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Irgendwo auf der flachwelligen Hochebene zwischen der Donau und dem Böhmerwald, wo die braunen Felsen aus den Äckern wachsen und der Winter manchmal so bald kommt, daß die Bauern ihren Hafer in Pelzhandschuhen schneiden müssen, liegt der große Marktflecken Kasdorf.
Die Landschaft heißt das Waldviertel und ist wegen ihres Mangels an Kaffeehäusern von der modernen Literatur noch nicht entdeckt. Auf ihren braunen Gewässern, in denen sich die Forellen sonnen, schaukelt noch hier und da eine einsame Fähre, Burgruinen träumen auf steilen Uferfelsen in einen hellblauen Himmel hinein, und die Wipfel der Tannen rauschen auf und nieder wie ein dunkelgrünes Meer. Ein herber 6 Harzduft geht von den Wäldern aus, der weit ins Land hineindringt und noch droben auf den wogenden Getreidefeldern zu spüren ist. Dieser Duft ist die Seele der Landschaft, und wer ihn einmal mit durstigen Nüstern eingesogen, vergißt ihn nimmer und sehnt sich manchmal in der verdorbenen Luft der Städte und Niederungen nach seiner stählenden Frische. Aber wenige kennen ihn. Die flachen Hänge eignen sich nicht zum Ski- und Rodelsport und die Wirtshäuser schon gar nicht zur Fremdenpension, so daß jene Gegend zu keiner Jahreszeit namhaften Besuch von auswärts empfängt.
Wenn die Kasdorfer, was selten genug geschieht, zur nächsten Bahnstation wollen, so müssen sie gute drei Stunden zu Fuß wandern, und auf der schlechten, steinigen Straße kommt man mit dem landesüblichen federlosen Zeiselwagen auch nicht viel früher hin. Vor hundert Jahren, als es noch keine Eisenbahn gab und die breite Heerstraße mitten durch das Waldviertel der einzige Weg zwischen dem leichtsinnigen Wien und dem 7 hunderttürmigen Prag war, rollte dort viel Fuhrwerk hin und her, und vornehme Herren, denen die Dukaten locker in der Tasche saßen, sprengten auf schönen Pferden dahin, gefolgt von Bedienten und Reitknecht, da blieb manch schönes Stück Geld in den Händen der Wirte, Kaufleute und sonstiger Ortsgewalten, und mancher mächtige Einkehrgasthof mit gewölbter Toreinfahrt, mit plastischem Deckenschmuck von Stuck und Schnitzwerk, mit alten gemütlichen Kirschholzmöbeln und Urväterhausrat ragt noch heute in eine geschmacklose Gegenwart hinein. Aber die Straße ist verwahrlost und voll von Löchern und Steinen, denn der große Verkehr von Land zu Land rollt jetzt auf anderen Wegen dahin, und die Obrigkeit sieht es nicht einmal gern, wenn sich durch allzu leichtes Hin und Her das Weltgift der großen Städte im unschuldigen Landvolk verbreitet.
Wie fast alle größeren Ortschaften im Waldviertel, besitzt auch Kasdorf einen Marktplatz mit einer verwitterten Prangersäule, auf der eine unleserliche Jahreszahl steht. Ebensowenig fehlt 8 die landesübliche Dreieinigkeit von Kirche, Schule und Wirtshaus; und genau in der Mitte des von diesen Staatsnotwendigkeiten gebildeten Dreiecks liegt ein großes steinernes Bassin, im Volksmund »die Bassena« genannt, aus dem sich die Statue des Heiligen Florian erhebt. Angetan mit einem waschblauen Mantel mit zinnoberroter Verbrämung, schüttet er unentwegt aus einem Kübel irgendeine teigige Masse auf ein kleines Häuschen, dessen Dach mit einem grellroten Hahnenkamm verziert ist. Die Kasdorfer sind auf ihren Heiligen sehr stolz und lassen seine Gewandverbrämung und den Hahnenkamm jedes zweite Jahr frisch überstreichen. Eine eiserne Röhre zu Füßen der Statue sprudelt beständig frisches Wasser in das Steinbecken.
Rund um die Bassena stehen vier oder fünf alte, mächtige Lindenbäume; wenn der Wind in ihren Kronen wühlt und Sankt Florian aus ernsten Steinaugen auf die rotröckigen, plappernden Mägde mit ihren Kübeln und Krügen niederschaut, wenn der Brunnen rauscht und 9 die Lindenblüten duften, ist's ein Bild aus selig-stiller Großvaterzeit.
Hier ist die City, der Ring, die Straße Unter den Linden von Kasdorf. Ein uraltes Haus mit vorspringenden Erkern enthält einen geräumigen Kaufmannsladen, über dessen Türen in metergroßen schwarzen Buchstaben die Firma »Adalbert Kerzendocht« angebracht ist. Hier kann man kaufen, was das Herz sich wünscht, was der Sinn begehrt: Zucker und Kaffee, Kurz-, Schnitt- und Materialwaren, Sensen, Sicheln, Sägeblätter, Rauch-, Schnupf- und Kautabak, Briefmarken und Gebetbücher, Lutschbonbons und Ansichtskarten, Kattunstoffe und Spazierstöcke, Briefpapier und Peitschenstiele: alles breitet der gefällige Ladenjüngling mit seinen großen roten Seehundsflossen vor uns aus. Denn die Firma Kerzendocht, vor mehr als hundert Jahren begründet, genießt in der ganzen Umgebung den besten Ruf.
Nicht weit von ihr ist die Gendarmeriewachtstube, wo zwei Gendarmen und ein Wachtmeister 10 nach Vorschrift für die Ruhe und Sicherheit sorgen und dabei große Mengen jenes dünnen, hellgelben Waldviertler Bieres vertilgen, das wegen seines harmlosen Charakters als Fensterschwitz bezeichnet wird.
Dem Hause Kerzendocht gegenüber liegt das Moserwirtshaus, dessen Ruf ebenso fest begründet ist. Oleanderbäumchen in grünen Kübeln stehen rechts und links von dem stattlichen Eingangstor, über dem ein sonderbares Tier prangt, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Löwen besitzt; es kann aber auch ein Pudel oder ein Stier sein. Unweit des Gasthofes liegt die Kirche, die nach der Annahme des Herrn Oberlehrers aus dem fünfzehnten, nach jener des Herrn Pfarrers aus dem vierzehnten Jahrhundert stammt; auf ihrem Dach dreht sich ein Hahn mit abgebrochenem Schwanz und kreischt in seinen rostigen Angeln beinahe wie ein wirklicher Gockel.
Als Leute von Bildung wollen wir auch dem Volksschulgebäude einen Blick schenken, obwohl es sich wirklich nicht lohnt; es gleicht einer großen 11 Schachtel mit Ölanstrich, um den der Oberlehrer bei dem geizigen Ortsschulrat sehr lange hat betteln müssen; aus den Fensterlöchern dieser Schachtel klingen Tag für Tag mehr oder minder lieblicher Kindergesang und deklamatorische Übungen mit jener kräftigen Betonung der Endsilben, wie sie in Volksschulen üblich ist. Ein Oberlehrer, ein Lehrer und eine ältere Jungfrau namens Theresia Koppensteiner, »weiblicher Handarbeit kundig, geschätzt zehn Rinder an Werte«, wie Vater Homeros gesagt hätte, bemühen sich hier um die harte Aufgabe, aus einer Horde von stumpfsinnig glotzenden, zum Teil bloßfüßigen und unsauberen Buben und Mädchen so etwas wie kultivierte Menschen zu machen.
Erfreulicher ist der Anblick des Pfarrhofes; er ist ein kleiner Herrensitz aus dem achtzehnten Jahrhundert, vom Stift gekauft und seinem frommen Zweck entsprechend umgestaltet. Einer Burg vergleichbar, liegt er ein wenig abseits von der Kirche an der breiten Straße, die mitten durch den Ort führt; dicke Mauern mit kleinen 12 Gitterfenstern umschließen ihn, und ein turmartiger Vorbau ragt auf der Straßenseite, als lohne es sich wirklich, die kleinen Blumenbeete des zierlichen Vorgärtchens mit Astern, Georginen und Rosenbüschen zu verteidigen, zwischen denen bunte Glaskugeln im Sonnenlicht glitzern wie Edelsteine. Dieser Erker enthält das Zimmerchen der Mariann, einer Jungfrau in den besten Jahren, die dem Herrn Pfarrer die Wirtschaft führt, und deren Verdienst es ist, daß die Blumen alle so wunderschön blühen und gedeihen. Durch ein gewaltiges eisenbeschlagenes Tor mit riesigen Angeln, das donnernd hinter uns zufällt, treten wir in den Hof; zur Rechten sind Scheunen und Ställe, links aber hebt sich das Herrschaftsgebäude mit Prunkzimmern und einer Wandelbahn mit großen rundbogigen Glasfenstern, hinter denen der Herr Kaplan immer auf und ab geht, wenn er das Mittagsmahl verdauen oder die Predigt studieren will. Auch eine Sonnenuhr ist da, mit bunten pausbackigen Engeln und der Aufschrift: Me sol vos umbra regit – mich regiert das Licht 13 und euch das Dunkel. Es soll aber keine Anspielung auf die politische Gesinnung der Pfarrhofbewohner sein.
Dieses wären also die gesamten Merkwürdigkeiten von Kasdorf. Sie waren, wie gesagt, bisher nicht imstande, einen Fremdenverkehr ins Leben zu rufen; aber die Kasdorfer machen sich nichts daraus. Es sind im allgemeinen ruhige, besonnene und Neuerungen abholde Leutchen, die nur einmal im Jahr, beim Kirchweihfest, über die Schnur hauen; dann aber so gründlich, daß das ganze Nest vom Bürgermeister bis zum Nachtwächter drei Tage lang betrunken ist. Wenn sie dann ihren Rausch ausgeschlafen haben, so fließt das Leben wieder in agrarischer Beschaulichkeit dahin, und der böse Geist der Empörung und Auflehnung gegen die Obrigkeit, der draußen in der Welt umgeht, vermag nichts wider sie.
Aber die Kultur, die alle Welt beleckt, kam eines Tages auf ihrer Reise um den Erdball auch nach Kasdorf, und zwar auf den Schwingen des Herrn Wasservogel. 14
Der Herr Wasservogel war ein reisender Bücheragent und bemühte sich nach Kräften, seine Ware im Waldviertel abzusetzen, teils aus Ehrfurcht vor der deutschen Literatur, teils wegen der dreißig Prozent, die er kontraktmäßig von jedem verkauften Buch erhielt. Aber trotzdem er immer nur »vom Guten das Beste« in seiner geheimnisvollen schwarzen Ledertasche führte, die interessantesten Detektivgeschichten, hochspannende politische Intrigenromane und knallbunt illustrierte Lieferungswerke, war kein rechtes Geschäft zu machen. Denn die literarischen Bedürfnisse von Kasdorf und Umgebung wurden durch die in den Familien vererbten Gebetbücher und durch den »Waldviertler Bauernkalender« vollkommen befriedigt, und außerdem lag doch beim Moserwirt eine Zeitung auf. So kam er kaum auf seine Spesen, wenn auch hier und da eine von den Dorfschönen einen »Briefsteller für alle Stände« oder ein echt »Ägyptisches Traumbuch« kaufte, oder gar die zahnluckete Fräuln Mariann die Geschichte vom Kaiser Joseph und dem schönen 15 Blumenmädchen; und selbst die mußte sie vorm geistlichen Herrn verstecken.
Herr Wasservogel saß also ziemlich trübsinnig im Schankzimmer beim Moserwirt, hatte neben sich die gefüllte Büchertasche und vor sich ein halb geleertes Glas Bier und dachte nicht sehr freundlich von den Kasdorfern, als die Tür aufging und der Herr Gendarmeriewachtmeister Pummer hereintrat.
Seinem Rang hätte natürlich ein Platz im Extrazimmer gebührt. Aber dort war es noch wüst und leer; die lange Tafel nicht gedeckt, die Stühle im wirren Durcheinander; die Honoratioren kamen erst nach dem Aveläuten. Darum nahm der Wachtmeister mit herablassendem Gruß am Tisch des Herrn Wasservogel Platz, der aus Verdruß und Langweile in einer illustrierten Sherlock-Holmes-Serie blätterte.
»Was derf i bringen, Herr Kommandant?« fragte zutraulich die mollige Wirtstochter Mirzl.
»A Krügl Wittingauer,« bestellte der Gast und zündete sich eine lange dunkelbraune 16 Virginierzigarre an. Rattenschwanz nennt man das Ding im Waldviertel. Behaglich blies er den blauen Rauch von sich und sah dabei aus dem Fenster, am Helm des Heiligen Florian vorüber zur Firma Adalbert Kerzendocht, mit seinem ruhigen, kerzengeraden Soldatenblick, der immer ins Zentrum traf. Er war ein hübscher Mensch, der Wachtmeister; nicht alt und nicht jung, mit schwarzen, funkelnden Augen, aufgezwirbeltem Schnurrbart, breiten Schultern und einem Stiernacken.
Die Mirzl spülte das Glas im Wasserschaff aus. Sorglich glitten ihre runden Finger über den geschliffenen Rand, der keinen einzigen Sprung, keine ausgesprengte Stelle aufwies. Selbst so tote und dumme Dinge wie Trinkgläser bedürfen der Pflege und zeigen schon von weitem, ob sie einem bezahlten Schankburschen oder den Händen einer Haustochter anvertraut sind. Und des Wachtmeisters Glas war ein schönes Stammkrügel, mit den Anfangsbuchstaben seines Namens, einem kunstvoll verschlungenen F. P., mit militärischen Sinnbildern und dem Bild des Kaisers geschmückt. 17
Die Mirzl sorgte treu und verständig für das leibliche Wohl des Herrn Pummer; die Kost, die er für wenig Geld beim Moser bekam, hätte sogar einem verwöhnten Ehemann geschmeckt. Und da der Weg zum Magen am Herzen vorüberführt, so hatte sich im Lauf der Zeit zwischen den beiden eine stumme Zuneigung herausgebildet. Die Mirzl ärgerte sich ein bißchen, daß ein Fremder im Lokal war; da konnte Herr Pummer sie doch nicht um die Mitte nehmen, wie er gern tat, wenn er guter Laune war. Aber weiter ging er nie; als höhere Militärperson mußte man das Dekorum wahren.
Den bescheiden in die Ecke gedrückten Zivilisten sah er gar nicht an, beschäftigte sich dafür desto angelegentlicher mit seiner Zigarre. Das Ding wollte nicht recht brennen. Ärgerlich brach er das kohlende Ende ab.
Über dem Lokal lag die ganze träge Langweile eines leeren Landwirtshauses. Von dem zur Hälfte mit saurem Bier gefüllten Fliegenglas am Fensterbrett klang das Summen der gefangenen 18 Tiere; der scharfe Pendelschlag der alten Schwarzwälderuhr hackte die Zeit in kleine Stücke, daß sie noch langsamer verging als sonst. Donar, der zottige Hüter des Hauses, hatte seinen riesigen Kopf auf die Vorderpfoten gelegt und schlief; er stellte eine Mischung von Leonberger und Bernhardiner dar und erregte häufig das Mißfallen des Herrn Pfarrers, des heidnischen Namens wegen. Ein säuerlicher Weindunst lag in der Luft.
»So,« sagte die Mirzl und stellte das gut gemessene Krügel auf den Tisch, mitten zwischen die vielen Ringe, die die scharfen Ränder der Weinstutzen auf der grünlackierten Platte zurückgelassen hatten.
Daß doch so viele Lebensschicksale in den zarten Händen der Frauen ruhen!
Hätte die Mirzl nach alter Gewohnheit dem Wachtmeister das Glas gerade vor die Nase gesetzt, so hätte der es ruhig ausgetrunken, dem Mädel ein paar Artigkeiten gesagt und das Lokal verlassen, und niemand wüßte heute etwas vom Fall Pummer. 19
Aber die rundliche Mirzl, die selber mit neugierigen Stielaugen nach den grünen Heften schielte, stellte das Bier so nahe an sie heran, daß der Blick des Gendarmen sich just an dem Holzschnitt verfing, der die Gefangennahme des indischen Juwelendiebes durch den berühmten Detektiv darstellte. Und dadurch erst wurde sein Berufsinteresse wach; denn Herr Pummer blickte immer nur geradeaus vor sich hin, und was hinterrücks und zur Seite geschah, das kümmerte ihn nicht.
Mit Vergnügen bemerkte Herr Wasservogel die Wirkung seiner Ware und las nun erst recht eifrig weiter. Dann verließ er für eine Minute das Schankzimmer und hatte die Genugtuung, beim Eintreten das Heft in den Händen des Wachtmeisters zu sehen, während die Mirzl mit langem Hals über seine Schulter den groben Holzschnitt anstarrte. Herr Pummer wollte das Büchlein mit einer Entschuldigung weglegen. Das war aber gar nicht nach dem Sinn Wasservogels.
»Bitte, bitte, lesen Sie nur weiter, Herr Wachtmeister. Das Ansehen kostet ja nichts. Es ist 20 eines der merkwürdigsten Bücher meiner Musterkollektion. Ich habe auch noch die Geschichte von der Napoleonsbüste da – und vom Hund von Baskerville – und von der englischen Königskrone . . .«
Herr Pummer las und las. Und die Mirzl las mit und legte dabei vertraulich die Hand auf seine Achsel. Tiefe Stille ringsum – nur die kräftigen Atemzüge des Wachtmeisters und die leisen des Mädchens und das geschwätzige Ticken der Uhr. Herr Wasservogel, der ein Geschäft im Werden sah, saß regungslos wie ein Angelfischer.
Die Geschichte des indischen Juwelendiebs war zu Ende, und mit einem tiefen Seufzer wollte Herr Pummer in die Wirklichkeit zurückkehren. Aber Wasservogel holte ein paar neue Hefte aus seiner Tasche:
»Bitte sehr, hier ist die Erzählung von den tanzenden Männchen. Noch viel spannender, meine Herrschaften . . .«
Der Wachtmeister streckte die Hand aus und schob die grünen Hefte von sich wie Cäsar die Krone – erst rasch, dann immer langsamer. 21
»Na, na, das geht nöt . . .«
»O ja, es geht doch,« lächelte Herr Wasservogel. Und es ging wirklich, ganz leicht sogar – denn im Handumdrehen war Herr Pummer auf dreiundvierzig Lieferungen abonniert, spottbillig, zahlbar in kleinen Monatsraten. Zehn Hefte händigte ihm der Agent sofort ein, die anderen sollten in den nächsten Tagen geschickt werden.
Der Wachtmeister stemmte die Ellbogen auf den Tisch, legte den Kopf in die Hände und las mit glühenden Wangen. Erst sah er noch manchmal nach rechts und links; aber dann versank die Welt um ihn, diese ganze erbärmliche, von Bier und Küchendunst umwitterte Welt, in der er seit Jahren daheim war. Herr Wasservogel machte, daß er auf sein Zimmer kam, als fürchte er, den Kunden könnte der Handel gereuen. Die rundliche Mirzl, die von der ungewohnten geistigen Anstrengung des Lesens Kopfweh bekam, zog sich seufzend ob der schmählichen Vernachlässigung hinter ihre Schankpudel zurück und klirrte heftig mit den Gläsern. Dann brachte sie das 22 Extrazimmer in Ordnung, zündete die Lampe über dem Tisch des Wachtmeisters an und schlug ihn freundschaftlich auf die Schulter. Aber auch das war umsonst.
Draußen klang das Aveglöckchen, und gleich danach begann sich die Stube mit Gästen zu füllen. Es war Samstag, und da verlangte es die Sitte, daß man ein Stündchen mit den Nachbarn verplauderte. Das Korn stand schon schnittreif auf den Feldern, und die Ernteaussichten boten reichlichen Gesprächstoff. Gähnend schlurfte der Moserwirt auf seinen Hauspantoffeln herein und zog bei jedem Schritt einen nassen Gedankenstrich; er mußte draußen in der Küche in eine Lache getreten sein. Er sah erstaunt den in sein Buch vertieften Wachtmeister in der Ecke sitzen, rückte seine schäbige schwarze Samtkappe, fand aber keine Beachtung. Immer mehr Menschen schoben sich mit plumper, schwerfälliger Bewegung durch die niedrige Tür in den großen, vom Dunst schwitzender Körper und dickem Tabaksqualm erfüllten Raum. Die Mirzl rannte nur23 so mit ihren Weingläsern herum und fand nicht einmal Zeit, sich die Haare aus der geröteten Stirn zu streichen. Hier und da neckte sie einer der Burschen; sie erwiderte schlagfertig. Nur einer beachtete sie nicht und wendete ihr sogar absichtlich den Rücken zu. Das war der Lux Ferdl, der Sohn eines der großen Hofbauern, die sich in der zunehmenden Verarmung der Gegend noch trotzig und aufrecht auf ihrem Besitztum gehalten hatten. Sein Ehrgeiz gipfelte darin, den verfluchten Kerl zu spielen und das stille Nest von Zeit zu Zeit ein bißchen rebellisch zu machen. Das kostete ihn manchen Streit mit seinem Vater, besonders seitdem dieser in Kasdorf das Bürgermeisteramt bekleidete, zu dem die Streiche des Sohnes nicht passen wollten; indessen ging die Rede, der Alte hätte es vor Zeiten als junger Bursch noch viel toller getrieben.
Der Ferdl war mit einem halben Dutzend übermütiger Burschen gekommen und wurde von seinem Gefolge wie ein Fürst geehrt. Namentlich einer aus der Korona, hager und rothaarig, mit 24 einem Gesicht voll Sommersprossen, der Kerschbaum Poldl, hielt sich nahe zu ihm und belohnte jeden seiner Scherze mit einem breiten, dröhnenden Lachen. Auch der alte Kerschbaum gehörte zu den Reichen im Ort, darum nahmen die Kasdorfer die tollen Stücklein nicht krumm, mit denen der Ferdl und der Poldl die gesittete Langweile ihres Heimatortes unterbrachen. Ihre größte Freude war es, wenn sie hinter dem Rücken der Gendarmen dem Gesetz und der Ordnung eine kleine Nase drehen konnten. Aber die Bauern lachten. Jugend muß austoben, meinten sie.
Der Ferdl schlug mit der Faust auf den Tisch, daß der Wein in den Gläsern in die Höh sprang, und brüllte: »Wirtshaus!« Seine Genossen taten desgleichen, und als die Mirzl die Kellnerin an den Tisch sandte, bekam diese einen freundschaftlichen Rippenstoß, daß die Gläser gegeneinander krachten. Erst beim Erscheinen des Herrn Pfarrers, der leutselig grüßend durch das Gedränge nach dem Extrazimmer steuerte, wo der Kaufmann Kerzendocht, der herrschaftliche Förster und die 25 anderen Honoratioren schon um den weißgedeckten Stammtisch versammelt waren, wurde es in der Umgebung des Lux etwas stiller.
Und mitten in dem Summen und Dröhnen saß der weltentrückte Wachtmeister und las und las. Um ihn war eine Aureole, ein leerer Raum, eine unsichtbare Mauer. Wie man sich so tief in ein Buch verbeißen konnte, daß man blind und taub für seine Umgebung war, begriffen diese Naturkinder nicht. Man flüsterte, man rückte von ihm ab, deutete heimlich mit den Fingern auf ihn. Das ging nicht mit rechten Dingen zu . . .
Die Zigarre war ihm längst ausgegangen, das gefüllte Weinglas stand seit einer halben Stunde unberührt da – sonderbar, höchst sonderbar!
Aber auch nebenan im Extrazimmer schüttelte man über das Benehmen des Wachtmeisters den Kopf. Der Platz unter dem Kaiserbild, wo er immer zu sitzen pflegte, bildete eine gähnende Leere in dem streng geschlossenen Herrenkreis, und die Öldrucke des Kaisers und des Thronfolgers, das Kruzifix im Herrgottswinkel, ja sogar die 26 schmerzverzerrten Gesichter der armen Seelen im Fegefeuer, die unter Glas und Rahmen inmitten von rotlodernden Flammen an der Wand hingen, schienen mit erstaunten Augen nach ihm zu fragen.
»Warum er sich denn nöt zu uns setzt wie an jedem Samstag?« murrte der Förster, der die gewohnte Tarockpartie gefährdet sah. »Is das a G'hörtsich, daß er da draußen unter den Bauern hockt?«
»Er wird schon wiederkommen,« meinte der junge Kaplan, Pater Balduin, aus dessen rosigem Gesicht der ernste Seelsorgerberuf noch lange nicht die Lebenslust seiner fünfundzwanzig Jahre ausgetrieben hatte. Der Pater Balduin stand im Geruch großer Gelehrsamkeit in Kasdorf und Umgebung. Er arbeitete an einer Abhandlung über den Heiligen Augustinus, der in der ersten Hälfte seines Lebens ein gar fröhliches Weltkind gewesen war, wie seine Bekenntnisse zeigen.
Der Stoff war so recht nach seinem Sinn.
Der Moserwirt kam mit einer Batterie von 27 Bierkrügeln daher und guckte durch das kleine rotverhängte Wandfensterchen in die Gaststube: »Er liest halt noch allweil in dem Büchel. Na, so was!«
Der Pfarrer sog bedächtig an seinem Weichselrohr: »Hoffentlich ist es keine gefährliche, unsittliche Lektüre. Das muß ich allerdings sagen: dieser Bücheragent, den ich heute im Ort herumschleichen sah – ich glaube, sogar an meine Wirtschafterin hat er sich herangemacht – der gefällt mir gar nicht.«
Aber der Kaufmann Kerzendocht, der immer ein glattrasiertes Biedermeiergesicht spazieren trug und von dem Spezereiduft seines Warenlagers wie von einer mystischen Wolke umgeben war, ergriff lebhaft die Partei des Herrn Wasservogel und erzählte, daß er vor einigen Jahren als Reisender in Strumpfwaren mit ihm in Geschäftsverbindung gestanden und ein sehr reeller Mensch sei.
Der Förster war nicht zufrieden. Er goß den Wassersack seiner Holzpfeife aus: »Dö Leut, dö was ihre Nasen immer in so Bücheln stecken, 28 kann ich amol nöt leiden. Vom Lesen wird ans nur dümmer, das is g'wiß.«
Dieser Meinung trat indessen der Herr Oberlehrer Wimmer energisch entgegen und verteidigte seine Überzeugung sogar dem Pfarrer gegenüber mit ebensoviel Wärme als Freimut. Wie er da saß, voll Würde und Selbstgefühl, breitschultrig, mit glänzender Glatze und funkelnden Augengläsern, sah er beinahe wie ein Hochschulprofessor aus. Dazu trug er einen dunkelbraunen Samtrock und eine dicke goldene Uhrkette über einem straffgespannten Bäuchlein. Kurz: jeder Zoll an ihm war ein Oberlehrer.
Mit einer gewissen mitleidigen Überlegenheit gegen den Förster meinte er: ein gutes Buch sei ein guter Freund; er kenne zwar den Inhalt des Werkes nicht, das den Herrn Wachtmeister so sehr interessiere, aber auf jeden Fall müsse man es ihm hoch anrechnen, daß er trotz seines reifen Mannesalters noch so eifrig auf die Vertiefung seiner Bildung bedacht sei. Und wenn es nur ein paar Dutzend solcher Leute in Kasdorf und Umgebung 29 gäbe, so hätte er seinen Lieblingsplan, die Schaffung einer Volksbücherei, schon längst ausgeführt und nach seinen bescheidenen Kräften den Segen der höheren Bildung in der ganzen Gegend verbreitet – aber so allerdings – na ja – wenn der Widerstand der bildungsfeindlichen Elemente so stark sei – hm, hm –
Der Oberlehrer hatte eine ganze Rede vom Stapel gelassen. Jetzt hielt er inne, mit einem roten und verärgerten Gesicht, und verschluckte die letzten Worte, um den Frieden des Stammtisches nicht zu stören, der durch die armseligen grünen Hefte des Wachtmeisters Pummer so plötzlich bedroht war.
Der Lehrer Gärtner, ein unendlich langer, schwindsüchtiger Mensch mit eckigen Schultern, nickte seinem Vorgesetzten Bestätigung zu. Der Förster legte sein Jagdhundgesicht in ironische Falten und spuckte aus, was einem kolossalen Mißtrauensvotum gegen den Oberlehrer gleichkam. Herr Kerzendocht, als vorsichtiger Geschäftsmann, wagte keine Meinungsäußerung, sondern steckte die Nase ins Bierkrügel und tat einen tiefen Zug. 30
Da sprach der Pfarrer das erlösende Wort.
Er blies eine ungeheure Rauchwolke von sich, die ihn umwallte wie der Weihrauch beim Hochamt, tat seinen Mund auf, daß man die großen gelben Eckzähne sah, und sprach mit Nachdruck:
»Ach was – der Pummer ist ein Narr.«
Zustimmendes Schweigen in der ganzen Korona. Die Opposition rührte sich nicht mehr, die Sache war erledigt . . .
Dann ging die Schnupftabaksdose des Herrn Oberlehrers Wimmer im Kreise herum. Ein schönes Stück; Ebenholz mit Silber eingelegt, und feiner Rapé darin, tiefschwarz und milde, beruhigend und nervenstärkend.
Der Pfarrer aber übernahm die Stelle des Wachtmeisters bei der Tarockpartie und fing dem Förster den Pagat ab. 31