Egid v. Filek
Ein Narr des Herzens
Egid v. Filek

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Georg hatte an Pater Ignatius geschrieben. Wie ein gewöhnliches Schreiben begann der Brief; und zum Schlusse war eine Art Beichte daraus geworden; eine Selbstanklage – denn schon fing er an vielem zu zweifeln an, was seinem Kinderglauben von einst unumstößlich gewesen war; und dann kam eine inständige Bitte um Rat und Unterweisung, wie er der sonderbaren Unruhe Herr werden könnte, die ihn in manchen Stunden quälend beschlich.

Ein wenig schwer war ihm der Brief geworden – mitunter kam es ihm vor, als hätten ihn die wenigen Wochen seit der Matura zu einem ganz andern Wesen gemacht. Da fand er plötzlich den rechten Ton nicht mehr, zerriß den Bogen und warf ihn ärgerlich in den Papierkorb.

Aber endlich stand doch alles da, in deutlichen schwarzen Buchstaben auf dem weißen Papier mit den Wasserlinien und dem 115 gedruckten Namen des Vaters in der Ecke. Alles? Nun, einiges mußte der Pater Ignatius zwischen den Zeilen lesen.

Es war Georg zumute, als müßte er vor sich selbst irgendwohin flüchten, in einen ganz stillen, heimlichen Winkel, wo man nicht laut zu reden brauchte, nicht mit dürren, klaren Worten Dinge sagen mußte, die sich vor der eigenen Seele nur hinter Nebelschleiern verbargen.

Er war sich selbst nicht klar über sein Empfinden. Wie schwer war es doch, andern einen Einblick in sein Herz zu geben!

Eine Aussprache mit dem Vater schien ihm unmöglich. Vor seiner lauten und ungebrochenen Art, die alles so sachlich, so trocken vorbrachte, wichen seine Empfindungen scheu zurück. Er konnte sich ihm nicht anvertrauen. Schon als Kind hatte ihn immer diese heimliche Angst vor dem rauhen, kräftigen Mann beherrscht. Wenn er seine kindischen Fragen stellte, woher die Sterne kämen und wie man zum Mond emporklettern könne, erhielt er immer ausweichende Antworten; niemals ging man auf seinen Gedankengang ein, höchstens bekam er die wohlmeinende Phrase: »Das 116 brauchst du jetzt noch nicht zu wissen, liebes Kind.«

Und mit der Mutter ging es ebenso. Alles, was auf sein körperliches Leben Bezug hatte, nahm sie im höchsten Grade ernst. Bei jedem Unwohlsein wurde der Herrschaftsarzt gerufen; als er im Pensionat war, bekam er jede Woche ein großes Paket mit Süßigkeiten: und jetzt noch war sie unglücklich, wenn er nicht gehörig den Speisen zusprach, die sie doch eigens für ihn zubereitet hatte.

Aber wenn er versuchte, mit ihr von seiner Zukunft zu reden, wenn er in unklaren Worten andeutete, daß neue und unbekannte Gewalten von seiner Seele Besitz ergriffen, so hörte sie mit erstauntem Gesicht eine Zeitlang zu, um dann immer wieder ungläubig zu lächeln.

Es kam ihr alles so phantastisch vor, was er sprach; sie sah in ihm immer das Kind, dessen unermüdliches Fragen sie nervös machte – in früheren Jahren hatte sie diese Eigenart Georgs mit Ungeduld erfüllt, jetzt schlich sich ein Gefühl geheimer Angst und Eifersucht in ihre Seele.

Öfter als sonst suchte sie die Gelegenheit, allein mit Georg zu sein, in dem unbestimmten 117 Gefühl, daß ihre Seelen sich nähern müßten, wenn sie körperlich beisammen waren.

Sie war ja seine Mutter! Welch ein heiliges Verhältnis, selig gesprochen durch Sitte, Religion, durch tausendjährige Gewohnheit der Menschen, geschützt durch ehrwürdige Gesetze!

Aber Georgs Augen tauchten nicht in die ihren, wenn sie abends nebeneinander auf der Veranda saßen, seine Antworten kamen oft zerstreut und zögernd, und geistesabwesend blickte er nach den Fenstern des Försterhauses, die drüben aus den dunkeln Büschen flimmerten.

Es war ein warmer Augustabend.

Berghof war mit dem Bruder zum Bergwirt gegangen; an jedem Donnerstag fanden sich dort die Honoratioren des Dorfes und die Herrschaftsbeamten ein, der Pfarrer, der Schullehrer, der Förster; sie nannten das mit Stolz »Kasino«, tranken das dünne, schlecht gepflegte Bier des Wirtes und spielten Tarok, wobei der Förster meistens verlor, weil er zu viel trank und sich dann vom Schullehrer in die Karten sehen ließ.

Georg war allein mit der Mutter. Die Stasi räumte den Tisch ab und schielte dabei 118 nach der Hausfrau. Sie wußte, daß der lange Lenz sie hinterm Zaun erwartete. Ob sie es wagen durfte, sich für eine halbe Stunde aus der Küche zu stehlen?

»Du kannst schlafen gehen, Stasi. Ich brauche dich nicht mehr.«

Die Augen der Magd leuchteten auf. Sorgfältig wie noch nie legte sie das Tischtuch zusammen, wünschte gute Nacht und ging.

Frau Anna träumte.

Der Duft des Geißblatts, den eine leichte Windwelle herübertrug, weckte in ihr die Erinnerung an jenen Abend, als Karl Berghof zum ersten Male zu ihr von seiner Liebe gesprochen hatte. Das war in dem Garten ihrer Eltern gewesen, in der kleinen Stadt, nach der sie sich so sehnte. Deutlich sah sie die hellerleuchteten Fenster vor sich, durch die man in der guten Stube der Eltern die schlechten Öldrucke erblicken konnte; die Mutter verdeckte mit ihnen die schadhaften Stellen der Wände, das war ihre Dekorationskunst. Und Berghof saß auf dem Schemel zu ihren Füßen, ein junger, blühender Mann, und nannte sie »liebstes Ännchen« und streichelte ihre Hand. 119 Sogar aus Heines Buch der Lieder las er ihr einmal vor.

Und heute? Heute sprach er zu ihr kaum von etwas anderm als von der Ernte und dem Ertrag der Felder. Dann wurde er lebhaft, da leuchtete sein graues Auge wie polierter Stahl . . . Aber sonst hatte er höchstens einen flüchtigen Kuß für sie – das war alles.

»Woran denkst du, Mutting?«

Sie schrak auf. Die Stimme Georgs war von seltsamer, männlicher Klangfarbe; ja, so hatte Karl Berghof die Worte betont – genau so – damals – damals in der längst entschwundenen Nacht, inmitten der Duftwellen des Geißblatts, die über ihnen zusammenschlugen.

»Ach – an allerlei – und auch an deine Zukunft, Georg.«

Sie schämte sich sofort der Lüge – aber konnte sie dem eigenen Kinde sagen, was ihr in diesem Augenblick durch die Seele ging?

»Meine Zukunft?« sagte Georg mit heimlichem Lächeln.

Und ein Bild, klarer als die klare Nachtluft, durch die der Sternenhimmel funkelte, stieg vor ihm auf. 120

»Darüber sollst du eigentlich gar nicht nachdenken, Mutter. Schau, es weiß ja doch niemand, was ihm der nächste Tag bringt – ist das nicht wie im Märchen, wo man ja auch nicht fragen kann, warum der Drache verzaubert wurde oder der arme Siegfried sterben muß?«

Der Onkel! Sie runzelte die Stirn: »Nein, das Leben ist kein Märchen. Es ist bittere Wirklichkeit,« sagte sie hart, als wollte sie die Träume des Knaben zurückdrängen in die Tiefe seines Herzens. »Was weißt du vom Leben!«

Das war wieder der belehrende, mütterliche Ton, so gut gemeint und doch immer wieder die Brücke zwischen den Seelen zerstörend, kaum daß sie geschlagen werden konnte.

Georg schüttelte leise den Kopf. »Es gibt soviel Schönes in der Welt. Ach, und ich habe noch so wenig gesehen – weißt du, Mutter, wenn Onkel Heinrich wieder eine Reise macht, so laß mich mit ihm fahren, ja? Schau, ich habe alles mögliche in der Schule gelernt von fremden Ländern und ihren Schätzen, von Kunstsachen und Bauwerken und was weiß ich – ich möchte das alles doch einmal sehen! 121 Und gerade jetzt wäre die beste Zeit. Dann will ich gern auf der Hochschule mein Fachstudium treiben – aber zuerst möchte ich hinaus – weit fort – in die Welt, in die große, große Welt!«

Frau Anna verstand ihn nicht. Seine Leidenschaftlichkeit erschreckte sie. Woher hatte er diesen sehnsüchtigen Drang in die Ferne? Von ihr gewiß nicht. Sie hing an dem Orte, wo sie die Jugendzeit zugebracht, mit der zähen Treue einer Katze, die nicht ihren Herrn, sondern nur das Haus liebt; niemals, auch in den Jahren mädchenhafter Sehnsucht nicht, hatte sie die Heimat mit all ihren lieben Gewohnheiten, ihrer stillen Behaglichkeit verlassen wollen. Und Berghof wußte sie ebenso frei von dergleichen merkwürdigen Ideen. Wieso kam es nun, daß ihnen das eigene Kind wie ein unheimlich Fremdes gegenüberstand?

Sie antwortete nach einer kleinen Pause: »Ich glaube nicht, daß der Vater damit einverstanden sein wird. Warte, bis du älter bist, dann kannst du ja einmal eine kleine Reise machen. Jetzt aber mußt du doch an die nächste Zukunft denken.«

Georg schwieg. 122

Sie löschte die Lampe und ging mit dem Sohn über die knarrende Holztreppe hinauf, gab ihm vor seiner Tür einen Kuß auf die Stirn und betrat das Schlafzimmer.

Aber es dauerte lange an jenem Abend, bis sie den Schlummer fand. Sie warf sich auf dem Lager hin und her und seufzte leise; es war ihr, als läge eine Last auf ihrer Brust.

Wie schwer war es doch, Mutter zu sein! Niemals hätte sie gedacht, daß sich das Kind, das sie unter dem Herzen getragen, von ihr wenden konnte, einer andern Welt zu, als ihre eigene war. Sie fand keinen Weg in dieses unbekannte Land; ein dunkles Gefühl sagte ihr, daß den Menschen, die da drüben heimisch waren, die Sonne heller leuchtete und die Blumen stärker und süßer dufteten, daß sie alles Leid und alles Glück der Welt heißer und brennender empfanden als die Wesen aus der Welt des Alltags. Heinrich war ein solcher Mensch von da drüben. . . . . Gehörte Georg auch zu ihnen? War er näher mit ihm verwandt als mit den eigenen Eltern?

Das Flämmchen der Nachtlampe auf dem Tisch zuckte leise auf und nieder. Sein müder Schein glitt über die Frauenkleider, die lässig 123 hingeworfen auf den Stühlen lagen, über die dunkelrote Bettdecke, über die weißen, vollen Arme und die runden Schultern der Frau, von denen der Ärmel des Hemdes herabgeglitten war. Sie sah verträumt an sich hernieder.

Sechsunddreißig Jahre war sie alt. Mit siebzehn hatte sie geheiratet. Sechsunddreißig – einen Mann nennt man jung in diesem Alter. Und sie war noch immer hübsch.

Hätte wohl noch lange nicht auf Liebe und Leidenschaft verzichten müssen, wenn der Mann sie nicht so vernachlässigt hätte um seiner Arbeit willen. Wenn ihr nun auch das Kind entglitt – lohnte es sich da noch zu leben? Konnte ihr die Arbeit in den Räumen des Hauses, in der sie aufging, Befriedigung und Freude geben?

Allmählich flossen ihre Gedanken träger und schwerfälliger, wie ein Strom geschmolzener Masse, der langsam erstarrt. Heinrichs Urlaub ging bald zu Ende – das war die letzte klare Vorstellung. Sie empfand eine freudige Befriedigung darüber.

Dann schlief sie ein und träumte von dem weißen Marmorknaben; Karl Berghof stand 124 vor ihm und schlug ihn mit einem Hammer in Stücke.

In dumpfen Schlägen verkündete die Kirchturmuhr des Dorfes die Mitternacht. Der Mond war von dichten, schwarzen Wolken verhüllt; die Straße, die sonst weiß durch die Nacht leuchtete, kaum sichtbar. Mit leisen Schritten schlich ein Mann an dem Rand der Straße hin, beständig in dem weichen Grase gehend. Berghof. Schon vor einer Stunde war sein Bruder ins Schloß zurückgekehrt; auch der Förster und der Lehrer mußten längst zu Hause sein. Niemand sah ihn; mit schwarzen, erloschenen Fensteraugen starrte das große Schloß in die Nacht.

Er ging wohl eine Viertelstunde weit in die Wiesen hinein, gegen den großen Heuschober, der dort in die Luft emporragte. 125



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