankt hatte, der dem da vor ihr todfeind war. So anders umschlang sie der Ferdl – so ganz anders . . .

»Alsdann laß dir weiter erzählen. Ich komm heim, steig beim Fenster von mein' Zimmer ein und richt mich a bissel her – dann geh ich in Hof, Mist führen. Kommt der Pummer daher und macht dem Vater Meldung, daß der Stadel abgebrannt is. Und die zwei sitzen da und raten hin und her, wer das Feuer g'legt haben kunnt, und i steh hinter der Tür und lach. Aber wie ich hereingeh, schaut mich der Wachtmeister an mit so an falschen Blick – und dann geht er zum Pfeifenständer und redt so herum von schönen alten Pfeifen und derwischt grad die, 148 die was ich mitgehabt hab auf der Jagd. Und jetzt seh ich erst, wie a Stückl abbrochen is. Na, da war mir's zu dumm, ich nehm ihm die Pfeifen weg – und er schaut mich wieder so an, wie die Katz an Vogel – Kruziteufel überanand, jetzt hab ich's gwußt – der spannt was.«

Die Mirzl hört voll Interesse zu. Ein Kampf der Schlauheit gegen Gewalt berührt immer verwandte Saiten in der Seele von Evas Töchtern.

»Und g'schnuppert hat er wie a Jagdhund – und ich denk grad, ob sich der Rauch nöt in meine Joppen einbissen hat, daß man's riechen kann, was ich tan hab, da kommt unsere Hanni mitn schwarzen Kaffee, und ich hab g'schaut, daß ich außi find.«

»Ja und was hast denn nacha tan mit der Pfeifen?«

»Zerschlagen hab ich's und die Scherben in Bach g'worfen. War mir leid gnug drum.«

»Na schön. Und was geht denn mich eigentlich die ganze G'schicht an? Wer sich a Suppen einbrockt, der soll's auch auslöffeln. 149

»Mirzl,« flüstert er heiser und sieht sie an mit den Augen eines bittenden Hundes, »du mußt mir helfen. Wenn's zum Gericht kommt und wenn's dich fragen, wo ich war in der Nacht, wie wir g'jagt haben, so sagst, ich war – – bei dir. Gilt's?«

Und er tastete wieder mit der Hand nach ihrem Nacken und wollte ihren Kopf zu sich herabziehen. Sie aber wand sich los:

»Na, Ferdl, das tu ich nöt. Das is a Todsünd, da gibt's ka Beicht und ka Lossprechung. An Meineid! Du heilige Mutter Gottes!«

Sie legte den Kopf auf den Arm und weinte. Der Ferdl stand hilflos.

»Dirndl, ich weiß mir kan andern Rat nöt. Wenn du mir nöt hilfst – denk nur, die Schand! Mein Vater überlebt's nöt, daß sie mich einsperren wie an gemeinen Verbrecher. Du lieber Gott, was is denn dabei, a bissel jagen – is a uraltes Bauernrecht, wenn's a nöt aufgschrieben is von dö Gstudierten in der Stadt. Mirzl, ich bitt dich um alles in der Welt – hilf mir.« 150

Sie hob den Kopf: »A Schand is für dich, wenn's dich einsperren, sagst? So, und was is denn nachher für mich, wenn die Leut mit Fingern auf mich zeigen und sagen: Zu der geht der Lux Ferdl jede Nacht, solang's ihn g'freut, und wenn's ihn nimmer g'freut, so laßt er sie sitzen? He? Na, Bubl, so kriegst mi nimmer dran wie damals am Kirchtag. So billig is die Mosermirzl nöt.«

Sie hatte sich heiß gesprochen. Ihre braunen Augen funkelten, und der dicke Zopf ringelte sich wie eine Schlange über den weißen Nacken. Wunderschön sah sie aus in ihrem Zorn; und noch dazu kroch in diesem Augenblick der Mond, der unverschämte alte Kuppler, zwischen den Wolken heraus und spiegelte sich in den blanken Tränen, die schwer und dick über die roten Wangen rollten.

Dem Burschen klopfte das Herz. Eine Empfindung von Reue kam über ihn, und gute Vorsätze für die Zukunft schossen in ihm auf wie Schwämme nach dem Gewitterregen. Nur diesmal loskommen – nur das einemal noch, dann wollte er nie mehr jagen gehen. – – 151

Und er bettelte weiter und weiter, obwohl das Mädel nichts mehr zu hören schien.

Aber sie hörte doch, und viel mehr als die bittenden Worte, die da zu ihr aufstiegen; sie hörte das Flügelrauschen des Glücks, das an ihr vorbeiflog, sie ahnte, daß sie jetzt die Entscheidung ihres Lebens in den Händen hielt.

Während der Ferdl, heiß und dumm wie alle verliebten Männer, ihre Hände streichelte, stieg vor ihren Augen der Luxhof auf; breit und behäbig lag er in der Morgensonne, Kühe brüllten im Stall, Tau funkelte auf den Wiesen, Getreide wogte im Wind – und über all das konnte sie Herrin sein, aus dem Vollen wirtschaften, wenn sie es klug anfing; da lohnte sich's schon ein bißchen zu lügen, auch vor Gericht.

Und dann sah sie plötzlich das kahle Zimmer des Wachtmeisters; sie hatte einmal von der Straße aus hineingeguckt, im Sommer, als die Fenster weit offen standen; die Mariann war mit ihr gegangen und hatte was geschwatzt von seinem männlichen Charakter und soldatischer Einfachheit. 152

Aber die Mirzl sah nichts als öde graue Wände, ein paar schlechte Photographien und eine alte Wanduhr.

Nein, sie hatte gar keine Sehnsucht nach soldatischer Einfachheit.

Und schließlich: vielleicht braucht man gar nicht zu schwören; man bekommt im richtigen Augenblick einen Weinkrampf, und der Richter wird doch nicht so grausam sein . . .

In einer Geschichte aus dem Waldviertler Bauernkalender, die ihr die Mariann erzählt hatte, stand sogar etwas von einer Frau, die vor Gericht ohnmächtig geworden war, als sie eine falsche Aussage machen sollte.

Das alles zog in verschwommenen Bildern durch ihren Sinn, während der Ferdl bettelte, der Mond schien und Donar mißvergnügt ob der Störung seiner Nachtruhe unter dem Bett knurrte.

Endlich verlor der Bursch die Geduld. Mit einem Ruck hob er den Kopf des Mädels empor und sagte: »Also Mirzl, jetzt frag ich dich zum letztenmal: Willst mir helfen oder nöt?« 153

Sie sah ihm fest ins Gesicht: »Das wird nur auf dich ankommen, mein Lieber. Wie du zu mir bist, so werd ich zu dir sein. Hast mich verstanden?«

Er nickte eifrig, obwohl er noch nicht recht die Tragweite seines Versprechens begriff. Sie schob ihn zum Fenster und öffnete den Flügel.

»Und jetzt geh so schnell, als du kannst. Ich glaub, im Zimmer vom Vatern rührt sich was.«

Und er ging. Sie zu küssen, wie er am liebsten getan hätte, wagte er nicht. Aber er griff mit ungeschickter Bewegung nach ihrer Hand und führte sie gegen seine Lippen.

»Laß die Dummheiten, Ferdl. Meine Hand kannst haben, aber zum Busseln nöt. Und jetzt vorwärts – marsch!«

Eine Minute später war sie allein. Donar kroch zu ihr und bot seinen Kopf wieder zum Fußschemel. Sie kraute ihm das warme Fell.

»Sag, war's recht so, Donar? War's so recht?«

Donar schüttelte sich und gähnte. Das konnte bedeuten: Ein närrisches Menschenkind kann mehr fragen, als zehn kluge Hunde beantworten können . . . 154

Das paßte der Mirzl nicht. Die alte Sehnsucht ihres Geschlechtes nach dem Wunderbaren verlangte irgendeinen Wink des Schicksals an dieser bedeutungsvollen Lebenswende.

Lange saß sie in Gedanken verloren. Dann sprang sie auf, ging zur Kommode mit den eingelegten Elfenbeinblumen und nahm ein in braunes Leder gebundenes Buch heraus. Auf dem stand in verschnörkelten Goldbuchstaben das Wort: »Poesie.«

Sie streifte mit dem Finger die Staubspuren ab und lächelte. Um dieses Buch schwebte ihr erster Kinderliebestraum; sieben Jahre war's her, da hatte der fünfzehnjährige Egon Winkler, der blasse dunkeläugige Gymnasiast, es ihr mit zitternden Händen überreicht, als Andenken an einen schönen, wunderlieblichen Sommer, voll von weißen, am tiefblauen Himmel ziehenden Wolken, voll von sehnsüchtigen Knabenträumen der ersten heimlichen Liebe . . . Der alte Winkler, ein Studienfreund des Pfarrers, brachte damals mit seiner Familie den Urlaub in Kasdorf zu, 155 wo sie beim Moserwirt wohnten. Die Mirzl war ein braunes rundliches Dirndlein von dreizehn, vierzehn Jahren, über ihr Alter entwickelt, taufrisch und mit einem aufgeworfenen roten Mund und dicken Zöpfen, deren einen sie gern nach vorne zog, um darauf mit ihren Mauszähnen zu beißen. Das stand ihr gut.

Die zwei sahen sich täglich und wurden gute, fröhliche Kameraden. Sie spielten Blindekuh und Topfschlagen mit den Dorfkindern unter den großen Linden, und wenn der Egon, trotz der Binde vor den Augen, immer wieder nach der Mirzl haschte, gab's einen großen Jubel. Aber einmal an einem sonnigen Nachmittag, es war just Mariä Geburt und der Mirzl ihr Namenstag, da schlüpften sie beide in die leere, feiertagsstille Kirche und schritten flüsternd und auf den Zehenspitzen von einem Kreuzwegbild zum anderen; die Mirzl zeigte ihrem jungen Freund voll Stolz den Moserschen Kirchenstuhl und das kleine bunte Glasfenster, das die Mutter gestiftet, und der Heilige Ägidius über dem 156 Hochaltar sah den beiden freundlich zu. Aber in der Marienkapelle war ein so traumhaftes Dämmerlicht, und der Weihrauchduft erfüllte die Luft mit so geheimnisvoller Süße, und die bemalte Holzstatue der Himmelsjungfrau sah so holdselig und lieb von ihrem Postament herab auf die beiden hernieder, daß der Bub seine dünnen Arme um den Hals des Mädels warf und ihre roten Wangen küßte – und als sie sich nicht wehrte, auch die zuckenden Lippen. Und der blaue Himmel der Kapelle mit den goldenen Sternen stürzte nicht zusammen über dem kleinen sündhaften Menschenpaar; nein, die Madonna lächelte fort und fort, und der Duft des Weihrauchs schien noch stärker zu werden . . .

Aber nach ein paar Tagen, als sie tränenreichen Abschied von ihrer ersten Liebe nahmen, gab er ihr das Album. Auf der ersten Seite hatte er mit ungelenker Knabenschrift gekritzelt: Das Leben ist ein Traum – träume glücklich. Und der Ehrgeiz des Mädels ruhte nicht, bis sie die Autogramme aller bedeutenden Persönlichkeiten 157 von Kasdorf nebst einer ungeheuren Menge von gutgemeinten Reimereien zwischen den beiden Deckeln hatte; so ward das Buch zum Schatzkästlein der Lebensweisheit und zum Orakel in allen wichtigen Fragen.

Lang war's her seit jenem Sommer; der Egon studierte irgendwo in Deutschland Polytechnikum, und die Mirzl hatte andere Küsse kennengelernt als die des unreifen, schüchternen Jungen. Nur das braune Buch mit dem Goldschnitt und der Aufschrift »Poesie« blieb der ruhende Pol im Wandel der Zeit und des Herzens.

Die Mirzl zog eine Haarnadel aus den dicken Flechten und steckte sie aufs Geratewohl zwischen die Blätter. Dann schlug sie das Buch auf und las beim Schein des Mondlichts:

Fliegt das Glück dir einmal,
    So fass' es beim Zipfel.
Auch rat' ich dir: bau dein Hüttchen im Tal
    Und nicht auf dem Gipfel.

Der leichtsinnige Pater Balduin hatte ihr das einmal hineingeschrieben. 158

Sie lächelte, sann vor sich hin und lächelte wieder, wenn sie an den Luxhof dachte mit den blitzenden Fenstern, breiten, behäbigen Scheunen und rundgefüttertem Viech.

Dann verwirrten sich ihre Gedanken.

Sie sank langsam auf das Bett und schlief ein.

Das aufgeschlagene Buch war von ihrem Schoß geglitten. Und wie der Mond am Fenster vorüberzog, malte er ein scharfes, blendend helles Viereck herum, und geheimnisvoll wie ein Schicksalsspruch starrten die schwarzen Buchstaben:

Fliegt das Glück dir einmal,
    So fass' es beim Zipfel . . . 159

 


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