Henry Fielding
Die Geschichte des Tom Jones / Theil IV
Henry Fielding

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Neuntes Kapitel.

Der Morgen. Ein Postwagen. Die Höflichkeit der Kammerjungfern. Sophiens hoher Gleichmuth. Ihre Freigebigkeit. Die Abreise der Gesellschaft und ihre Ankunft in London; nebst einigen nützlichen Bemerkungen für Reisende.

Jene Mitglieder der menschlichen Gesellschaft, die dazu geboren sind, die Segnungen des Lebens herbeizuschaffen, fingen jetzt an, ihre Lichter anzuzünden, um ihre täglichen Arbeiten zum Vortheil derjenigen vorzunehmen, die dazu geboren sind, diese Segnungen zu genießen. Der rüstige Knecht macht jetzt seinen Morgenbesuch bei seinem Arbeitsgefährten, dem Ochsen; der geschickte Künstler und der fleißige Handwerker springen von ihren harten Matratzen auf, und es beginnt die knochige Hausmagd die gestörte Ordnung im Spielzimmer wieder herzustellen, während die schwelgerischen Urheber jener Unordnung sich in einem wüsten und 60 unterbrochenen Schlafe umherwerfen, als wenn die Daunen zu hart wären, um darauf ruhen zu können.

Mit einfachen Worten, es hatte kaum sieben Uhr geschlagen, als unsere Damen reisefertig waren; und da sie abzureisen wünschten, so war auch der Lord mit seiner Equipage bald zu ihren Diensten bereit.

Aber nun entstand eine Schwierigkeit, wie nämlich der Lord selbst fortkommen sollte; denn obgleich der umsichtige Kutscher des Wagens, dessen Passagiere nicht anders als Gepäck betrachtet werden, mit aller Leichtigkeit ein halbes Dutzend auf einen Platz für vier Personen zusammenpackt, weil er es einzurichten versteht, daß die dicke Wirthin, oder der wohlgenährte Rathsherr nicht mehr Raum einnimmt, als die schlanke Mamsell oder der schmächtige Schullehrer, indem die Eingeweide die natürliche Eigenschaft besitzen, nachzugeben, wenn sie zusammengedrückt werden, und sich in einen engen Raum zusammendrängen zu lassen; so wird doch diese Methode der Verpackung auf Postwagen, wenn sie gleich oft größer sind wie die andern, nie versucht.

Der Lord würde die Schwierigkeit kurz dadurch gehoben haben, daß er, wie er es auch galanter Weise wünschte, sein Reitpferd bestieg; aber Madame Fitzpatrick wollte das durchaus nicht zugeben. Man beschloß daher, daß die Zofen abwechselnd auf des Lords Pferden reiten sollten, zu welchem Behuf sogleich ein Frauensattel herbeigeholt wurde.

Nachdem im Gasthofe alles geordnet war, entließen die Damen ihre bisherigen Führer und Sophie machte dem Wirthe ein Geschenk, theils als Entschädigung für seine durch sie selbst erhaltene Quetschung, theils für das, was er unter den Händen ihres wüthenden Kammermädchens gelitten hatte. Und jetzt entdeckte Sophie erst einen Verlust, der sie einigermaßen beunruhigte, nämlich den Verlust der Hundert-Pfund-Note, die sie kurz vor ihrer Flucht von 61 ihrem Vater erhalten hatte und in welcher, außer einer sehr unbeträchtlichen Summe, ihr ganzes gegenwärtiges Vermögen bestand. Sie suchte überall, kehrte alle ihre Sachen um, doch vergebens, die Banknote fand sich nicht: so daß sie endlich zu der festen Ueberzeugung kam, dieselbe aus ihrer Tasche verloren zu haben, als sie auf jenem dunkeln und schmalen Wege von ihrem Pferde fiel. Dies war ihr um so wahrscheinlicher, als sie sich jetzt erinnerte, daß ihre Taschen damals in einiger Unordnung gewesen waren, und daß sie ihr Tuch unmittelbar vor ihrem Falle nur mit Mühe hatte herausziehen können, um Madame Fitzpatrick damit auszuhelfen.

Unfälle dieser Art, welche Verlegenheit sie auch verursachen können, sind dennoch unvermögend, einen einigermaßen energischen Geist ohne Beistand des Geizes niederzubeugen. Sophie bezwang daher, obgleich ihr in ihrer gegenwärtigen Lage nichts ungelegener kommen konnte als dieser Zufall, alsbald ihren Verdruß und kehrte, ihre gewohnte Heiterkeit auf dem Gesichte, zur Gesellschaft zurück. Der Lord brachte die Damen in den Wagen, so auch Mamsell Honour, die nach vielen höflichen Entschuldigungen und Weigerung endlich dem höflichen Ungestüm ihrer Schwester-Zofe nachgab und sich dazu verstand, zuerst im Wagen zu fahren, worin sie in der That nachher gern die ganze Reise über sitzen geblieben wäre, hätte sie ihre Herrin nicht, nach verschiedenen fruchtlosen Winken, endlich gezwungen, ihren Platz auch einmal mit dem Sattel zu vertauschen.

So wie der Wagen die Gesellschaft eingenommen hatte, fing er an sich vorwärts zu bewegen. Ihm folgten viele Bediente und zwei Schmarotzer, welche vorher mit dem Lord gefahren waren und um eines weit geringfügigeren Anlasses willen, als der war, zweien Damen Platz zu machen, aus dem Wagen würden entlassen worden sein. 62 Hierin benahmen sie sich nur als Gentlemen; aber sie würden jederzeit bereit gewesen sein, Bedientenverrichtungen zu übernehmen, oder sich noch tiefer zu erniedrigen, wenn ihnen nur dadurch die Ehre der Gesellschaft des Lords und der Vortheil seines Tisches geworden wäre.

Der Wirth war so erfreut über das von Sophien erhaltene Geschenk, daß er über seiner Freude seine Quetschungen und seine Schrammen im Gesicht ganz vergaß. Der Leser wird vielleicht gern wissen wollen, worin dieses Geschenk bestanden habe, aber hierin können wir seine Neugierde nicht befriedigen. Was es auch immer gewesen sein möge, so viel ist gewiß, daß sich der Wirth für seine erlittenen Verletzungen für entschädigt hielt, nur bedauerte er, nicht vorher gewußt zu haben, daß die Dame so wenig Werth auf ihr Geld legte. »Denn,« sagte er, »man hätte gewiß jede Summe auf ihrer Rechnung auf das Doppelte erhöhen können, und sie würde keinen Abzug gemacht haben.«

Seine Frau war indessen weit entfernt, diesen Schluß daraus zu ziehen; ob sie wirklich die Verletzungen ihres Mannes schmerzlicher empfand als dieser, will ich nicht sagen; gewiß aber ist, daß sie durch Sophiens Freigebigkeit weniger zufrieden gestellt war. »In der That,« rief sie, »die Dame weiß mit ihrem Gelde besser umzugehen als Du denkst. Sie mochte sich recht wohl vorstellen, daß wir uns so etwas nicht würden gefallen lassen ohne irgend eine Genugthuung zu erhalten, und das Gericht würde ihr bei weitem mehr gekostet haben als dieser Bettel, den Du zu meiner Verwunderung angenommen hast.« – »Du bist immer so superklug,« sagte der Mann: »es würde ihr mehr gekostet haben, so? Meinst Du, das weiß ich nicht eben so gut wie Du? Aber wäre das, was es gekostet hätte, mochte es mehr oder auch nur eben so viel sein, in unsere Tasche geflossen? Ja, wenn unser Sohn Tom, der Advokat, 63 noch gelebt hätte, da hätte ich froh sein können, ihm ein so hübsches Geschäft zuzuwenden. Er würde einen schönen Thaler Geld herausgezwackt haben; aber ich habe jetzt keinen Verwandten, der Advokat ist, und warum sollte ich um des Gewinns Fremder willen vor Gericht gehen?« – »Nein, das ist wahr,« erwiederte sie, »Du mußt das am besten wissen.« – »Das wollt' ich glauben,« war seine Antwort. »Ich denke, wenn Geld zu verdienen ist, da ist meine Nase so fein wie die eines andern. Nicht ein jeder, sage ich Dir, würde das den Leuten aus der Tasche herausgeschwatzt haben. Glaube mir das; nicht ein jeder würde das herausgelockt haben, das kann ich wohl sagen.« Die Frau stimmte dann in den Beifall über ihres Mannes Scharfsinn mit ein; und somit endete ihr kurzes Zwiegespräch über diesen Gegenstand.

Wir wollen daher Abschied nehmen von diesen guten Leuten und uns dem Lord und seinen schönen Begleiterinnen anschließen, die mit solcher Schnelligkeit dahinfuhren, daß sie eine Reise von neunzig englischen Meilen in zwei Tagen vollendeten und am zweiten Abend in London ankamen, ohne auf ihrem Wege auf irgend ein Abenteuer zu stoßen, das des Wiedererzählens werth wäre. Unsere Feder soll daher die Eile der Reisenden nachahmen und gleichen Schritt mit ihnen halten. Gute Schriftsteller werden überhaupt wohlthun, sich in dieser Hinsicht den einsichtsvollen Reisenden zum Muster zu nehmen und allezeit so wie dieser seinen Aufenthalt an einem Orte nach den Schönheiten und Merkwürdigkeiten desselben abzumessen. In Esher, in Stowe, in Wilton, in Estbury und Prior's Park sind Tage zu kurz, um der entzückten Phantasie zu genügen, während wir bewundern, was die Kunst zur Verschönerung der Natur gethan hat. In einigen dieser Orte nimmt die Kunst unsere Bewunderung vorzugsweise in Anspruch; in andern 64 streiten Natur und Kunst um unsern Beifall; aber an dem letzten scheint jene zu triumphiren. Hier erscheint die Natur in ihrem reichsten Schmucke, und die Kunst, in das bescheidene Gewand der Einfachheit gehüllt, dient ihrer segensreichen Meisterin. Hier schüttet die Natur in der That die herrlichsten der Gaben aus, mit denen sie diese Welt freigebig beschenkt hat, und der menschliche Geist bietet Dir hier Gegenstände, die nur in der andern übertroffen werden können.

Der nämliche Geschmack, die nämliche Einbildungskraft, welche bei diesen herrlichen Scenen schwelgend verweilen, finden sich auch durch Gegenstände von weit geringerer Bedeutung angezogen. Die Wälder, die Flüsse und die Ebenen von Devon und Dorset fesseln das Auge des sinnigen Reisenden und hemmen seinen Schritt; um diesen Aufenthalt auszugleichen, eilt er dann flüchtig über die traurige Haide von Bagshot oder über jene freundliche Ebene, die sich westlich von Stockbridge ausbreitet, wo sich dem Blicke auf eine Entfernung von sechzehn Meilen nichts weiter darbietet als ein einzeln stehender Baum, wenn nicht etwa die Wolken sich unserer schmachtenden Lebensgeister erbarmen und ihre mannichfaltigen Gebilde freundlich vor unsern Blicken aufbauen.

Nicht so reist der auf Gelderwerb sinnende Handelsmann, der spürende Rechtsbeamte, der würdebekleidete Doctor, der wohlhabende Viehhändler, und wie sie alle heißen, die zahlreichen Schoßkinder des Reichthums und der Philisterhaftigkeit. Dahin treiben sie in gleichmäßiger Eile, durch die grünen Fluren wie über die dürre Heide, ihre Pferde, um auf das Genaueste vier und eine halbe Meile per Stunde zurückzulegen, die Augen des Thieres sowie ihres Herrn nur vorwärts gerichtet und die nämlichen Gegenstände in der nämlichen Weise anschauend. Mit gleicher 65 Flüchtigkeit überblickt der gute Reiter die stolzesten Prachtwerke der Baukunst und jene schönen Gebäude, womit irgend ein unbekannter Name die reiche blühende Stadt geschmückt hat; wo sich Haufen von Steinen aufthürmen wie zu einem Monumente, um zu verkündigen, daß zuvor Haufen von Geld hier aufgethürmt wurden.

Und nun, lieber Leser, wollen wir es, da uns daran liegt, so schnell als möglich wieder zu unsrer Heldin zu kommen, Deinem Scharfsinne überlassen, dies alles auf die böotischen Schriftsteller anzuwenden, so wie andrerseits auf diejenigen, welche das Entgegengesetzte von ihnen sind. Du wirst das sehr gut ohne unsern Beistand bewerkstelligen können. Strenge daher deinen Geist dabei selbst an; denn obschon wir dir bei schwierigen Punkten stets geeigneten Beistand leihen wollen, so erwarten wir doch nicht, gleich andern, von dir, daß du zur Divinationskunst deine Zuflucht nehmen sollst, um hinter unsere Meinung zu kommen; doch wollen wir deiner Trägheit nicht fröhnen, wo es blos einiges Nachdenkens bedarf; denn du würdest dich sehr irren, wenn du glauben wolltest, wir hätten, als wir dieses große Werk begannen, nicht auf deinen Scharfsinn etwas mitgerechnet, oder du könntest diese Seiten mit Vergnügen oder Nutzen durchlesen, ohne dieses Talent bisweilen zu üben.


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