Henry Fielding
Die Geschichte des Tom Jones / Theil IV
Henry Fielding

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.

Handelt von einer Scene häuslicher Noth, die den meisten unsrer Leser außerordentlich vorkommen wird.

Nachdem sich Jones durch einige Stunden Schlaf erquickt hatte, rief er Partridge zu sich und befahl ihm, indem er ihm eine Banknote von funfzig Pfund übergab, dieselbe wechseln zu lassen. Partridge empfing sie mit freudestrahlenden Augen; als er indessen weiter darüber nachdachte, da stieg ein der Ehre seines Herrn nicht sehr günstiger Argwohn in ihm auf, worin ihn die schreckliche Vorstellung, welche er von der Maskerade hatte, die Verkleidung, in der sein Herr ausgegangen und wiedergekommen war, so wie sein Außenbleiben die ganze Nacht 200 hindurch noch bestärkte. Kurz, der einzige Weg, auf dem er sich denken konnte, daß Jones in den Besitz der Banknote gelangt wäre, war Raub; und, um der Wahrheit die Ehre zu geben, wird der Leser sich die Sache kaum anders erklären können, wenn er nicht etwa auf die Vermuthung gerathen sollte, daß er sie der Freigebigkeit der Lady Bellaston verdankte.

Um daher Herrn Jones Ehre zu retten und der Freigebigkeit der Lady Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, bezeugen wir hiermit, daß er dieses Geschenk wirklich von ihr erhalten hatte und daß sie, obgleich ihr die gewöhnliche Mildthätigkeit älterer Leute, welche gern Spitäler oder andere Stiftungen gründen, nicht viel kostete, dennoch dieser christlichen Tugend nicht ganz entbehrte; sie dachte sich nämlich (und wie mir scheint, sehr richtig), daß ein junger würdiger Mann, der auf der Welt nicht einen Schilling hatte, kein ungeeigneter Gegenstand dieser Tugend wäre.

Herr Jones und Herr Nachtigall waren diesen Tag bei Madame Miller zu Tische eingeladen. Zur bestimmten Stunde fanden sich daher die beiden Herren im Besuchzimmer ein, wo sie in Gesellschaft der Töchter vom Hause von drei bis beinahe fünf Uhr warteten, ehe die gute Frau erschien. Sie war über Land gewesen, um eine Verwandte zu besuchen, worüber sie bei ihrer Rückkehr folgende Mittheilung machte.

»Ich hoffe meine Herren, Sie werden mir verzeihen, daß ich Sie habe warten lassen; ich bin gewiß, wenn Sie die Verhältnisse kennten – ich habe, ungefähr sechs Meilen von hier, eine Nichte besucht, die in den Wochen liegt. Es sollte für alle eine Warnung sein (dabei sah sie ihre Töchter an), sich nicht leichtsinnig zu verheirathen. Es giebt kein Glück in der Welt, wenn man nicht sein 201 nothdürftiges Auskommen hat. O Anna! wie soll ich Dir das Elend beschreiben, worin ich eure arme Cousine fand. Sie war kaum acht Tage entbunden und da lag sie, bei diesem schrecklichen Wetter, in einem kalten Zimmer, ohne Vorhang vor ihrem Bett, ohne Kohlen im Hause, um ein Feuer anzumachen. Ihr zweiter Sohn, jener liebliche kleine Knabe, liegt an der Bräune danieder, und in demselben Bett mit seiner Mutter; denn es ist kein anderes Bett im Hause. Armer kleiner Tommy! Ich fürchte, Anna, Du wirst Deinen Liebling nicht wieder sehen; denn er ist wirklich sehr krank. Die übrigen Kinder befinden sich ziemlich wohl; nur besorge ich, daß sich Molly Schaden thun wird; sie ist erst dreizehn Jahre alt, Herr Nachtigall, und dennoch sah ich nie eine bessere Wärterin; sie pflegt beide, ihre Mutter und ihren Bruder; und was an einem so jungen Mädchen am meisten zu bewundern ist, sie erscheint immer guten Muthes in Gegenwart ihrer Mutter; und dennoch sah ich sie – ich sah das arme Kind hinweggehen und sich unvermerkt die Thränen aus den Augen wischen.« Hier ward Madame Miller durch ihre eignen Thränen am Weitersprechen verhindert, und, ich glaube, es war niemand unter den Anwesenden, der ihre Rührung nicht theilte. Endlich faßte sie sich wieder und fuhr folgendermaßen in ihrer Erzählung fort. »Bei aller dieser Noth zeigt die Mutter eine bewundernswürdige Standhaftigkeit. Die Gefahr ihres Sohnes lastet am Schwersten auf ihr; und auch diese Sorge bemüht sie sich, um ihres Mannes willen, so viel als möglich zu verbergen. Bisweilen gewinnt freilich ihr Kummer trotz aller ihrer Bemühung die Oberhand; denn sie war stets ein gefühlvolles, gutmüthiges Wesen. Ich gestehe, nichts in meinem Leben hat mich mehr gerührt, als wie der Kleine, der kaum sieben Jahre alt ist, während seine Mutter ihn mit ihren Thränen 202 benetzte, ihr zuredete, doch nicht zu weinen. »Gewiß, Mamma,« rief das Kind, »ich werde nicht sterben, Gott wird Tommy gewiß nicht von Dir wegnehmen; wenn es auch im Himmel noch so schön ist, ich bleibe doch lieber hier und will mit Dir und meinem Papa Hunger leiden.« Verzeihen Sie mir, ich kann mir nicht helfen,« sagte sie, während sie ihre Thränen trocknete, »solches Gefühl und solche Liebe in einem Kinde! – Und gleichwohl ist er vielleicht am wenigsten zu bedauern, denn einen oder zwei Tage noch, und er ist höchstwahrscheinlich von allen Erdenleiden befreit. Der Vater ist in der That am meisten zu bemitleiden. Der arme Mann! sein Gesicht ist ein wahres Schreckenbild, und er sieht eher einem Todten ähnlich als einem Lebenden. O Himmel! welch eine Scene war es, die ich erblickte, als ich zuerst in das Zimmer trat! Der Arme lag hinter dem Kopfkissen, um seine Frau und sein Kind zu unterstützen. Er hatte nichts als eine dünne Jacke an; denn sein Rock war in Ermangelung einer Decke über das Bett gebreitet. Bei meinem Eintreten stand er auf, aber ich erkannte ihn kaum. Ein so hübscher Mann, Herr Jones, noch vor vierzehn Tagen, wie Sie nur jemals einen sehen konnten; Herr Nachtigall hat ihn gesehen. Seine Augen waren eingesunken, das Gesicht bleich, der Bart lang gewachsen. Er zitterte am ganzen Leibe vor Kälte und war abgezehrt von Hunger; denn meine Nichte sagte, sie könne ihn nur mit Mühe zum Essen bewegen. Er selbst sagte mir, mit leiser Stimme – er sagte mir – ich kann es nicht wiederholen – er sagte, er könne es nicht über sich bringen, das Brot zu essen, das seine Kinder brauchten. Und dennoch, werden Sie es glauben, meine Herren? in aller dieser Noth hatte seine Frau eine so gute und kräftige Suppe, als ob sie im größten Ueberfluß lebten; ich kostete sie, und ich habe sie 203 kaum jemals besser gegessen. Die Mittel, sie ihr zu verschaffen, sagte er, müßten ihm von einem Engel im Himmel gesendet worden sein. Ich weiß nicht was er damit meinte; denn ich hatte nicht Muth genug, eine einzige Frage zu thun.

»Dies war eine Heirath aus Neigung, wie sie das nennen, das heißt eine Heirath zwischen zwei Bettlern. Ich muß in der That bekennen, ich habe nie ein verliebteres Paar gesehen; aber was nützt ihnen ihre Liebe, als daß sie einander quälen?« »Wirklich, Mamma,« rief Anna, »ich habe die Cousine Anderson (das war ihr Name) immer für eine der glücklichsten Frauen gehalten.« »So viel ist gewiß,« sagte Madame Miller, »daß das jetzt ganz anders ist; denn niemandem würde es entgangen sein, daß die zarte Rücksicht auf die Leiden des andern für beide, den Gatten wie für die Gattin, das Drückendste von ihrem Elend war, und daß, im Vergleich damit, Hunger und Kälte, da sie blos ihre eigene Person angehen, kaum für Uebel zu halten sind. Ja selbst die Kinder, das jüngste ausgenommen, das noch nicht zwei Jahre alt ist, fühlen eben so; denn die ganze Familie ist eine Liebe; und wenn sie nur ein kärgliches Auskommen hätten, sie würden die glücklichsten Menschen von der Welt sein.« – »Ich sah doch niemals die geringste Spur von Elend in ihrem Hause,« entgegnete Anna; »wahrhaftig, mein Herz blutet mir bei Deiner Erzählung.« »O Kind,« erwiederte die Mutter, »sie suchte immer Alles zum Besten zu verwenden. Sie sind stets in großer Dürftigkeit gewesen; aber freilich, an seinem gänzlichen Ruin haben Andere die Schuld. Der arme Mann war Bürge für den Schurken, seinen Bruder, und ungefähr vor einer Woche, gerade den Tag vor ihrer Niederkunft, wurde ihnen ihre ganze Habe weggenommen und verkauft. Er schrieb es mir in einem 204 Briefe, der leider nicht an mich abgegeben worden ist. Was mußte er von mir denken, daß eine Woche vergehen konnte, ohne daß ich von mir hören ließ?«

Jones waren mehrmals die Augen bei dieser Erzählung übergegangen; als sie zu Ende war, nahm er Madame Miller bei Seite, ging mit ihr in ein anderes Zimmer und bat sie, indem er ihr seine Börse mit funfzig Pfund übergab, davon jenen armen Leuten, so viel als ihr gut dünkte, zu überschicken. Der Blick, mit dem Madame Miller Jones bei dieser Gelegenheit ansah, läßt sich nicht leicht beschreiben. Sie gerieth in eine Art von freudiger Entzückung und rief aus: – »Gott im Himmel! giebt es einen solchen Mann auf der Welt?« Aber sich wieder sammelnd sagte sie: »Freilich, ich kenne ja einen; aber kann es mehr als diesen geben?« »Ich hoffe, Madame,« rief Jones, »daß es viele giebt, die die Pflicht der Menschlichkeit üben, denn mehr ist es nicht, solche Noth bei unsern Nebenmenschen zu lindern.« Madame Miller nahm dann zehn Guineen, was die höchste Summe war, die er ihr aufnöthigen konnte, und sagte, sie würde Gelegenheit finden, sie den nächsten Morgen früh an die armen Leute abzuschicken, für die sie selbst schon etwas gethan und die sie nicht so ganz hülflos verlassen hätte, als sie dieselben gefunden.

Sie gingen dann in das Besuchzimmer zurück, wo Nachtigall sich mit vieler Theilnahme über die schreckliche Lage dieser armen Leute aussprach, die er mehr als einmal bei Madame Miller gesehen hatte. Er eiferte gegen die Thorheit, sich für die Schulden Anderer zu verbürgen, zog mit vieler Bitterkeit gegen den Bruder los und schloß mit dem Wunsche, daß für die unglückliche Familie etwas möchte gethan werden. »Wenn Sie nun, Madame,« sagte er, »Herrn Allworthy diese Leute empfehlen? Oder 205 was meinen Sie zu einer Collecte? Ich will recht gern eine Guinee dazugeben.«

Madame Miller erwiderte nichts darauf, und Anna, der ihre Mutter Jones' Freigebigkeit heimlich erzählt hatte, erbleichte darüber, obgleich eigentlich niemand Ursache haben konnte, böse auf Nachtigall zu sein. Denn Jones' Freigebigkeit, hätte er sie gekannt, war kein Beispiel, dem zu folgen er irgend eine Verpflichtung hatte; auch giebt es ja Tausende, die nicht einen Heller gegeben haben würden, wie er denn in der That auch nichts gab; denn er machte kein Anerbieten und da die Andern es nicht für gut fanden, zu fordern, so behielt er sein Geld in der Tasche.

Ich habe in Wahrheit beobachtet, und ich werde nie eine bessere Gelegenheit finden, meine Beobachtung mitzutheilen, daß die Welt hinsichtlich der Mildthätigkeit sich im allgemeinen in zwei Ansichten scheidet, die einander gerade entgegengesetzt sind. Die eine Partei scheint zu glauben, daß alle solche Acte als willkührliche Gaben betrachtet werden müssen; und wie wenig Du auch geben magst, Du Dir dennoch ein hohes Verdienst dadurch erwirbst. Andere dagegen scheinen eben so fest überzeugt, daß Wohlthun eine positive Pflicht ist, und daß, wenn die Reichen weit weniger zur Verminderung der Noth der Armen beitragen als sie im Stande sind, ihre erbärmlichen, wenn auch großen Gaben so weit entfernt davon sind, ihnen als Verdienst angerechnet werden zu können, daß sie vielleicht ihre Pflicht nur halb erfüllt haben und in gewisser Hinsicht mehr Verachtung verdienen als die sie ganz versäumen.

Diese verschiedenen Ansichten auszugleichen steht nicht in meiner Macht. Ich will nur noch anführen, daß sich die Geber im Allgemeinen zu der ersteren und die Empfänger fast alle zu der letzteren hinneigen.


 << zurück weiter >>