Egid v. Filek
Ein Narr des Herzens
Egid v. Filek

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Herbst!

Es zog sich eine breite Straße mitten durch den Wald, mit grünem Sammet bedeckt; in langen schnurgeraden Linien schnitten rechts und links von ihr Gräben in den weichen Waldboden ein; die Stämme der Bäume stiegen auf wie Säulen, ihre breiten Äste wiegten sich langsam auf und nieder. Weit, weithin streckte sich zwischen ihnen der Weg, Gräben liefen nebenher, immer feiner wurden die braunen Linien, und in der Ferne, wo blauer Duft über den Bäumen lag, flossen sie in einen Punkt zusammen. Ein Hase sprang über den Weg, setzte sich auf die Hinterläufe und stellte die Löffel auf. Als ein Fichtenzapfen herabfiel und dumpf auf den Boden aufschlug, schoß das Tier pfeilschnell davon.

Wie war es nur auf dem Forum in Rom . . .

Da lief auch eine breite Straße zwischen den altehrwürdigen Ruinen dahin, an zerstörten 226 Tempeln, an den Postamenten gestürzter Säulen, an entweihten Heiligtümern vorüber. Und diesen Weg durfte niemand beschreiten als der siegreiche Feldherr, wenn er im Glanze seiner höchsten Macht, gefolgt von den jauchzenden Kriegern, umgeben von gefangenen, kettentragenden Königen, nach dem Tempel fuhr. Und diese Straße nannten sie den Weg des Triumphes – via triumphalis.

Auf seiner grünen Straße fuhr der Herbst als Triumphator durch den Wald. Er winkte mit den Augen, und an den fernen Berghängen reiften die Früchte – er streckte die Hand aus und das Laub der Bäume flammte auf in roter und gelber Glut; er segnete die Tiere in Wald und Feld, daß sie fruchtbar waren und sich mehrten und aus dem Horn des Überflusses tranken; noch schien die Sonne warm und hell, des Sommers Kraft und Glut schritt gebändigt, gefesselt mit im Triumphzug des Herbstes.

In der Kanzlei saß Berghof vor dem ungeheuren Schreibtisch, auf dem aus einem wirren Durcheinander von Briefen und Aktenstößen ein mächtiges Tintenfaß aufstieg. Er stützte den Kopf auf die Arme und las einen Brief. 227

»Georg hat mir geschrieben. Er bittet mich zwar inständig, niemandem von dem Inhalt seines Briefes zu sagen. Aber ich kann beim besten Willen seinen Wunsch nicht erfüllen und muß Dir diese Mitteilung machen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, daß Du den Weg zur Seele Deines Sohnes findest. Behandle ihn nicht als Kind, sondern als einen reifenden Menschen, als einen Freund, dem Du Offenheit schuldest. Hast Du denn noch nicht bemerkt, wie heiß er sich danach sehnt, einen solchen Gefährten zu besitzen?«

Berghof schüttelte den Kopf. So gern er alles, was der überspannte Bruder sprach und schrieb, mit einem gleichgültigen Achselzucken abgetan hätte – diesmal konnte er sich eines Gefühls von Bangigkeit nicht erwehren. Es war richtig, daß der Junge seit einiger Zeit ganz auffallend verändert war. Mit derbem Zugreifen richtete man nichts bei ihm aus.

Sollte vielleicht doch Heinrich mehr wissen als er selbst?

Und wieder vertiefte er sich in das Schreiben und las Zeile für Zeile:

»Es kommen Stunden über mich, in denen ich mir bittere Vorwürfe mache, daß ich meinen 228 großen Einfluß auf ihn benutzt habe, um ihn in meine eigene Geisteswelt einzuführen. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich wäre ihm niemals näher getreten, hätte nie in seinem Herzen die Flammen angefacht, die das Alltagsleben erleuchten. Aber Du bist doch sein Vater – an Dir liegt es, aus diesem träumenden Menschen einen Mann zu machen, der die tausend Härten und die brutale Roheit dieses Lebens ertragen kann.«

Berghof starrte eine Weile ins Leere. So neu und seltsam schienen ihm diese Gedanken Endlich las er weiter:

»Nach allem, was er mir mitteilt, aber noch mehr nach dem zu schließen, was ich zwischen den Zeilen herauslese, müssen ihn in der letzten Zeit schwere seelische Erschütterungen betroffen haben. Zunächst scheint ein Mädchen im Spiel zu sein – ich vermute, die kleine Daisy Neuberg –«

»Dummheiten!« knurrte Berghof. »Was weiß so ein Bub von den Weibern!«

»Aber noch viel tiefer hat ihn etwas anderes aufgewühlt – verzeih um seinetwillen, daß ich die peinliche Sache erwähne – er deutete an, daß Du Deinen Reichtum nicht 229 auf ganz einwandfreie Weise erworben hast –«

Berghof sprang von seinem Schreibsessel auf, warf den Brief hin und rannte mit großen Schritten im Zimmer auf und nieder. Er faßte den Kopf mit beiden Händen; rote Funken tanzten vor seinen Augen. »Das – das – ist zu viel« – stieß er mit bebenden Lippen heraus. »Woher weißt du – woher kannst du wissen –«

Er hielt plötzlich inne – es war ihm einen Augenblick, als stünde der Bruder leibhaftig vor ihm da. »Für wen ist denn die ganze Plackerei die vielen Jahre hindurch – als für ihn – nur für ihn?«

Und langsam, widerstrebend griff er wieder nach dem Brief . . .

»Natürlich halte ich das alles für ein böswilliges Gerede. Aber ich mußte Dir Mitteilung davon machen, damit Du Georg die nötige Aufklärung geben kannst.«

Er stöhnte. Zum ersten Male in seinem Leben erschien ihm seine Handlungsweise in schiefem Licht. Er dachte an die ersten Jahre seines Wirkens in Lindenburg zurück – an die kleinen Gefälligkeiten und Dienste, die er und 230 Porges sich gegenseitig geleistet hatten, an diesen und jenen Nutzen, den er sich zu verschaffen gewußt. Und mit der Zeit wuchsen diese Vorteile an – langsam, unmerklich, in dem Maße, wie das Vertrauen stieg, das ihm der Graf entgegenbrachte. Wo war die Grenze, die Erlaubtes von Unerlaubtem schied?

»Jeder andere hätte dasselbe getan an meiner Stelle,« zischte er, mit den Fingern nervös auf der Tischplatte trommelnd.

Er sah zum Fenster hinaus auf die Stoppelfelder am Bergabhang, über welche die Pflüge gingen. In mächtigen, schwarzen Schollen quoll die Erde unter der Pflugschar empor. Unwillkürlich stieg der Gedanke an die Aussaat des nächsten Jahres in ihm auf. Die Erde gönnte ihm keine Ruhe und Rast. Sie fragte nicht, was menschliche Satzung verbot und erlaubte – sie befahl Arbeit – unermüdliche Arbeit.

Und ihm, der Herr und Sklave seiner Arbeit war zu gleicher Zeit – ihm hielt nun plötzlich der Sohn, der eigene Sohn einen Spiegel vor das Antlitz, und darin erblickte er mit Grausen das Bild eines Betrügers. Und ein altes Bibelwort brannte wie Feuer in 231 seinem Hirn: »Der Väter Sünden will ich rächen an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Geschlecht . . .«

Mit einem Ruck raffte er sich vom Schreibtisch auf. Seine zitternde Hand griff nach dem Elfenbeintaster – er wollte Georg rufen lassen, ihm alles, alles erklären – aber langsam sank der ausgestreckte Arm an seinem Körper nieder.

Was wollte er seinem Sohne sagen? War das eine Rechtfertigung, daß andere vor ihm und neben ihm auch nicht ehrlich gehandelt hatten?

Er fürchtete sich vor dem vorwurfsvollen Blick seines Kindes. Vielleicht war es doch am besten, wenn er über die ganze Sache mit Stillschweigen hinwegging. Mit der Zeit würde der Junge doch andere Ansichten bekommen, würde erkennen, daß sich jeder den Finger leckt, der mit Honig umgehen muß. Wenn er erst einmal in einem großen Betrieb stand! Und doch . . .!

Einen Augenblick regte sich in ihm der Gedanke, die ganze Summe zurückzugeben, die er im Laufe der Jahre auf die Seite gebracht – und im nächsten Moment verwarf er ihn wieder. Wem war damit genützt? Mit 232 Schimpf und Schande würde man ihn davonjagen – für Frau und Kind blieb gar nichts, gar nichts übrig. Es war zu spät zur Umkehr.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

O, wenn er jetzt jemanden hätte, dem er sich anvertrauen durfte, der ihm einen Rat gab, einen Ausweg zeigte aus diesem Wirrsal! Seine Frau vielleicht? Ach, die wußte ja gar nichts von seinen Geschäften. Grundsätzlich stand er auf dem Standpunkt: die gingen die Frau nichts an. Sie war bisher damit zufrieden gewesen. Nun empfand er das Bedürfnis, sich auszusprechen – er konnte nicht, auch dazu war es zu spät.

Schweigen – vorsichtig sein – weiter arbeiten wie bisher – das war alles, was er tun konnte.

Er stand vom Stuhl auf, zündete eine Kerze an und hob den Brief des Bruders zu der Flamme empor. Der mußte sofort vernichtet werden. Ruhig sah er zu, wie die letzten weißen Flocken sich krümmten und brannten, wie die Asche auf den Tisch herabsank.

Alle seine Gedanken lösten sich in einem dumpfen Grübeln, wer ihn verraten haben mochte. Porges vielleicht? Unmöglich. Der 233 war viel zu schlau. Denn es ging ja auch um seine eigene Haut. Freilich – die Leute in der Umgebung sprachen hinter seinem Rücken allerlei – da mochte etwas davon auch zu Georgs Ohren gedrungen sein. Ins Gesicht hatte ihm noch niemand etwas zu sagen gewagt – ihm, dem allmächtigen Oberverwalter. Und sie würden es auch in Zukunft nicht wagen – davon war er fest überzeugt.

Er atmete tief auf und blies die Asche des Briefes vom Schreibtisch fort, als sei nun wieder alles vorüber.

Draußen klopfte jemand an die Tür. »Herein!«

Neruda trat ein mit einem Stoß von Dienstzetteln. Die Telephonglocke schrillte; der Verwalter vom obern Hof verlangte Auskunft über einen Knecht. Und das Leben des Tages ging weiter; sein scharfer Wind zerblies die Wolken auf der Stirn Berghofs, scheuchte jeden Gedanken an die Vergangenheit tief in die Brust zurück.

Draußen ging Georg an den Fenstern der Kanzlei vorüber; der Vater hörte seinen Schritt, aber er wagte nicht, von seinen Büchern aufzublicken. 234

Georg trat aus dem Tor; langsam, mit gesenktem Kopf und unsteten Blicken wanderte er den Fußweg entlang, der zur Kirche führte, eine mächtige Schleife der Straße abschneidend.

Jetzt stand er vor der kleinen Seitenpforte. Die schwere Tür mit dem altersdunkeln hölzernen Schnitzwerk war nur angelehnt. Er trat ein.

Müde Dämmerung lag über dem Raum; das ewige Licht vor dem Hochaltar, ein leuchtender Blutstropfen, schwankte langsam hin und her. Die vergoldeten Heiligen sahen still und ernst von ihren Piedestalen herunter; der leise Duft des Weihrauchs schwebte durch die Luft.

Beim linken Seitenaltar hing ein großes Bild, umgeben von Kerzen und frischen Blumen. Christus am Ölberg. Droben die Gestalt des Erlösers, die Arme in furchtbarer Qual zum Himmel erhebend; unten die schlafenden Apostel, am fernen Horizont die Zinnen von Jerusalem. Dort warf sich Georg auf die Knie und starrte hinauf zu dem blassen, leiddurchwühlten Gesicht.

Aber in dem Bilde sah er nicht mehr den Gott, der nach kurzem Leiden eingeht in das 235 Reich des ewigen Lichtes. Der da droben auf den Knien lag auf hartem Felsen und die Arme rang und blutigen Schweiß vergoß: der schien ihm jetzt ein Mensch. Ein Mensch, erfüllt von dem fürchterlichsten Zweifel, dem an seiner eigenen Sendung. Ein Mensch, der sich noch einmal, bevor er in den Tod geht für seine Idee, die bange Frage stellt: Kann ich das halten, was ich mir selbst versprochen habe?

Und wieder versuchte Georg zu beten. Es war ihm, als müsse aus unbekannten Fernen irgendein Gruß, irgendein Zeichen von höhern Gewalten zu ihm dringen. Seine Tränen waren längst versiegt. Nur tief im Herzen fühlte er einen stechenden Schmerz, als ob da drinnen heiße Tropfen niederfielen, langsam, qualvoll, zögernd sich losreißend wie Blutstropfen aus einer Todeswunde, die den Sitz des Lebens nicht verlassen wollen.

Aber kein Trost wurde ihm; zerbrochen waren die Schwingen des Kinderglaubens, und nichts, gar nichts war da, das ihn hätte ersetzen können. Die Vergangenheit tot, begraben unter der Last der Schuld, die der Vater auf sich geladen hatte. Jetzt fiel sie ab 236 von dessen Schultern und stürzte zermalmend auf den Sohn. Und auch die Zukunft starrte ihm in drohender Finsternis entgegen.

Noch bis zum letzten Augenblick hatte er gehofft, sich aufrichten zu können an der starken, großen Liebe in seinem Herzen. Aber auch dieser Halt war zerbrochen. Ein Fremder war gekommen und hatte ihm entrissen, was sein Eigen war. Und nun gehörte es ihm, denn er war stark – stärker als der blöde, unreife Jüngling, auf den er gutmütig spottend herabsah.

Und niemand, niemand da, der ihn verstand, der seine Qualen mitfühlen konnte, niemand. Auch der Onkel hatte ihn verlassen. Warum antwortete er nicht auf den Brief, den er ihm vor einer Woche geschrieben hatte?

Das vergoldete Tabernakel funkelte so seltsam durch die Dämmerung. Und Erinnerungen an die Kindheit stiegen in Georg auf – wieder mußte er an die Stunde denken, da er mit zitterndem Finger an die goldenen Zierate geklopft und keine Antwort erhalten hatte.

Und auch jetzt stand er in hilflosem Schmerz mit qualvoll gerungenen Händen vor den 237 Rätseln des Lebens. Und wieder blieb alles stumm – wie damals.

Da kam die große, tiefe Sehnsucht nach Ruhe wieder über ihn, stärker als je.

Und er selbst fühlte sich unnütz und überflüssig auf dieser Welt. Niemand verlangte nach ihm, niemand nahm ihn bei der Hand und sprach zu ihm mit guten, lieben Worten, als verständiger Freund, als Gleicher zu einem Gleichen, oder bat ihn: lebe, arbeite für mich!

Er sah sich noch einmal um in dem großen, finstern Raum. Und ein leises, schmerzliches Stöhnen drang aus seiner Brust und hallte von den Wänden wider.

Dann stand er auf und ging aus der Kirche, zwischen den Grabsteinen des Friedhofes hin, als schreite er jetzt schon in das Nichts hinaus.

Beim Eingangstürchen stand die kleine Wetti. Sie hatte ihr schönes, glänzendes Haar zu einem starken Zopf geflochten, dessen Ende sie im Munde hielt. Lächelnd sah sie ihn kommen; die roten Blättchen einer Nelke, die sie zwischen den Fingern zerpflückte, fielen auf den Boden.

Mitten in dem schmalen Eingang zum Friedhof stand sie, daß er hart an ihr vorüber 238 mußte. Sie wich nicht aus; erst knapp vor ihr blieb er stehen.

»Wohin geht denn der junge Herr?« fragte sie zutraulich und ließ den grünen Stiel der Nelke fallen.

»Nach Hause – ja, nach Hause,« sagte Georg mechanisch, nur um zu antworten. »Und du?«

»Ich muß zur Bergwirtin, ihr helfen, den Tanzplatz herrichten. Morgen ist ja Kirchtag!« Und ihre Augen flammten vor Lebenslust.

»Kirchtag. Ja, richtig. Morgen ist Kirchtag,« wiederholte er, und seine Blicke irrten unstet umher.

Sie neigte sich zu ihm und fragte leise: »Und will der junge Herr nicht mit mir tanzen?«

Da hob er den Kopf und sah ihr ins Gesicht.

Es war ein seltsamer Schimmer in ihrem feuchten Blick, der ihn plötzlich an die Justina erinnerte, die er damals auf der Wiese getroffen. Gerade so hatten die Augen jenes Weibes geleuchtet, so hatte der halboffene Mund geatmet. 239

Noch einmal winkte ihm das Leben. Und eine Stimme rief ihm zu, die Arme um dieses junge blühende Geschöpf zu schlagen, es zu küssen, es an sich zu drücken – sich hineinzustürzen in die warmen Fluten der Lebensfreude.

Tauche unter in seliger Betäubung, vergiß die Vergangenheit und die Zukunft, deinen Schmerz und deine Sorgen und wache auf aus dem traumlosen Schlaf, neugestärkt, zu einem neuen Leben, als Wissender, als Wollender, als ein starker Mensch voll Jugendkraft, dem nichts Menschliches fremd ist!

Aber er konnte dem Ruf nicht mehr folgen. Zwischen ihn und die lebensfrische Gestalt drängte sich das Bild der andern, die ihm ewig verloren war. Die Wonnen, die sie ihm verhieß, kannte er nicht; schaudernd bebte er davor zurück, es schien ihm jeder Gedanke daran eine Entheiligung seiner tiefen, großen Liebe.

Und war sein Herz zu klein für diese Liebe – zerbrechen durfte es, aber befleckt werden – nie. Nie!

Er sah sie an mit einem traurigen Blick und gab keine Antwort. 240

Sie aber, die sich verschmäht glaubte von dem, dem sie so gern und freudig alles, alles gegeben hätte – sie wandte sich von ihm ab und schritt an der Mauer des kleinen Friedhofs hin, mit hocherhobenem Kopf und vorwurfsvoll geschürzten Lippen. 241



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