Egid v. Filek
Ein Narr des Herzens
Egid v. Filek

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Mit großen, würdevollen Schritten betrat Karl mit den Seinen die Kirche. Ein langes, schmales Hauptschiff, mit gotischen Säulen geschmückt, hatte man durch Bewerfen der Bündelpfeiler mit Mörtel, sowie durch grelles Bemalen derselben um jede Wirkung gebracht. Der Geistliche war noch in der Sakristei, deshalb flüsterten die Frauen, welche die linke Hälfte der Kirche füllten, angelegentlich miteinander. Die rechte Seite, der Männerwelt vorbehalten, zeigte spärlichen Besuch – das Wirtshaus übte stärkere Anziehungskraft.

Die Berghofs saßen in einem der großen geschnitzten Stühle ganz vorn beim Altar. Frau Anna sprach mit der Försterin; sie kritisierten das neue Kleid der Frau Neuberg; die saß ihnen gegenüber in der ersten Bank.

Gestern war die Försterin in Grünwald gewesen und berichtete Frau Anna über die neuesten Ereignisse in der geliebten Vaterstadt. Sie hörte gespannt zu. Mein Gott, es war 82 so einsam in Lindenburg; kaum daß sie sich zwei- oder dreimal im Jahre auf wenige Tage vom Hause losmachen konnte, um ihre Eltern zu besuchen. Und darum sog sie gierig alle die kleinen Klatschgeschichten in sich ein: wie sich die Schusterische mit dem langen Dragonerleutnant kompromittiert hatte, daß der Notarsohn die Bürgermeisterstochter heiraten wolle und seine Eltern dagegen seien, weil sie nicht genug Geld hätte.

Das Erscheinen des Geistlichen machte dem Gespräch ein Ende.

Während Frau Anna die Perlen des Rosenkranzes zwischen den Fingern niedergleiten ließ, wanderte sie in Gedanken in Grünwald umher. Wenn Karl einmal in Pension ging, mußten sie sich doch dorthin zurückziehen. Sie sah sich in einer neuen, kostbaren Toilette, noch viel schöner als die der Frau Neuberg, die Allee entlang schreiten, beneidet und bewundert von allen Bekannten. Diese Allee war der Mittelpunkt des Luxus in der kleinen Stadt; alles, was Kleider und Hüte zu zeigen hatte, ging dort am Sonntagvormittag auf und nieder, vom Stadtplatz bis zum Kaiser-Joseph-Denkmal, ewig dieselbe Strecke – und droben 83 bildeten die Offiziere Spalier und warfen den Mädchen verliebte Blicke zu. Und auf dem Stadtplatz spielte die Militärkapelle!

Der Geistliche hob die blitzende Monstranz und wandte sich zum Volke. Seine goldstarrenden Gewänder raschelten leise. Der Dreiklang der Ministrantenglocke tönte durch die Kirche; langsam stiegen die duftigblauen Wolken des Weihrauchs auf. Und eintönig klangen die uralten Worte, die seit langen, langen Jahrhunderten die heilige Handlung begleiteten; tiefe Symbole sprachen von weltentrückten Geheimnissen, dem Verstande dieser einfachen Menschen ewig unfaßbar und unbegreiflich.

Karl Berghof saß mit gefalteten Händen da und schien in Andacht versunken. In Wirklichkeit rechnete er. Jetzt zog er die Brauen zusammen – mit der Löhnung der Arbeiter stimmte etwas nicht. Diese Kerle verlangten schon wieder mehr als voriges Jahr. Na, was ging es ihn schließlich an – die Herrschaft mochte zahlen. Dann weiter: mit Porges mußte er über die Grenze, um Vieh einzukaufen. Der bekam seinen Anteil und schwieg, wie gewöhnlich. Georg brauchte 84 doch eine kleine Summe, um sich in Wien als Student einzurichten. Das würde sich alles finden. Die heurige Ernte war wieder sehr gut – ein Narr, der im Rohr sitzt und nicht seine Pfeifen schneidet. Fragte er den Förster, der doch sein Untergebener war, danach, ob alle Hasen, die er heimbrachte, von Rechts wegen ihm gehörten?

Ein Geräusch in seiner Nähe unterbrach seinen Gedankengang. Neruda, der Praktikant, der beständig nach der braunen Justina geschielt hatte, ließ aus Unachtsamkeit seinen steifen Filzhut fallen. Berghof übersah mit einem Blick die Szene. Er warf dem jungen Menschen einen verweisenden Blick zu.

Wieder erklang beim Altar die silberne Glocke. Der Priester hob die Hostie: »Ecce agnus Dei, qui tollit peccata mundi . . .«

Die Weihrauchwolken zerflossen zu dünnen Säulchen und Spiralen: ein breiter Streifen Sonne fiel in den Raum. Man hörte die dumpfen Schläge der Turmglocken.

Und nun floß von der Höhe des Orgelchors eine weiche, süße Melodie, getragen von Geigen und Violas, leise im Takt von der Orgel markiert. Daisy. Georg erkannte die Stimme 85 und senkte den Kopf tiefer. Die Mutter bemerkte nicht das flüchtige Rot, das in seine Wangen schlug.

Stolz blickte Frau Neuberg herüber. Der Oberlehrer hatte ihr mit froher Miene die Hand geküßt, als sie ihm das Töchterchen zu einigen Gesangsproben abtrat, und die Schmeicheleien des alten Schulmeisters über die »göttliche Stimme« gingen ihr glatt ein. Jetzt stand der Alte droben hinter der Orgel, und sein verwittertes Gesicht, von dem struppigen, weißen Kehlbart umrahmt, der immer Spuren von Schnupftabak zeigte, strahlte voll Wonne, als er den Takt schlug. Es war ein wunderschönes, altes Musikstück von Palestrina. Der Alte fühlte sich sonderbar gerührt, als diese Töne um ihn flossen – Teufel, was tropft da in den Bart? Es war der Traum seines Lebens, die Melodie einmal von einer solchen Stimme zu hören. An der Erinnerung dieser Stunde würde er zehren an den langen Winterabenden, wenn er einsam vor seinem zitterigen Klavier saß, oder in der dumpfen Schulstube mit ihren schmutzigen Kindern.

Der Bergwirt, der Viola spielte, fand, daß 86 sein Instrument noch nie so gut geklungen habe wie jetzt; die beiden Unterlehrer drückten die Geigen an die Wange und ließen sich tragen von der alten Melodie, die voller und reicher anschwoll, als wollte die Stimme des kleinen Mädels die starren Wände der Kirche sprengen.

Unten saß Georg, den Kopf in die Hand gestützt, in tiefes Lauschen versunken. Er versuchte sich vergebens zur Andacht zu zwingen Noch immer fühlte er jenen blühenden Körper in seinem Arm; die Stimme, die ihn immer so seltsam erregte, paßte gar nicht hierher in den weihrauchduftenden Raum. Er mußte an die Rheintöchter denken, von denen der Onkel gestern gesprochen hatte, die durch ihren Gesang den jungen Siegfried betörten. Es war, als tauche der weiße Leib einer Nixe aus dem dunkeln Wasser eines Waldsees, und Wellen spielten drüber hin im wiegenden Sechsachteltakt und hoben und senkten ihn; aber siegend geboten die schwellenden Arme den Wassern und stiegen in das Mondlicht empor in ihrer weißen Klarheit.

Dann schämte er sich plötzlich. Es war schlecht und sündhaft von ihm, hier, am heiligen Orte an derlei zu denken. 87

Und mit den vielen andern, die sich jetzt auf die Knie warfen vor dem unbekannten Gott, sank auch er hin, und sein Herz rief den Gott seiner Kindheit. Ihn, der schied zwischen den Guten und Bösen, der die einen belohnte, die andern bestrafte, wie es die Menschen taten.

Und in diesem Augenblick erkannte er, zum ersten Male in seinem Leben, daß er nicht mehr so beten konnte wie einst. Das stand vor seiner Seele mit schmerzlicher Klarheit. Er war nicht mehr das Kind, dem jener Kindergott im Schlaf die Wange streichelte; was ihm in den Jahren der Entwicklung nicht deutlich bewußt geworden war, das trat nun mit einem Schlag heraus aus dem Nebel der Erinnerung.

Sein Blick fiel auf das funkelnde Tabernakel, das der Priester eben schloß. Vor zehn Jahren, da war er einmal in der Abenddämmerung, an allen Gliedern zitternd, in die finstere Kirche geschlichen, die Brust geschwellt von dem gläubigen Vertrauen, das nur ein Kind besitzen und verstehen kann. Auf den Knien war er die Stufen zum Altar hinaufgerutscht und hatte an das Tabernakel 88 geklopft – in der stillen Hoffnung, die Gottheit werde zu ihm sprechen, ihm ein Zeichen ihres Daseins geben. Aber es war still, ganz still geblieben in dem weiten, öden Raum, so schreckhaft still und bang, daß er das ängstliche Klopfen seines Herzens hören konnte. Und dann hatte ihn eine plötzliche Furcht hinausgetrieben ins Freie.

Der Beichtvater, dem er seine Erlebnisse erzählte, sprach ihm Trost zu – und er ließ sich gern trösten, der Kinderglaube war stark genug, um auch das zu ertragen.

Und heute?

Da tauchte das Bild eines alten Mannes vor ihm auf. Tiefe Runzeln durchfurchten sein Gesicht, aber das Auge mit seinem gütigen Blick schien voll ewiger Jugend. Er sah ihn in seiner Zelle sitzen, über vergilbte Papiere gebeugt. Manchmal hob er den Kopf und sah in das blühende Land hinaus; aber wie die Schwalbe, an dem Mauerwerk der gotischen Klosterkirche auf- und niederflatternd, stets zurückkehrte in das sichere Nest, so flog der Gedanke immer und immer wieder in die stille Zelle zurück, zu seinen heiligen Büchern, die vom ewigen Heil der 89 Menschheit sprachen, von der Erlösung durch die Liebe.

Wo lag die Wahrheit? Dort in der weltentfernten Klosterstille? Oder in der Welt des Schönen, von der der Onkel sprach? Oder stieg sie aus der eigenen Brust mit ihren unklaren Wünschen, ihrem Bangen und Hoffen?

Der Gottesdienst war zu Ende. Der Geistliche sprengte das geweihte Wasser über die knienden Menschen, über Gläubige, Hoffende, Zweifelnde, über Andächtige und Zerstreute.

Langsam schoben sich die Weiber mit ihren breiten Röcken aus der Kirchentür. Manche gab ihrer Nachbarin, die in dem kühlen Raum längst eingeschlummert war, einen Stoß in die Seite, um sie zu wecken. Draußen in der blendenden Sonne kamen sie alle zu sich, schwatzten und lachten und neckten sich mit den Burschen, die vom Bergwirtshaus herübergekommen waren und breitspurig vor dem Eingang standen, die Hände in der Hosentasche. Die Mädchen erfüllten den kleinen Kirchhof, der im Blumenschmuck seiner Gräber heiter und freundlich aussah, mit ihrem frohen Lachen. Die kleine Wetti brach sich verstohlen eine weiße Nelke von einem Grab und 90 schmückte ihre junge Brust mit der Blume, die aus dem vermoderten Leichnam eines Toten ihre Lebenskraft gesogen hatte.

Berghof zog den Praktikanten zur Seite: »Neruda, lassen Sie solche Dummheiten wie vorhin in der Kirche gefälligst bleiben. Sie verderben mir die Disziplin unter den Leuten.«

Der junge Mensch wurde rot und wußte nichts zu erwidern.

Vor der Kanzlei des Schlosses ging inzwischen Chaim Porges langsam auf und ab. Seine krummen Beine pendelten behaglich hin und her; im Munde baumelte die Sonntagszigarre, die er ihrer ganzen Länge nach mit Speichel befeuchtet hatte, um den Genuß des Rauchens zu erhöhen. Es war eine Gewohnheit aus seiner galizischen Heimat.

Der Oberverwalter schritt durch das Tor. Er schwitzte gewaltig in dem ungewohnten schwarzen Rock; große Tropfen standen auf seiner Stirn.

»Porges, am nächsten Montag könnten Sie nach Schönau zum Wochenmarkt fahren. Der Neruda soll Ihnen die Kornproben geben. Vielleicht machen wir mit Singer einen guten Abschluß.« 91

Porges nickte schmunzelnd. Das bedeutete wieder ein Geschäft für ihn. Wirklich, es war ein Glückstag gewesen, jener 20. November, an dem er damals, dem Verhungern nahe, auf das Gut gekommen war. Alle Finger lang gab es einen Rebbach. Er hörte den Auseinandersetzungen Berghofs zu und dachte dabei an die Sarah, seine Tochter, der er seit Jahren eine hübsche Mitgift zusammenscharrte. Ganz ehrlich verdient war sie nicht. »Mein Gott, was tut man nicht alles für die Kinder,« dachte er.

Als Georg in den Schatten der großen Fichten am Ende des Parkes trat, eine Beute der widerstrebendsten Gedanken, sah er Heinrich, der am Stamm eines Baumes lehnte, eine Zigarette zwischen den Fingern drehend.

Und ganz plötzlich und unvermittelt, wie um ein quälendes Gefühl mit einem Male loszuwerden, fragte er: »Sage, Onkel, glaubst du noch immer so, wie du als Kind einmal geglaubt hast?«

Heinrich sah ihm betroffen ins Gesicht.

Das Wort war ausgesprochen, das er schon lange erwartet hatte.

Er schwieg und blickte nach dem Wipfel 92 einer Tanne, der langsam im Winde schwankte – als müsse er recht gründlich überlegen, in welche Form er seine Gedanken kleiden sollte, um die zarte und vertrauende Seele nicht zu verletzen.

Endlich faßte er seinen Entschluß. Wahrheit – nichts als Wahrheit sollst du geben! rief es in ihm. Mochten andere ihn mit Phrasen abspeisen, an die sie selbst nicht glaubten.

Wie aus weiter Ferne klang seine Stimme: »Mein Gott ist nicht – nicht der deine, Georg. Glaube, wenn du glauben kannst – o, es ist ein tiefes, tiefes Glück, das reinste von allen vielleicht, das die Menschheit kennt, sich behütet zu wissen von der starken Hand einer mächtigen Gottheit. Die Hand Gottes! Michelangelo hat sie dargestellt an der Decke der Sixtinischen Kapelle, diese großen, gewaltigen, schaffenden Hände, die den gestaltlosen Nebel zu Formen zwingen. Ja, ich fühlte einen Schauer von Andacht, als ich dieses Werk sah – und ich habe nach meiner Weise gebetet in diesem Augenblick.«

Georg sah ihn zweifelnd an. »Du weichst mir aus. Ich frage dich, dich 93 ganz allein: glaubst du oder glaubst du nicht?«

»Ob ich glaube? Was liegt an mir, an einem unter Hunderten von Millionen? Ist es dir ein Beweis für deinen Glauben, wenn ich ihn teile? Oder ein Beweis gegen ihn, wenn ich ihn nicht teile?«

Georg senkte den Blick.

»Sieh, lieber Junge, ich will zu dir sprechen wie zu einem ganz reifen Menschen« – er legte den Arm um seine Schulter – »wenn einer da droben jenseits der Sterne wohnt, so wird er Gnade haben mit mir, den er doch selbst schwach und menschlich geschaffen hat; und ist da drüben das Nichts – nun gut, so will ich ausruhen von dem Kampf dieses Lebens, denn ich weiß, daß ich redlich das erfüllt habe, was meine Pflicht schien, und daß ich mich von ganzem Herzen gefreut habe an all dem Schönen, das die Welt bietet.«

Und als ihn Georg noch immer fragend anblickte, sprang er plötzlich auf und sagte: »Komm mit mir – ich will dir etwas zeigen, was vielleicht eine Antwort auf deine Frage bedeutet.«

Und er zog ihn in den großen, hallenden 94 Korridor, an der Küche vorbei, in den toten Prunksaal und zeigte ihm schweigend die Marmorstatue.

Ruhig, prüfend betrachtete Georg das Kunstwerk. Seine reinen Augen stießen sich nicht an seiner Nacktheit.

»Siehst du, die Ehrfurcht vor solchen Dingen – der Glaube an ihre Macht über das Menschenherz – die Liebe zu ihnen, das ist, wenn du willst, ein Stück von meinem Gott, von meiner Religion.«

Es raschelte ein Frauenkleid hinter ihnen. Frau Anna war ihnen nachgefolgt, von einer Regung der Eifersucht getrieben. Mit staunenden Blicken sah sie auf die Gruppe. Und immer mißmutiger wurde der Ausdruck ihres Gesichts.

Heinrich nahm keine Notiz von ihr. Er sprach von der Religion der Griechen, von der Sehnsucht nach dem Schönen, die Zeiten und Götter überdauert. Er spielte wieder auf dem kostbarsten Instrument – auf der Seele eines Menschen.

Das fühlte er wohl, daß der Schwägerin die ganze Szene peinlich war. Schon der bloße Anblick dieser Statue mußte ihr Empfinden 95 verletzen. Und gerade deshalb sprach er weiter, in einer Art nervöser Gereiztheit, als wollte er sich rächen für die Verstimmung, in die ihn ihre banale Lebensanschauung, ihre Unfähigkeit, auf seine Gedanken einzugehen, so oft versetzt hatte.

Sie aber empfand plötzlich mit voller Klarheit, daß er sich zwischen sie und den Sohn drängte. Manchmal schon war der Gedanke in ihr aufgestiegen, aber sie hatte immer nicht daran glauben wollen. Jetzt aber entschuldigte sie ihn nicht mehr – er war ein Fremder für sie, nicht ihres Blutes und ihrer Art; und mit einem Male suchte sie alles Trennende hervor, es fiel ihr ein, wie er eigentlich so ganz anders dachte und sprach, als sie es von Jugend her gewohnt war. Wie leere Phrasen erschienen ihr seine Worte, geschraubt und unnatürlich; seine Wünsche, seine Ansichten und Gewohnheiten so weltverschieden von den ihrigen.

Und nun wollte er ihr das Kind nehmen? Nein. Sie würde sich das nie gefallen lassen, würde sich zur Wehr setzen, würde kämpfen mit den Waffen, die einer Frau zu Gebote stehen, die schärfer und hinterlistiger sind als die des Mannes. 96

»Georg, komm zu Tisch!« rief sie laut, mit schneidender Stimme.

Die beiden folgten ihr.

Es wurde eine sehr schweigsame Mittagstafel. 97



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