Egid von Filek
Wachtmeister Pummer
Egid von Filek

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10.

Der Winter breitete seine weißen Decken über das Hochland; darunter schliefen die stillen Dörfer und guckten nur mit Kirchtürmen und roten Hausdächern ein wenig hervor, wie rosenwangige Kindergesichter, wenn sie Mutterhände sorglich zwischen die kühlen, weißen Bettkissen packen. Beim Herrn Oberlehrer war der Storch eingekehrt. Warm und glückselig lag die kleine runde Frau Rosel in ihrem Bett; längst hätte sie aufstehen sollen, aber der Gemahl redete ihr beständig zu, sich zu schonen. Er war sehr stolz auf sein Bubi, trug es in der Wohnung hin und her und hob es empor in seinen Geigenhimmel; es schrie und wollte nach den Instrumenten greifen. Sicher, der Bub wurde noch einmal ein großer Musikus! 208

Der Lux Ferdl hatte das Wetter richtig prophezeit. Ein schöner, schneereicher Winter; der Frost setzte erst dann ein, als die Saat schon ordentlich zugedeckt war, und bei der großen Stille der Luft vertrug man schon ein Dutzend Kältegrade. Im Pfarrhof wurde fleißig geprobt und musiziert; es ging schon recht gut, und man konnte die Veranstaltung einer Liedertafel für das Frühjahr in Aussicht nehmen. Und weil der Herr Oberlehrer, der sich nun auf der Höhe des Lebens fühlte, vormittags mit seinem Kindlein und nachmittags mit dem zweiten Sorgenkind, dem Männergesangs- und Orchesterverein, vollauf beschäftigt war, lag die Hauptarbeit in der Schule auf den schmalen, eingesunkenen Schultern des Herrn Gärtner. Der nahm geduldig alles auf sich und klagte niemals, mochte das Stechen in der Brust auch mitunter recht weh tun; nur abends, wenn er allein, ohne Licht in seinem Zimmer saß, da klang sein geliebtes Cello so süß und traurig durch das ganze Haus und sang so todesbange Melodien, wie man sagt, daß Schwäne singen, bevor sie sterben. 209

So war denn überall neues Leben unter den kalten Hüllen des Winters. Und eh man sich's versah, schrieb man den vierundzwanzigsten Dezember; es war ein heller, klarer Tag mit stahlblauem Himmel, weißglitzernden Häusern und einer wundervollen Schlittenbahn.

Der Pfarrer stand im warmen Pelz in der Haustür und sah zu, wie der Knecht das Pferd vor den Schlitten spannte. Die goldene Fassung seiner Brille funkelte im Sonnenlicht, und in dem breiten Gesicht mit den rotbraunen Wangen stand der Weihnachtssegen geschrieben: Friede auf Erden den Menschen, die eines guten Willens sind. Er hatte sein Brevier gebetet und sein gutes Frühstück zu sich genommen; die Schellen klingelten lustig, und die Mariann kam mit einem mächtigen Fußsack aus dem Haus und half den Herrn Onkel gehörig im Schlitten verstauen. Denn er wollte ins Stift fahren, sich sein Fassel Klosterwein für die Feiertage holen, ein wenig mit den Brüdern in Christo plaudern und abends zur Weihnachtsbescherung zurück sein. 210

Tipferl bellte laut und eindringlich an dem Schlitten hinauf. Aber es half ihm nichts. er durfte nicht mit.

Der Pfarrer sah nach dem ersten Stockwerk. Dort stand der Pater Balduin mit einem Buch in der Hand.

»Studieren Sie die Festpredigt, Herr Kaplan?« rief er. Droben klirrte das Fenster:

»Natürlich, Herr Pfarrer, natürlich. Ich bin mitten in der Arbeit. Aber Sie werden zufrieden sein. Sehr schön und eindrucksvoll wird sie, die Predigt.«

»Na, so ist's recht. Nur fleißig.« Befriedigt wandte sich der Pfarrer dem Knecht zu, der die mächtigen Flügel des Hoftores geöffnet hatte und nun auf den Bock stieg.

Der Kaplan schloß das Fenster und las in seinem Buch weiter. Es war ein Band Rosegger.

»Alles in Ordnung, Johann?«

»Wohl, wohl, Hochwürden.«

»Also in Gottes Namen los!«

Der Schlitten glitt durch das Tor, und die 211 Mariann kehrte, ihre kalten Hände reibend, ins Haus zurück. Sie lächelte dabei. Um die Weihnachtszeit lächeln wohl die meisten Menschen, alte und junge, in der heimlichen Vorfreude des Gebens und Nehmens; aber die Mariann lächelte in den letzten Wochen besonders oft und guckte dabei gern in einen Spiegel. Das hatte seinen triftigen Grund. Denn zum Erstaunen aller Bekannten waren seit einiger Zeit die garstigen schwarzen Zahnlücken verschwunden, und an ihrer Stelle blinkten schöne weiße Vorderzähne, so klein und niedlich, wie sie nur bei einem geschickten Zahnarzt wachsen. Und diese recht oft zu betrachten und sich daran zu freuen, erschien der Mariann als wohlverdiente Entschädigung für das viele Geld und die großen Schmerzen, die der neue Schmuck gekostet hatte, der ihren eingesunkenen Wangen und Lippen neue jugendliche Rundung verlieh.

So zog sie, leise vor sich hinsummend, wie ein vergnügter Kobold durch alle Räume des Hauses, in denen jener unbestimmbare Weihnachtsduft lag, gemischt aus Backwerk- und 212 Tannengeruch, heimlicher Gebefreudigkeit und ein wenig sentimentaler Erinnerung an vergangenes Kinderglück. In der Säulenhalle stand ein langer, weißgedeckter Tisch mit einem geputzten Christbäumchen; da wurden, altem Brauch zufolge, alljährlich zwölf Weberkinder gespeist und beschenkt, zwölf blutarme, durchsichtige, blasse Hausweberkinder aus den umliegenden Dörfern, denen ihre Väter in jahrelanger Mühsal nichts anderes weben konnten als das Hungertuch. Die Mariann ging um die Säule herum und musterte das Bäumchen von allen Seiten. Es war ihr noch immer nicht bunt genug mit all seinen Kerzchen, Silberketten, staniolumhüllten Bonbons und hausgebackenen Brezeln und Zuckerkringeln. Denn es fehlte das Wichtigste, ohne das ein Christbaum seinen Namen nicht verdient: die vergoldeten Nüsse. Ach, und in der Küche gab's noch so viel zu tun und zu richten für die Abendmahlzeit!

Da war es denn eine richtige Fügung des Herrn. daß eben in diesem Moment der Pater 213 Balduin zur Tür hereintrat, seinen Rosegger in der Hand. Er brach in Lobeserhebungen aus über den wunderschönen Christbaum.

»Ach Gott,« seufzte die Mariann, »es sind ja noch keine Nüsse drauf! Und ich hab' so viel Arbeit heut. Herr Kaplan, Sie helfen mir ein bissel, gelt ja? Dort in dem Papiersackerl sind die Nüsse, da ist Gummiwasser und Schaumgold – am Fensterbrett, ja. Es ist doch ein gottgefälliges Werk.«

Und sie rauschte hinaus mit ihrer weißen, steifgestärkten Hausschürze; der Pater Balduin legte seine Dorfsünden hin, murrte ein wenig, weil er an die schöne Arbeit über das Leben des Heiligen Augustinus dachte, die seit Monaten halbfertig in seinem Zimmer droben lag und nicht weiter kam – aber dann nahm er die Nüsse, steckte in jede einen halben Zahnstocher, tauchte sie in das Gummiwasser und vergoldete sie so geschickt oder ungeschickt, wie Männerfinger das eben zustandebringen.

Die Mariann gab in der Küche, wo die Töpfe auf der Herdplatte wie kleine Vulkane zischende 214 Dampfwölklein auspufften und die brennenden Holzscheite krachten, der Magd ein paar Befehle und stieg dann in ihr Erkerzimmerchen hinauf.

Mit Bedacht hatte sich die Mariann unter den vielen Räumen des weitläufigen Hauses gerade dieses Zimmer ausgesucht. Aus den kleinen Fenstern konnte man den ganzen Platz übersehen, ohne selbst gesehen zu werden, und die Mariann mußte doch wissen, was bei der Bassena los war, wer zum Kaufmann Kerzendocht ging, und wer in den Reisewagen saß, die selten genug durch das einsame Nest fuhren. Aber heute hatte sie keine Zeit zu stiller Beobachtung. Sie zog die oberste Lade ihres großen Schubkastens auf; auf der schönen, mit Rosenholz eingelegten Platte stand eine Flasche mit der Kreuzigung Christi, ein buntes, äußerst mühselig gezimmertes Kunstwerk – mußten doch alle die zahllosen Dinge, die zu einer Kreuzigungsgruppe gehören, mit langen Zangen durch den engen Hals eingebracht und drinnen erst zusammengesetzt werden; der Spender des Werkes war ein Vetter der Mariann, 215 ein Kunstschnitzer aus dem Böhmerwald, der ihr vor langen Jahren einmal hofiert hatte.

In der Lade aber, aus der ein Altjungfernduft emporstieg, Modergeruch und Lavendel zu gleichen Teilen gemengt, lagen die Geschenke für den Heiligen Abend.

Ein gestickter Tabakbeutel, dem guten Herrn Onkel bestimmt, warme Hausschuhe für den Pater Balduin, der dieses heilige Symbol des häuslichen Behagens auch schon zu schätzen wußte, und daneben noch ein längliches, schmales, viereckiges Ding, eine Zigarrentasche, mit langen, schwarzen Virginierzigarren prall gefüllt. Und der sie bekommen sollte, das war – der Wachtmeister Pummer.

Tief und breit ist die Kluft, die zwischen einem Wachtmeister und einer Pfarrhofwirtschafterin gähnt. Nicht nur der ewige Gegensatz zwischen Zivil und Militär, sondern auch eine Menge rein menschlicher Abgründe sind da zu überbrücken. Aber die heimliche Sehnsucht der Mariann überbrückte sie, und allerlei Dinge, lebende und tote 216 aus allen Reichen der Natur, hatten sich ihr dabei zur Hilfe angeboten.

Zunächst der Tipferl. Der lag immer zu den Füßen der Mariann zusammengerollt und schlief jenen Halbschlummer, den die Hunde so sehr lieben. Aber wenn seine feinen Ohren von der Straße her einen wohlbekannten Tritt vernahmen, oft schon aus weiter Ferne, da hob er den Kopf und sah mit seinen funkelnden schwarzen Augen die Herrin an; sie streichelte ihn, warf ihre Arbeit in den Nähkorb, strich die Schürze glatt und begab sich in den Garten, wo ihre Anwesenheit jedenfalls nötig war, denn sie beeilte sich sehr. In dem kleinen Vorgärtchen wuchsen Astern, wunderschöne dunkelblaue, violette, weinrote und weiße Astern zwischen den glitzernden Glaskugeln. Die waren der Stolz des Pfarrers und die Freude der Mariann; sie füllten zwei lange, schmale Beete und mußten sorgfältig gepflegt werden. Und jeden Abend um die Dämmerstunde, wenn bei Kerzendochts die Lichter aufglommen und die Leute nach des Tages Mühen ins Wirtshaus 217 strebten, verließ die Mariann ihren Beobachtungsposten im Erkerzimmer, und zur selben Zeit trappte des Wachtmeisters harter, gleichmäßiger Soldatentritt daher, wenn er vom Streifgang zurückkam. Da stand er still und guckte über den grünen Staketenzaun nach den freundlichen Blumensternen, die ihn an seine Kindheit erinnerten; Mutter hatte sie immer im Hausgärtchen gepflegt, und die stillen Kinder des Herbstes waren ihm damals schon lieber gewesen als Rosen und Nelken und das andere lustige Blütengesindel des Sommers. Und auf einmal tauchte zwischen den Büschen die Mariann auf, und über die blassen Phloxbüsche, gelben und roten Georginen und orangefarbigen Ringelblumen hinüber plauderten die beiden Herbstmenschen; der Wachtmeister erzählte von seiner Mutter und von den Taten des Vaters im bosnischen Feldzug, und die Mariann schnitt ihm die schönsten Astern zum Schmuck seines ernsten Uniformrockes ab.

Und ein Stein war da, ein mächtiger Granitwürfel, gerade unter dem vergitterten Fenster, 218 rotbraun und rissig wie ein verwittertes Greisengesicht, da konnten just zwei Menschen nebeneinander sitzen, wenn sie ein wenig zusammenrückten.

Damals ging ein wunderschöner Herbst über das Land, mit tiefblauem Himmel und feuergoldfarbigen Laubwäldern, der drüben im Donauland die Reben segnete und die ausgelassen fröhliche Stimmung der jauchzenden Weinlese mit dem würzigen Duft bis in das ernstere Hochland im Norden der Donau hinauftrug. Da war es immer so nett auf der langen Kegelbahn im Pfarrhof, und Herr Pummer, der ein für allemal eingeladen war, kam regelmäßig hin, schob mit dem geistlichen Herrn, der Mariann, dem Oberlehrer und der langen Koppensteiner Kegel, und die Mariann freute sich, wenn er alle Neune durcheinanderwarf, daß der König nur so emporsprang und der Kegelbub jauchzte. Und wenn die Partie zu Ende war, saß man noch ein Weilchen in dem hübschen Bretterhaus, vom wilden Wein umwuchert, an den milden Abenden bei Windlichtern und Bier beisammen, und die 219 Mariann wußte es schon so einzurichten, daß sie neben Herrn Pummer zu sitzen kam.

Und später, als es beim Aveläuten schon ganz finster war und das Gärtchen sich zum Winterschlaf rüstete, kam der Wachtmeister aus alter Gewohnheit dennoch oft um die gleiche Stunde für eine Weile in den Pfarrhof, und die Mariann zeigte ihm die Blumensamen, die sie fürs nächste Jahr gezogen, und man kam noch auf dies und das und klatschte ein wenig über die lieben Nachbarn. Nur von der Mosermirzl wurde wie auf Verabredung niemals gesprochen, als sollte diese Episode aus dem Leben der beiden für immer ausgelöscht sein.

Damals hatte die Mariann auch den großen Entschluß gefaßt, ihr lückenhaftes Gebiß einem Zahnarzt in der Stadt anzuvertrauen. Schwer genug war es ihr geworden, und der Pfarrer und der Kaplan hatten noch gespöttelt darüber. So sind die Männer!

Und an einem Winterabend setzte sich die Mariann hin und begann etwas zu sticken. 220

Etwas sehr Kunstvolles und Wunderschönes. Silberne Perlen bildeten den Hintergrund, stahlblaue formten sich zu einem Anker mit unwahrscheinlich gewaltigen Zacken, goldene zum Kreuz und grellrote zum brennenden Herzen.

O, es war mehr als ein frommes Symbol, was sie da an leisen Wünschen zwischen die Perlen hineingestickt, an Glaube an das ewig entschwindende Glück, das so schwer zu fassen ist, an Liebe und an Hoffnung!

Aber gut Ding braucht Geduld. Ach, und die Mariann hatte viel Geduld gelernt in ihrem Leben. Gestern hatte sie ihm das Versprechen abgenommen, der Bescherung der Weberkinder am Heiligabend beizuwohnen. Sie wußte ja, wie gut er zu Kindern war. Und die leuchtenden Christbaumkerzen, die hellen Gesichter der Kleinen, das Weihnachtslied und der Duft der Tanne – die Situation zur Überreichung des kleinen Geschenkes war gut gewählt.

Während so die Mariann in froher Geberlaune ihre Vorbereitungen zur Bescherung traf, fuhr 221 der Herr Pfarrer dem schlanken grauen Stiftsturm entgegen, der sich im hellen Sonnenlicht wunderschön von den weißen Schneehalden abhob. Sanft schwollen zu beiden Seiten die Höhenrücken empor. »Sankt Benedikt liebt die Berge, Dominikus die Städte, Sankt Bernhard die Täler,« so lautet ein alter Klosterspruch. Zwischen ehrfurchtsvoll grüßenden Landleuten, an altersgrauen Heiligen aus Sandstein vorüber glitt der Schlitten in den inneren Hof; da stand schon Seine Gnaden der Herr Prälat mit der schweren goldenen Kette und winkte grüßend mit der Hand, freundlich und doch ein wenig herablassend, wie es sich schickt für einen Kirchenfürsten. Und um ihn herum standen ein paar der ausgezeichnetsten Jünger des Heiligen Bernhard in ihrer kleidsamen Zisterzienserordenstracht, dem weißen, lang herabwallenden Habit, mit schwarzem Skapulier und Zingulum, daß es aussah wie ein großes Kreuz auf weißem Grund, dessen Querbalken allerdings bei den meisten Herren eine starke Wölbung aufwies und 222 Zeugnis von der Trefflichkeit der Klosterküche gab. Die lag im Erdgeschoß und stand unter der Leitung von etlichen Nonnen, die für das leidliche Wohlergehen der Brüder des Heiligen Bernhard sorgten. Auch der frömmste Konvent kann nun einmal nicht bestehen ohne das Walten des andern Geschlechts.

Es waren ehrenfeste, etwas derb angelegte Männer, die da im Hofstaat des Herrn Prälaten wirkten zur größeren Ehre Gottes und zur Mehrung seiner Güter. Reifes Lebensalter und das Zusammensein im beschränkten Kreis hatten einen gewissen trockenen Humor über sie gebreitet; sie dienten ihrem Gott in praktischer Arbeit, und tiefes, weltentrücktes Sinnen ob der heiligen Geheimnisse lag ihnen fern.

Wer nicht in der Seelsorge auf einer der weit im Land verstreuten Pfarreien tätig war, hatte im Stift sein genau umgrenztes Amt. Da war der Pater Benedikt, Bibliothekar und Verwalter der Schatzkammer, mit roten Wangen und funkelnden schwarzen Augen, der schrieb fleißig in 223 Kunstzeitschriften über die Bücherschätze des Klosters und seine Baugeschichte; der lange Pater Franz, der wie ein Waldbaum aussah mit seiner hageren Stangenfigur und dem verwitterten, luftgebräunten Gesicht, war Forstmeister und zugleich Oberverwalter der Ökonomie. Pater Bernhard mit den gutmütigen, hinter goldenen Brillen ängstlich hin und her blickenden Augen war Kellermeister, Küchenchef und Kämmerer; der Novizenmeister hielt die jungen Kleriker in strenger Zucht, die sich in der ersten Zeit nicht recht in das Stiftsleben fügen mochten; er sah ihnen nicht die kleinste Abweichung von der Ordensregel nach. »Der Student muß heraus aus der Kutte, der Ordensmann hinein,« war seine Redensart. Auch die Verwaltung des Stiftsvermögens lag auf seinen breiten Schultern.

So war das Stück Leben, das jene Jahrhunderte alten Mauern umschlossen, heute wie in grauen Tagen ein gerüttelt Maß von kleinen und größeren Pflichten, ohne Hast und nutzlose Aufregung, aber auch weit, sehr weit entfernt 224 von fromm-beschaulichem Nichtstun. Nur der alte Pater Hadmar, den seine fünfundsiebzig Lebensjahre schon ein wenig kindisch machten, konnte beim besten Willen nichts mehr leisten und erwartete als Ausgedinger im Schatten des Heiligtums seinen gottseligen Tod. Er saß die meiste Zeit droben in seiner Zelle und kam nur herunter, wenn es was zu essen gab.

Die Herren hatten unter dem Vorsitz des Prälaten im Kellerstübel ein Gabelfrühstück zu sich genommen und traten nun auf den beschneiten Hof hinaus, als der Schlitten des Kasdorfer Mitbruders angeklingelt kam.

»Brr, wie mich friert,« sagte der Pfarrer nach Erledigung der Begrüßungszeremonien. »Gibt's im Refektorium schon Fischsuppe?«

Ja, die gab's. Auf der schmalen Tafel stand ein erfreulicher Imbiß. Lang und schlank ragten die braunen Flaschen mit edlem Nußberger empor, vom besten Weingut des Klosters in Nußdorf bei Wien, wo sich die Reben in den Fluten der Donau spiegelten. 225

Aber es war nicht so behaglich wie sonst an jenem heiligen Tag. Der Abt legte sein kluges. braunes Gesicht in ernsthafte Falten.

»Wißt ihr, Brüder,« sagte er mit gedämpfter Stimme, »daß es da draußen in der politischen Welt gar nicht gut steht? Es riecht nach Pulver . . .«

Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Ja, man hatte hier und dort auch schon dergleichen munkeln gehört. Der Balkankrieg war längst vorüber, aber es wollte nicht ruhig werden in dem alten Europa. Der Abt war vor wenigen Tagen in Wien gewesen und hatte einen sehr vornehmen, sehr einflußreichen und sehr reaktionären Politiker gesprochen, der dem Auswärtigen Amt nahestand. Was der Mann sagte, klang mehr als bedenklich. Und die Bankgewaltigen, mit denen er ein Finanzgeschäft für das Kloster abgeschlossen, bestätigten alles; das Geld habe sich scheu verkrochen, auf dem ganzen erwerbenden Volk laste ein unerklärlicher Druck von Angst und Sorge; bombensichere 226 Aktien würden übereilt verkauft, die Staatsrente sinke von Woche zu Woche immer tiefer, und die Zensur der Zeitungen sei nie so scharf gewesen.

Dem Pfarrer mundete der Nußberger nicht mehr. Er meinte zweifelnd:

»Ach, es hat schon so oft geheißen, daß ein Krieg kommt. Und das Gewitter ist immer wieder an uns vorübergegangen, der Herr sei gepriesen dafür.«

Der Abt hob die Achseln: »Aber diesmal soll es besonders arg stehen. Und wir schicken fort und fort Truppen an die Grenze – nach Rußland, nach Serbien und Gott weiß wohin. Nein, nein, diesmal geht's nicht vorüber. Und die nächsten Weihnachten werden sehr traurig sein, fürchte ich.«

Der alte Hadmar wackelte mit dem graugelockten Kopf.

»Aber ich sag' euch, es wird wieder nichts draus – es wird wieder nichts draus . . .«

Er langte mit zitternden Fingern nach dem Weinglas. Die anderen schwiegen nachdenklich; 227 in dem feisten Rotgesicht des Pater Benedikt stiegen Sorgenfalten auf wie Gewittergewölk. An seine Schwestern in Wien mußte er denken; vor drei, vier Jahren hatten sie geheiratet, Kinder waren auch schon da – wenn die jungen Ehemänner ins Feld mußten! Der Kämmerer hatte ein paar Neffen, stramme Burschen von Zwanzig, Zweiundzwanzig; die kamen sicher dran. Auch dem Pater Wirtschaftsdirektor war unbehaglich zumut. Er besaß zwar keine Verwandten im militärpflichtigen Alter; aber was sollte aus der Ökonomie werden, wenn sie die schönen teuren Pferde assentierten, die Getreidevorräte sperrten, die vielen Knechte und Forstleute zu den Waffen riefen! Wenn Mißernte kam und Cholera, so wie Anno Sechsundsechzig, und Typhus und Hungersnot – Heiliger Bernhard. bitt' für uns!

Graue Haare hatten sie alle, die sich von der Welt losgesagt und im Gottesfrieden der Klosterpflicht neuen Wirkungskreis gefunden; und doch fühlten sie, daß sie noch immer mit 228 starken Ketten am Leben hingen, am heißen, lauten Leben!

Die jungen Novizen am Katzentisch bekamen rote Köpfe. Es waren Bauernsöhne aus der Umgebung. Strohblond, ungelenk, mit eckigen, harten Gesichtern. Sie horchten auf. Mitreden durften sie nicht. Aber es war wie der Widerschein von Flammen in ihrem Innern – was Klosterzucht und Gelübde! Heraus aus der Kutte, mit einem wilden Sprung dahin, wo Lust und Kampf und Sieg war! Uralte Mächte regten sich und rasselten zornig mit ihren Ketten; Mächte der Jugend und des Lebens, vielleicht auch der Zerstörung, von Ewigkeit her schlummernd in der tiefsten Brust, und jetzt beschworen durch das wilde Zauberwort: Krieg!

Links von der Tafel stand ein Thronsessel, schönes vergoldetes Holzschnitzwerk aus dem sechzehnten Jahrhundert; ein Adler trug auf ausgebreiteten Flügeln das Lesepult. Der Pater Bernhard stieg die Stufen hinauf, um nach der Ordensregel aus der Heiligen Schrift zu lesen. 229

Das sechste Kapitel der Offenbarung Johannis:

»Und ich sah ein falbes Roß, und der darauf saß, heißt Tod, und das Totenreich folgte ihm nach; und es ward ihm die Macht gegeben über viel Teile des Landes, zu töten durch Schwert, durch Hunger und Pest und die wilden Tiere. Und ich sah die Seelen derjenigen, die getötet worden waren um des Wortes Gottes willen. Und es ward ihnen gesagt, daß sie noch eine kurze Zeit ruhen sollten, bis die Zahl ihrer Brüder erfüllt würde, die auch getötet werden sollten. Und ich sah, wie er das sechste Siegel öffnete, und es ward ein großes Erdbeben, die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack und der Mond wie Blut; und die Steine fielen vom Himmel auf die Erde, wie der Feigenbaum seine unreifen Feigen abwirft, wenn er vom Sturm bewegt wird. Und der Himmel wich zurück wie ein Buch, das man zusammenrollt, und die Könige der Erde und die Fürsten und Mächtigen und Heerführer verbargen sich in den Höhlen der Berge und sprachen zu den Felsen. Fallet über uns, 230 und bedecket uns vor dem Angesicht dessen, der auf dem Throne sitzt; denn es ist angebrochen der große Tag des Zornes, und wer kann da bestehen?«

Der Abt winkte ab.

Alle standen im Bann dieser Worte, die wie gepanzerte Männer einherschritten, deren heimlich drohendes Waffenklirren mitten in ihre Behaglichkeit klang.

Der Abt seufzte . . . 231

 


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