Henry Fielding
Die Geschichte des Tom Jones / Theil IV
Henry Fielding

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Zehntes Kapitel.

Enthält einen oder einige Winke in Bezug auf Tugend, und einige mehr in Bezug auf Verdacht.

Unsere Reisegesellschaft war jetzt in London angekommen und in dem Hause des Lords abgestiegen. Während sie sich von den Strapazen ihrer Reise erholten und Erfrischungen 66 einnahmen, wurden Diener beauftragt, eine Wohnung für die beiden Damen einzurichten; denn da sich die Gemahlin des Lords damals nicht in der Stadt befand, so wollte sich Madame Fitzpatrick durchaus nicht dazu verstehen, in der Wohnung des Peers ein Zimmer anzunehmen.

Manche Leser werden vielleicht dieses außerordentliche Zartgefühl der Tugendhaftigkeit als zu weit getrieben tadeln; aber wir müssen billige Rücksicht nehmen auf ihre Lage, die, offen gestanden, sehr kritisch war; und wenn wir die Bosheit tadelsüchtiger Zungen erwägen, so müssen wir zugeben, daß, wenn es ein Fehler war, dieser Fehler nur in der Uebertreibung lag und daß jedes Frauenzimmer in derselben Lage wohlthun wird, ihn nachzuahmen. Der äußere Schein der Tugend, wenn er nichts als Schein ist, mag zwar, ohne alle Rücksichtsnahme, etwas weniger löblich erscheinen als die Tugend selbst ohne diesen Schein; aber er wird nichts desto weniger stets dringender empfohlen werden, und darin werden, glaube ich, Alle übereinstimmen, daß es, einige besondere Fälle ausgenommen, für jedes Frauenzimmer nothwendig ist, auf das eine oder das andere zu halten.

Nachdem eine Wohnung eingerichtet war, begleitete Sophie ihre Cousine für diesen Abend dahin, beschloß aber, sich am nächsten Morgen früh nach der Dame zu erkundigen, in deren Schutz sie sich, wie wir zuvor gemeldet haben, zu begeben vorgenommen hatte, als sie ihres Vaters Haus verließ. Und in diesem Vorsatze bestärkten sie einige Bemerkungen, die sie während ihrer Reise im Wagen gemacht hatte, noch um so mehr.

Da wir dem Charakter Sophiens die häßliche Eigenschaft des Argwohns auf keine Weise beigelegt wissen möchten, so bangt uns beinahe davor, unserm Leser die Gedanken zu offenbaren, die ihr Gemüth in Betreff der Madame 67 Fitzpatrick beunruhigten, über die sie jetzt wirklich einige Bedenken hegte; und da diese im Busen der bösesten Leute am leichtesten Eingang finden, so halten wir es für gerathen, uns nicht deutlicher zu erklären, ehe wir nicht ein oder zwei Worte über den Argwohn im Allgemeinen zu unserm Leser gesprochen haben.

Es hat mir immer geschienen, als gebe es zwei Grade des Argwohns. Den ersten derselben möchte ich vom Herzen ableiten, da sein ungemein rasches Urtheil irgend einen vorherbestehenden innern Impuls voraussetzen zu lassen scheint, und dies um so mehr, als dieser superlative Grad sich oft die Gegenstände selbst schafft, sieht, was nicht ist, und allezeit mehr als wirklich existirt. Dies ist jener alles durchdringende Scharfsinn, dessen Falkenaugen kein Symptom des Bösen entgehen kann; der nicht allein die Handlungen, sondern auch die Worte und Blicke der Menschen beobachtet; und sowie er im Herzen des Beobachters wurzelt, so dringt er auch in das Herz des Beobachteten ein und spürt daselbst das Schlechte gleichsam in seinem ersten Keime aus, ja bisweilen ehe es noch eigentlich empfangen worden ist – ein bewunderungswürdiges Talent, wenn es untrüglich wäre: allein da auf diesen Grad von Vollkommenheit nicht einmal mehr als ein sterbliches Wesen Anspruch gemacht hat, so ist aus der Trüglichkeit so scharfen Urtheils manches Unheil entsprungen und für Unschuld und Tugend das schwerste Herzeleid hervorgegangen. Ich kann daher nicht umhin, diesen Scharfblick in Hinsicht auf Entdeckung des Bösen selbst als ein Laster und als ein sehr verderbliches Uebel zu betrachten. Und um so mehr glaube ich das, als ich, aus den oben angeführten Gründen, und aus einem noch nicht erwähnten, dem nämlich, daß ich ihn noch nie als die Eigenschaft eines guten Menschen kennen lernte, schließen muß, daß er aus einem schlechten Herzen 68 entspringt. Von diesem Grade des Argwohns also spreche ich Sophien gänzlich und unbedingt frei.

Ein zweiter Grad dieser Eigenschaft scheint seinen Ursprung im Kopfe zu haben. Dieser besteht in der That in nichts anderem als in der Fähigkeit, das zu sehen, was vor unsern Augen liegt, und aus dem Gesehenen Folgerungen zu ziehen. Das erstere ist für jeden unumgänglich, der Augen hat, und das letztere ist vielleicht eine nicht weniger unausweichliche Nothwendigkeit für alle, die Gehirn haben. Dieser Argwohn ist ein eben so entschiedener Feind der Schuld, wie jener der Unschuld; auch kann ich selbst dann nichts Gehässiges darin finden, wenn er, wie das bei unsrer menschlichen Schwäche geschehen kann, einmal irrig sein sollte. Zum Beispiel wenn ein Ehemann seine Frau zufällig auf dem Schoße oder in der Umarmung eines jener zierlichen jungen Herren finden sollte, welche die Kunst üben, Hörner aufzusetzen, so glaube ich, würde ich ihn nicht sehr darum tadeln, wenn er aus den Vertraulichkeiten, die er wirklich gesehen hat, und die wir zum wenigsten glimpflich beurtheilen, wenn wir sie eine unschuldige Freiheit nennen, etwas mehr folgert als er sah. Der Leser wird sich eine große Menge Beispiele selbst bilden können. nur eines will ich noch anführen, das, mag es auch von einigen für unchristlich gehalten werden, mir wenigstens durchaus Rechtfertigung zu verdienen scheint: ich meine nämlich den Argwohn, daß ein Mann fähig ist zu thun, was er schon gethan hat, und daß es für einen, der einmal ein Bösewicht war, möglich ist, von Neuem in diese Rolle zurückzuverfallen. Und, die Wahrheit zu gestehen, dieses Argwohns glaube ich, machte sich Sophie schuldig. Er brachte sie in der That auf die Meinung, daß ihre Cousine wirklich nicht besser wäre, als sie sein sollte.

Die Sache, scheint es, war folgende. Madame Fitzpatrick 69 bedachte klüglich, daß die Tugend einer jungen Dame in der großen Welt gleiches Schicksal theilt mit einem armen Hasen, der, so oft er sich herauswagt, gewiß ist, auf seine Feinde zu stoßen; denn kaum kann ihm sonst wer begegnen. Kaum hatte sie daher beschlossen, die erste Gelegenheit zu ergreifen und den Schutz ihres Gemahls zu verlassen, als sie auch damit umging, sich unter den Schutz eines andern Mannes zu begeben; und wer hätte sich mehr zu ihrem Hüter geeignet als ein Mann von Range, Vermögen und Ehre, der, abgesehen von seiner ritterlichen Galanterie, die ihm, wie den fahrenden Rittern, zur Pflicht machte, den Frauen in der Noth beizustehen, ihr oft eine lebhafte Zuneigung zu erkennen gegeben und auch bereits alle ihm zu Gebote stehenden Beweise davon geliefert hatte?

Aber da dieser Posten eines Vicegatten oder Beschützers einer entlaufenen Frau sonderbarer Weise vom Gesetze übergangen worden ist, und da die Bosheit denselben gern mit einem schlimmeren Namen benennt, so wurde beschlossen, daß der Lord alle solche Ritterdienste der Dame insgeheim und ohne den Charakter ihres Beschützers öffentlich anzunehmen, erweisen sollte. Ja, um zu verhüten, daß irgend jemand anderes ihn dafür hielte, kam man überein, daß die Dame direct nach Bath, der Lord aber erst nach London gehen und von da auf Anrathen seines Arztes dorthin kommen sollte.

Nun war dies Alles Sophien vollkommen klar geworden, weniger aus Aeußerungen oder dem Betragen der Madame Fitzpatrick, als des Peers, welcher in der Kunst ein Geheimniß zu bewahren unendlich weniger erfahren war, als diese gute Dame; auch trug vielleicht das gänzliche Stillschweigen, womit Madame Fitzpatrick diesen Gegenstand in ihrer Erzählung überging, nicht wenig dazu 70 bei, diesen Argwohn, der jetzt in ihrer Cousine aufgestiegen war, zu bestärken.

Die Dame, welche Sophie suchte, war sehr leicht ausgefunden; denn es gab in der That keinen Portchaisenträger in der Stadt, dem ihr Haus nicht vollkommen genau bekannt gewesen wäre; und da sie auf ihre Anmeldung eine recht dringende Einladung erhielt, so nahm sie dieselbe unverzüglich an. Madame Fitzpatrick ging in ihrem Bitten, daß ihre Cousine bei ihr bleiben möchte, wirklich nicht weiter als es die Höflichkeit erforderte. Ob sie von dem erwähnten Argwohn etwas gemerkt hatte und sich davon unangenehm berührt fühlte, oder ob aus irgend einem andern Grunde, kann ich nicht sagen; aber gewiß ist, daß sie Sophien eben so gern gehen sah, als diese ging.

Sophie konnte, als sie von ihrer Cousine Abschied nahm, es sich nicht versagen, ihr einen wohlgemeinten Wink zu ertheilen. Sie bat sie, um des Himmels willen Acht auf sich zu haben und zu bedenken, in welcher gefahrvollen Lage sie sich befinde, auch sprach sie die Hoffnung aus, daß sich irgend ein Mittel finden werde, sie mit ihrem Gatten auszusöhnen. »Erinnere Dich des Grundsatzes, liebe Cousine,« sagte sie, »den die Tante Western uns beiden so oft wiederholte: daß, wenn einmal der eheliche Frieden gebrochen ist und Mann und Frau sich gegenseitig den Krieg erklärt haben, diese kaum einen unvortheilhaften Friedensvertrag abschließen kann, mögen die Bedingungen sein, welche sie wollen. Dies sind unsrer Tante eigene Worte und sie hat reiche Erfahrungen in der Welt gesammelt.« Madame Fitzpatrick antwortete mit einem höhnischen Lächeln: »Fürchte nichts für mich, Kind, gieb Acht auf Dich selbst; denn Du bist jünger als ich. Ich werde Dich in einigen Tagen besuchen; aber, liebe Sophie, nimm einen Rath von mir an: lege den Charakter der Altklug ab, den Du vom Lande 71 mitgebracht hast; denn glaube mir, er würde Dir in dieser Stadt sehr übel anstehen.«

So trennten sich die beiden Cousinen und Sophie begab sich direct zu Lady Bellaston, bei der sie eine überaus herzliche sowohl als höfliche Aufnahme fand. Die Lady hatte sie sehr lieb gewonnen, als sie dieselbe früherhin bei ihrer Tante Western gesehen hatte. Sie war wirklich außerordentlich erfreut, sie zu sehen, und rühmte, nachdem sie die Gründe erfahren hatte, aus denen sie dem Squire entflohen und nach London gekommen war, ihre Einsicht und Entschlossenheit; und nachdem sie ihre höchste Zufriedenheit darüber an den Tag gelegt hatte, daß Sophie eine so gute Meinung von ihr hegte, ihr Haus zu einem Zufluchtsorte zu wählen, sagte sie ihr allen nur möglichen Schutz zu, den zu gewähren in ihrer Macht stehen würde.

Da wir Sophien jetzt in sichere Hände gebracht haben, so wird es der Leser hoffentlich zufrieden sein, sie auf eine Weile zu verlassen und sich mit uns ein wenig nach andern Personen und namentlich nach dem armen Jones umzusehen, dem wir Zeit genug gelassen haben, seine begangenen Fehler, für die er hart genug bestraft wurde, zu bereuen.


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