Egid v. Filek
Ein Narr des Herzens
Egid v. Filek

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Berghof schloß seinen Sohn in die Arme. Um die beiden wogte das hastige Treiben der Fahrgäste, die sich aus dem Zuge heraus auf das Büfett stürzten; da und dort stieß jemand an sie an. Das laute Zischen der Maschine vermehrte den sinnverwirrenden Lärm.

Georg machte sich aus der Umarmung des Vaters los und streckte dem Onkel die Hand entgegen.

»Gratuliere zur Auszeichnung,« sagte Heinrich Berghof lächelnd.

Der hübsche achtzehnjährige Junge wurde rot. »Zufall, lieber Onkel – und etwas Glück. Das kann bald einem Maturanten passieren!« Aber er war doch stolz darauf.

Der Träger keuchte mit Georgs Koffer heran. Karl Berghof wies mit der Hand gegen den Ausgang. »Also vorwärts, Kinder! Die Pferde werden schon ungeduldig!«

Als Heinrich hinter Vater und Sohn dem Tor zuschritt, empfand er etwas wie Neid. 8 Da stand der Bruder, auf der Höhe seiner Manneskraft, ein junges, hoffnungsvolles Wesen neben sich, Blut von seinem Blute, voll Entwicklungsmöglichkeiten, eine frohe Verheißung für die Zukunft. Heinrich hatte weder Weib noch Kind. Er fühlte sich einsam in diesem Augenblick.

Der Kutscher kam herbei und wollte dem jungen Herrn die Hand küssen. Georg entzog seine Finger dem alten Mann, dessen harte Bartstoppeln so sehr kratzten.

Während sein Koffer, von der kräftigen Faust des Stationsdieners emporgeschwungen, auf den Bock flog, nahm er auf dem Rücksitz Platz.

»Also los, Johann!« rief der Vater. »Nicht zu schnell fahren, das Handpferd ist noch jung!«

Der Wagen rollte durch die Pappelallee. Wie eine weiße Decke lag der Staub auf den Gräsern zu beiden Seiten der Straße; die Sonnenglut hatte nachgelassen, ein leichter Westwind trieb die Wolkenfetzen vor sich her, raschelte in den Baumkronen und brachte den Duft eines Kiefernwaldes herüber.

Während Georg von der Reifeprüfung und 9 ihren Schrecknissen eifrig erzählte, hatte Heinrich Muße, ihn näher zu betrachten. Seine schlanke Gestalt besaß nicht die eckige Magerkeit, die diesem Alter oft eigen ist; die Hand, ein wenig zu groß im Verhältnis zu den sehnigen Armen, war wohlgebildet, mit langen, schmalen, gepflegten Fingern. Seine Oberlippe deckte ein feiner Flaum. Deutlicher noch sprachen von der beginnenden Reife die Augen; bald blickten sie sinnend in die Ferne, bald leuchteten sie auf wie im Widerschein eines freundlichen Gedankens; sie schienen reifer als die jugendliche Gestalt. Der unerklärliche Zauber umfloß ihn, den alle frischen und unverbrauchten Naturen ausstrahlen.

»Eine Kindesseele in einem Jünglingskörper,« dachte Heinrich.

Sie sprachen von dem Pensionat in Waldenburg, aus welchem Georg heute als reif entlassen worden war; es galt als die beste Mittelschule der Provinz und war von Mönchen geleitet.

Berghof lenkte das Gespräch ab. Er kannte seinen Bruder als Freigeist und wünschte nicht, daß eines seiner Worte den Sohn in Verwirrung bringe, den er für gläubig hielt. 10

Sie fuhren durch goldgelbe Kornfelder. Tief neigten sich die Ähren zu Boden, die Schnittzeit stand bevor. Karl lehnte sich behaglich in die Kissen des Wagens zurück und sog an einer Zigarre. Er fühlte sich als Herr dieser großen weitgedehnten Felder, die seiner Sorgfalt anvertraut waren. Bis zum Fuße des duftblauen Höhenzugs erstreckte sich der Grundbesitz des Grafen Lindenburg, über den er seit zwanzig Jahren als Oberverwalter die Aufsicht führte. Er dachte an den kommenden Herbst und an die Ernte. Vor seinen Augen stieg das Bild schwerbeladener Kornwagen auf; Zuckerrüben türmten sich zu Bergen, fettes Mastvieh wandelte mit plumpen Füßen über den Hof; auf dem Felde donnerten die Dreschmaschinen. Es war ein gesegnetes Jahr.

Am Fuß des Hügelzuges traten die Mauern des Schlosses Lindenburg aus dem Schatten hervor. Zur Linken lag das Dorf; bläuliche Rauchsäulen stiegen aus seinen Schloten; das goldene Kreuz auf dem Kirchturm funkelte.

Georg fragte halblaut: »Sind Neubergs heuer wieder bei uns auf Sommerfrische?« 11

»Freilich,« antwortete der Vater. »Erst vorige Woche sind sie aus Gmunden zurück. Die Daisy ist ein hübsches Mädel geworden.«

Der Onkel warf einen Seitenblick auf Georg. Sollte das zierliche Geschöpf mit dem hübschen Puppengesichtchen, das er bisher kaum beachtet, Georgs Kinderliebe sein? Jedenfalls gewann es mit einem Male Interesse für ihn. Er dachte an das Idol seiner eigenen Knabenzeit; die Angebetete von damals, der Gegenstand unzähliger schlechter Gedichte, war heute eine dicke Fleischersgattin – noch behäbiger als Frau Neuberg.

»Was willst du denn nun werden, Georg?« fragte er den Knaben mit plötzlich erwachter Teilnahme.

»Mein Gott – darüber habe ich wirklich noch gar nicht nachgedacht.«

Der Vater mischte sich in das Gespräch. »Nun, ich denke, er soll sich jetzt tüchtig ins Praktische einarbeiten. Gestern habe ich meine Bücher durchgesehen – zehntausend Kronen hat deine Erziehung bisher gekostet. Bist ein kostbarer Sohn.«

Georg gab keine Antwort. Aber in Heinrich stieg eine Empfindung von Bitterkeit gegen 12 den Bruder auf. Das klang ja fast wie ein Vorwurf.

»Und wenn der Herbst kommt, schicken wir ihn auf die Hochschule für Bodenkultur.« Karl sprach mit der ruhigen Bestimmtheit, die keinen Widerspruch kennt. Zu lange war für Frau und Kind sein Wille Gesetz gewesen.

Der Föhrenwald stand in den roten Flammen des Sonnenunterganges. Die mächtigen Formen des Schlosses Lindenburg leuchteten in seiner Glut. Es war ein Bauwerk aus dem achtzehnten Jahrhundert, wenig entstellt durch späteren Zubau. In einem weiten Bogen näherte sich die Straße dem protzigen Turm, der wie ein plumpes Ungetüm aussah. Efeu zog sich wie buschige Brauen über den kleinen, schwarzen, funkelnden Fensteraugen hin. Das Tor war offen, ein gewaltiger Rachen; eine Hängebrücke führte hinüber, die man zur Vorsicht mit steinernen Pfeilern gestützt hatte. Kleine Erker, von Winde und Efeu überwachsen, sprangen weit aus der Mauer hervor. Den runden Wartturm, auf dessen Höhe eine Föhre aus den Spalten des Gemäuers wuchs, hatte man nicht mehr restauriert. Der Mörtel war abgefallen; die roh 13 behauenen Steine blickten zwischen dem dichten Gebüsch der hohen Brennesseln hervor, die am Fuß des Turmes wucherten. Weithin zog sich der Park, mit vielen ehrwürdigen Baumgreisen, einem kleinen stillen Teich voll Wasserlinsen, träumend inmitten der grünen Wildnis.

Hinter den hohen Mauern, von rotem Sonnenlicht übergossen, wuchs ein Wald von riesigen Klettenblättern; dort hatte Georg zum ersten Male Andersens Märchen von der glücklichen Schneckenfamilie gelesen; hatte mit seinem hölzernen Schwert, aus einer Dachschindel geschnitzt, in die Kletten geschlagen, daß sich die Mordwaffe grün färbte – es war das Blut erschlagener Riesen –; der kleine Teich weitete sich zum Ozean, den er mit Papierschiffchen befuhr, um fremde Welten zu entdecken. Und der Haufe von glitzernden Glasscherben am Fuß des Turmes war ein unermeßlicher Schatz, den die bösen Gespenster der Brennesseln bewachten; und wenn er die glücklich besiegt und den Schatz gehoben hatte, kam die kleine Daisy herbei als verzauberte Prinzessin und dankte ihm für ihre Erlösung . . .

Lächelnd lehnte er sich zurück und sog mit 14 halbgeöffneten Lippen die würzigen Düfte der Föhren ein.

Er war wieder zu Hause. Und seine lange, glückliche Kindheit stand da in leuchtenden Sonnenuntergangswolken und drückte ihn noch einmal an ihre Brust. 15



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