Egid v. Filek
Ein Narr des Herzens
Egid v. Filek

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Berghof saß in Hemdärmeln in der Küche und biß mit seinen großen Zähnen in ein Stück Brot. Dazu schnitt er sich mit dem Taschenmesser von der Speckseite ab.

Er hatte seinen Inspektionsritt beendet und wollte rasch ein Frühstück nehmen, bevor er in die Kanzlei ging.

Frau Anna lief, mit weißer Küchenschürze angetan, beständig vom Herd zum Küchentisch und wieder zurück. »Willst du nicht ein Glas Allasch, Karl?«

»Meinetwegen. Aber dann rasch, bitte.«

Die Stasi eilte in die Vorratskammer.

Frau Anna benutzte den Augenblick des Alleinseins: »Karl, das geht nicht mehr so weiter mit Heinrich. Es tut mir leid – er ist ja dein Bruder – aber . . .«

Berghof wischte das Taschenmesser an einer Brotrinde ab: »Na, ja, er ist ein überspannter Mensch. Aber was weiter?« 143

»Was weiter? Das fragst du? Siehst du nicht, daß er mit seinen Narrheiten Georg ganz verrückt macht?« Sie stand vor ihm, die Arme in die Seiten gestemmt, im Gesicht ganz rot vor Aufregung und von dem scharfen Herdfeuer.

»Freilich,« erwiderte er, mit vollen Backen kauend, »Georg hat auch Anlage zur Phantasterei. Das haben sie ihm in der Schule beigebracht. Aber wart nur, wenn er nach Wien kommt, da wird er das Leben schon kennen lernen. Hm. Du, der Allasch ist wässerig.«

Er stürzte das Gläschen hinab und goß sich ein zweites ein.

Frau Anna runzelte die Stirn: »Weißt du, daß die zwei heute früh wieder in die Rumpelkammer gegangen sind und diese nackte Marmorfigur angesehen haben? Ich begreife nicht, was sie daran finden. Du solltest sie fortführen und zerschlagen lassen, dann hat die ganze alberne Sache ein Ende.«

Sie sprach in einem gehässigen, keifenden Ton, den sie sonst niemals anschlug, als hätte sich in jener Statue alles verkörpert, was nicht in ihre Weltanschauung passen wollte. 144

Berghof steckte noch eine Brotrinde in den Mund. »Meinethalben, das kann geschehen, wenn es dir Vergnügen macht. Ja, es gibt eine merkwürdige Sorte von Menschen, die sind wie versessen auf die Kunst. Wir hatten so einen auf der Landwirtschaftlichen; er war ein reicher Kerl und trieb das Studium nur so nebenbei. Der hat auch gemalt und sogar Bilder verkauft.«

»Aber Heinrich kann doch nichts dergleichen. Und als Bibliotheksbeamter bezieht er ja ein schönes Gehalt und hat genug zu tun. Warum gibt er sich mit solchen Sachen ab?«

Berghof zuckte die Achseln, sah nach der Uhr und stand auf.

Seine Gedanken waren längst wieder bei den Getreidekursen. Für ihn war der Bruder, von dem verwandtschaftlichen Verhältnis abgesehen, ein Beamter mit so und so viel Gehalt, den er manchmal um seinen ruhigen Dienst beneidete. Weiter zerbrach er sich den Kopf nicht. Auch fiel es ihm gar nicht ein, die Dinge ernst zu nehmen, mit denen sich Georg beschäftigte. Das war ein wunderlicher Sport, den er eine Zeitlang trieb und später wieder bleiben lassen würde. 145

Als er aus dem Fenster der Kanzlei einen Blick in den Garten warf, sah er den Sohn unter der Platane sitzen und eifrig lesen. »Was studierst du denn, Georg?« rief er hinüber.

»Die Maikäferkomödie. Ach, Vater, das ist etwas wunderbar Schönes. Kennst du das Buch?«

Er lachte ans voller Kehle. »Na weißt du, ich hab mein Lebtag nie Zeit gehabt, mich um Komödien zu kümmern, und gar Maikäferkomödien . . . .«

Er schloß das Fenster und setzte sich heiter an den Schreibtisch.

»Die Anna ist zu kindisch mit ihren Besorgnissen,« brummte er vor sich hin. »Meinethalben soll der Bub Maikäfergeschichten lesen, soviel er will. Und Heinrich mag sie ihm kaufen, – kiloweise, wenn's sein muß. . . . Sie, Neruda,« er wandte sich zu dem eintretenden Praktikanten, »sagen Sie dem Schaffer, daß er den Knechten einschärft, die Geschirre über Nacht nicht im Stall zu lassen. Das Zeug rostet und verdirbt und kostet uns ein Heidengeld!«

Der Praktikant nickte. 146

»Und dann gehen Sie zum Porges. Er soll mich nächsten Montag um zwei Uhr früh aus der Kanzlei abholen. Den Schlüssel schicke ich ihm zur rechten Zeit. Und der Johann soll einspannen, wir fahren mit dem Marktzug nach Monnitz zum Viehmarkt, einkaufen. Sorgen Sie dafür, daß die Viehpässe in Ordnung sind. Adieu.«

Draußen war Georg aufgestanden, mit blutroten Wangen – er hatte ein Gefühl, als habe ihn jemand vor den Kopf geschlagen.

Hatte der Vater denn keine Ahnung von den Dingen, die in seiner Seele wühlten? – Diese Bücher, die ihm den Vorhang vor einer neuen Welt aufrissen – er kannte sie also gar nicht?

Es dauerte lange, bis er sich beruhigte.

Erst als er nachmittags mit Heinrich am Ufer des Flusses umherstreifte, kam er wieder ins Gleichgewicht.

Bisher hatte ihn eine eigentümliche Scheu abgehalten, mit dem Onkel über sein Verhältnis zu den Eltern zu sprechen. Heute aber erzählte er von jener kurzen Unterredung.

Heinrich meinte: »Vergiß nicht, Georg, daß sich eben eines nicht für alle schickt. Dein 147 Vater ist ein Mann der Pflicht, ein Feldherr auf dem Gebiet der praktischen Arbeit. Gerechterweise darfst du von ihm kein Verständnis für solche Dinge verlangen.«

Aber es war ein halber Trost, und Georg merkte genau, daß der Onkel das nur sagte, um den Schein zu vermeiden, daß er sich zwischen ihn und die Eltern stellen wolle. Denn er sprach sofort von ganz anderen Dingen.

Und doch flogen seine Blicke oft genug mit einer Art scheuer Angst nach dem Gesicht des jungen Menschen, dessen Augen noch immer so traurig blickten, als ob er etwas unendlich Teures für immer verloren hätte.

O, er kannte es wohl, dieses schmerzliche Gefühl! Diesen verzweifelten Trotz, mit dem die Seele des Kindes sich dagegen wehrt und aufbäumt, daß die Eltern nicht vollkommen sind, die Eltern, zu denen man es gelehrt hat wie zu höheren Wesen aufzublicken!

Und dann die bittere Erkenntnis, daß ihre Wünsche und Gedanken in einem andern Erdreich wurzeln, trotz aller Gemeinsamkeiten des Alltagslebens!

Das gequälte Gespräch verstummte bald. Schweigend gingen sie nebeneinander dahin. 148 Giftrot leuchteten die Fliegenschwämme zwischen dem Gesträuch; Mücken tanzten in den hellen Sonnenstreifen, die am Rand des Gehölzes hingen, wie goldene Schleier; es stieg ein kräftiger Geruch vom Boden auf, als wecke die Sonne in den Millionen toter Fichtennadeln, die da auf dem Waldboden lagen, noch einmal die Kraft des Lebens und des Duftes. Ein schwarzes Eichhörnchen sprang in hohem Bogen von einem Wipfel zum andern.

»Wie viel wunschlose Ruhe liegt in diesem Landschaftsbild,« sagte Heinrich leise, »und wieviel Zwiespalt und Zerrissenheit in den Menschenseelen,« setzte er in Gedanken hinzu.

Sie waren vor dem Schlosse angekommen. Eine blaue, feine Rauchsäule stieg aus dem Schlot der Verwalterwohnung; die kleinen vergitterten Fenster des Seitentraktes schienen behaglich zu zwinkern; im Stall blökten die Kühe in der Erwartung des Futters. Es lag wie Sicherheit, wie ruhiges Geborgensein an der Brust der Erde über dem Bild.

»Und doch ist hier deine Heimat, Georg,« sagte Heinrich plötzlich und unvermittelt. »Wenn du nur fest auf diesem Boden stehen kannst, wirst du alle Dissonanzen des Lebens 149 ertragen. Ich habe nie dieses Gefühl gekannt; du aber wirst einmal Herr sein auf deinem eigenen Grund und Boden. Und das verdankst du doch den Eltern.«

Georg verstand ihn. »Ja, das ist ein Trost,« sagte er ruhig, und ein männlicher Klang war in seiner Stimme.

Sie saßen nach dem Nachtmahl auf der Veranda. Mücken schwirrten um die Lampe, die mit ihrem Schirm aus dunkelrotem Seidenpapier auf dem Tische stand. Berghof lag im Lehnstuhl und las die Zeitung; Frau Anna arbeitete an ihrer Stickerei. Aus Georgs Fenster schimmerte Licht; er hatte sich mit seinem Buch gleich nach dem Essen zurückgezogen.

Heinrich stand am Geländer der Veranda und blickte zwischen den zackigen Blättern des wilden Weins hindurch in den Garten. Der Mondschein schlich von einem Blumenbeet zum andern; die große Blautanne sah wie mit Milch übergossen aus.

Er hatte das Gefühl, daß er die Eltern warnen sollte; da begann vor ihren Augen ein Drama – eine Tragödie vielleicht – und sie merkten nichts davon oder glaubten 150 vielleicht gar, daß er ihnen das Kind entfremden wollte. Vielleicht konnte alles gut werden, mit ein paar Worten, durch eine offene Aussprache – mein Gott, das Herz dieses jungen Menschen war ja weich und gut, noch nicht verknöchert und versteinert in dem Treiben des gemeinen Lebens!

Er sah nach dem Bruder. Der las die Tagesneuigkeiten der Neuen Freien Presse. Mit größerm Interesse, wie es schien, als er sonst die Zeitung zu lesen pflegte.

Wo sollte man den Anknüpfungspunkt suchen für ein so schweres und peinliches Gespräch! Es war Heinrich zumute, als hätte er sich vor diesen zwei Menschen da zu rechtfertigen, ihnen sein Verhalten zu erklären, wenn er auch blutwenig Hoffnung sah, sie zu überzeugen.

Berghof legte die Zeitung hin. »Schon wieder ein Kinderselbstmord,« sagte er. »Der dritte seit einem Monat, von dem die Blätter berichten. Es ist mir unbegreiflich, wie ein normales Kind sich zu solch einem Schritt entschließen kann. Übrigens – ich finde das auch bei einem Erwachsenen unfaßbar.« 151

Heinrich wandte sich herum. »Weißt du, lieber Karl, wie Heine einmal irgendwo schreibt: Madame, wenn sich jemand erschießt, hat er dazu seine guten Gründe, das können Sie mir glauben.«

»Aber ein Kind! Das hat doch Eltern oder mindestens nahe Verwandte, die es beständig überwachen. Die müssen doch seine Bedürfnisse kennen und Abhilfe schaffen, wenn ihm etwas fehlt! Wie kann man es so weit kommen lassen?«

»Glaubst du, daß alle Eltern ihre Kinder wirklich kennen? Ich meine, daß sie imstande sind, sich in ihr Seelenleben zu versetzen? Denn das andere – mein Gott, das besorgt jede Wärterin, jeder bezahlte Dienstbote.«

Frau Anna mischte sich mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit ins Gespräch: »Aber wer soll denn das Kind besser kennen als die eigenen Eltern? Vom ersten Schrei an haben sie es gepflegt, an seinem Bett gewacht, wenn es krank war, haben es behütet vor jedem Unglück . . .«

»Seinen Körper haben sie behütet, gewiß. Das ist auch etwas – das ist sogar sehr viel, 152 besonders in den ersten Lebensjahren; aber das Kind wächst heran . . .«

»Na ja,« erwiderte Berghof, indem er die Zigarre über dem Lampenzylinder drehte, bis sie zu glühen begann, »dann muß freilich die Schule die geistige Erziehung übernehmen. Das ist ja fast in allen Familien so.«

Heinrich lächelte ironisch. »Was wollt ihr denn noch alles der Schule aufbürden? Ist denn eine Summe von Kenntnissen schon Bildung? Der Drill, sich unauffällig zu benehmen, Erziehung? Die Eltern sind es, die die geistigen Grundlagen der Persönlichkeit legen sollen!«

»Du mußt nicht gleich übertreiben,« bemerkte Karl mit überlegener Ruhe. »Du hast keine Kinder und weißt nicht, was die Erziehung für Sorgen, Mühe und Geld kostet. Woher sollen denn die Mittel kommen? Du als lediger Mann bist niemandem Rechenschaft schuldig – aber hast du eine Ahnung davon, wie schwer man heute Ersparnisse macht? Wie hart und rücksichtslos gegen sich und andere man arbeiten muß, um eine nennenswerte Summe zusammen zu bringen, die – die –« 153

Er schluckte heftig, als hätte er etwas gesagt, das er eigentlich verschweigen sollte.

»Die dem Kinde ein anständiges Fortkommen sichert,« setzte Heinrich fort. »Gewiß, auch das ist notwendig; aber es ist nicht das Wichtigste! Ich glaube auch nicht, daß du an Georgs Zukunft denkst, wenn du draußen auf den Feldern die Arbeit überwachst, wenn du siehst, wie dir alles gelingt. Du arbeitest für dich, um deine Kraft zu betätigen; dein Lebenswerk ist die Arbeit um ihrer selbst willen, um der Freude an ihr willen.«

Berghof senkte betroffen den Kopf. Er mußte im stillen zugeben, daß der Bruder recht hatte.

»Glaubst du, es genügt, daß du für Georg Geld zusammenscharrst? Daß du ihn in die starre Bahn einer sogenannten Versorgung, eines Brotberufs drängst? Oder daß du seinen Körper pflegst, während sein Herz vielleicht hungert?«

Er hatte leidenschaftlich die Worte herausgestoßen – die Erinnerung an die eigene Jugend überkam ihn, an die Eltern, die niemals Verständnis für ihn gezeigt hatten, nie auf seine Eigenart eingegangen waren. 154

Frau Anna wurde empfindlich. »Du wirst beleidigend, lieber Heinrich. Wir sorgen für Georgs Zukunft, wie es unsere Elternpflicht ist. Und unser Gewissen sagt uns, daß wir recht handeln.«

Heinrich seufzte. Es war so furchtbar schwer, sich mit diesen Menschen zu verständigen – sie sprachen eine andere Sprache als er; keine Brücke führte von ihnen in sein eigenes Herz.

»So laß doch einmal die Sorge um die gespenstische Zukunft! Laß den jungen Menschen sich der blühenden Gegenwart freuen! Müßt ihr denn immer das Heute dem Morgen opfern, den Frühling mit seinen Blütenkränzen dem Sommer, und den Sommer dem Herbst!«

»Mit deinen Überspanntheiten! Du glaubst ja selbst nicht an deine hochtrabenden Worte.« Frau Anna legte die Stickerei hin und unterdrückte ein Gähnen. Das Gespräch begann sie zu ermüden. Man wurde nicht fertig mit dem Schwager, wenn man erst einmal auf seine Ideen einging.

»Ich muß mich einmal gegen euch aussprechen,« sagte Heinrich, dessen Gesicht um einen Schatten blässer wurde. »Ihr müßt 155 mich verstehen, ich meine es doch gut mit Georg! Ich sage, daß es schlecht und unvernünftig und grausam ist, wenn man die Kindheit auf dem Altar des Knabenalters schlachtet, und die Knabenzeit wegnimmt des Jünglingsalters wegen, und die wieder den Mannesjahren opfert – bis zum Grabe geht diese unsinnige Sorge um die Zukunft! Und am Grabe steht noch der blutige Schatten des Jenseitsglaubens und die Angst vor der Hölle und was weiß ich!«

Karl sah ihn kopfschüttelnd an. »Ich verstehe nicht, was du eigentlich sagen willst.«

»Gut. Nehmen wir den Fall ganz persönlich: ich will sagen, daß du Georg mindestens ein Jahr lang, wenn nicht länger, ganz sich selbst überlassen solltest. Schicke ihn auf Reisen, ich würde mich freuen, wenn ich sein Mentor sein – ich meine, wenn ich ihn führen könnte. Laß ihn reif werden, damit er eine Ahnung vom Treiben der Welt bekommt und dann mit Sicherheit seine Berufswahl treffen kann!«

Berghof machte eine abweisende Handbewegung. »Aber du weißt ja, daß ich ihn für die Landwirtschaft bestimmt habe! Es ist 156 alles aufs beste vorbereitet, es liegt auf der Bank für ihn Geld, die Wege sind ihm geebnet – er braucht sie nur zu gehen! Wenn ich ihn jetzt auf Reisen schicke, wird er mir zerstreut, durch alle möglichen Eindrücke ablenkt – kurz, mein ganzer Erziehungsplan durchkreuzt! Dann wird am Ende aus ihm solch ein Mensch wie –« Er hielt plötzlich inne.

»Sprich nur ruhig weiter,« sagte Heinrich mit feinem Lächeln. »Solch ein Mensch wie ich, willst du sagen. Na, schön. Dein Leben ist Sammeln und Erwerben, das meinige ein ewiges Verschwenden aller Werte des Daseins. Du bist Erbauer, ich bin Betrachter. Ist das nicht am Ende gleichgültig? Die äußern Güter, um die du ringst, sind köstlich, ja; ich habe sie oft schmerzlich entbehren müssen; aber es gibt eine andere Welt, in der ich herrsche und die mich beglückt . . . aber ich fürchte, wir entfernen uns immer mehr voneinander –«

Er stützte den Kopf in die Hand und sah vor sich hin. Wie fremd und fern erschien ihm jetzt der Bruder – fremder als ein Mensch aus einem andern Weltteil! 157

 

Frau Anna hatte die Veranda verlassen. Der Gatte sollte selbst erkennen, wie sehr sie mit ihren Worten von heute vormittag recht gehabt hatte.

Karl schlug die Beine übereinander und zündete die Zigarre wieder an, die ihm ausgegangen war. »Was du da sagst, ist mir zu hoch. Was hast du denn erreicht mit deiner Lebensanschauung? Welche Stellung könntest du jetzt einnehmen – mit deinen Kenntnissen, die viel tiefer sind als meine, mit deinen Talenten! Statt dessen hast du deine Kraft zersplittert in allerhand Spielereien, die Zeit verschwendet auf Reisen, in Bildergalerien, in Konzerten und was weiß ich, wo! Und nun willst du dem Jungen auch noch solche Dinge in den Kopf setzen?«

»Und dennoch glaube ich, daß Georg eher ein Bürger meiner Welt ist als der deinigen. Ich will ja weiter nichts, als daß du seine ruhige Entwicklung nicht stören sollst! Vielleicht ist er doch nur ein Dutzendmensch; vielleicht aber steckt mehr in ihm und sein Weg führt zu höhern Zielen als deine und meine es sind.«

»Ach was! Georg ist ein Narr!« erwiderte Berghof unmutig. 158

»Ein Narr – vielleicht – ein Narr des Herzens,« antwortete der andere.

»Wie meinst du das?«

»Ach, das ist ein Wort aus der Maikäferkomödie.«

»Schon wieder die Maikäferkomödie!« rief Karl Berghof mit ärgerlichem Lachen. »Was ist denn das für ein verrücktes Zeug?«

»Ich will es dir sagen,« erwiderte der andere, indem er aufstand und einen Schritt gegen den Bruder machte. »Das ist ein Epos, das unter dem Bilde des Maikäferschicksals von den Schmerzen und Leiden unseres eigenen Lebens singt –«

»Sonderbare Idee.«

»Es mag wohl sein, daß dir manches sonderbar erscheint, was andern Menschen an die Seele greift. Die armen Maikäfer erwarten in den Tiefen der Erde den Auferstehungstag, wo sie auf die Oberfläche kommen und das Licht der Sonne sehen, in den warmen Lüften die Freuden des Daseins genießen sollen; aber der schöne Traum ist bald zerstört, denn droben auf der Oberwelt erwarten sie Gefahren, Verfolgung und Tod. Auch der Maikäferkönig, der am 159 leidenschaftlichsten den schönen Wahn von der besten Welt bis zum Ende festhalten möchte, muß sterben an seinem Traum von Glück, den die Wirklichkeit so grausam enttäuscht – ein Narr des Herzens, die allein sind heilig.«

»Was hat denn aber die Geschichte mit unserm Thema zu tun?«

»Sehr viel, lieber Bruder. Begreifst du nicht, daß der unreife Knabe sich tief unten im Dunkel der Seele ein Weltbild vorstellt, das nicht entfernt der Wirklichkeit entspricht? Dieser Welt gibt er die Farben seiner Phantasie, durchleuchtet ihre Finsternis mit dem Licht aus seinem Herzen; und wenn er emporsteigt in den Tag und dem Leben zujauchzt, so erkennt er plötzlich, daß ihn sein Gefühl betrogen hat, daß die Welt ganz, ganz anders ist, als man es ihm in der Schule oder im Elternhaus sagte, ganz anders, als er sich sie vorgestellt hat. Und je edler und besser er ist, desto furchtbarer ist die Enttäuschung.«

Berghof sah ihn mit erstaunten Blicken an: »Ich begreife nicht, wie gerade du so sprechen kannst. Du bist doch derjenige, der ihn in seinen phantastischen Träumereien noch bestärkt!« 160

»Ich habe nur versucht, ihm zu zeigen, wie man das Leid und Elend dieses Daseins im Genuß der Kunst eine Zeitlang vergessen, das Leben durch große Gedanken verklären kann. Das ist das Beste, was ich ihm zu geben vermag. Du aber solltest zu erkennen trachten, wie sein Verhältnis zur Wirklichkeit ist, die du besser kennst als ich. Dann hätten wir beide ein wahres Verdienst an seiner Erziehung.«

Karl schüttelte den Kopf. Er konnte den Bruder durchaus nicht begreifen.

Droben löschte Georg das Licht. Jetzt herrschte nur noch der Mond in dem großen Park; er kroch in dem Astwerk der Blautanne umher, als hätte er sich dort gefangen und suche einen Ausweg, langsam, mit verdrießlichem Gesicht. 161



 << zurück weiter >>