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III. Munroe Smith

Von einem andern Gesichtspunkt geht der Professor der Columbia-Universität in New-York, Munroe Smith, aus: es ist die Absicht seiner Schrift, bestimmte diplomatische Fehler nachzuweisen, die die deutsche Regierung beim Ausbruch des Weltkrieges beging, besonders wenn man ihr Vorgehen mit dem Bismarcks vergleicht.

Bismarck, führt er aus, gestattete den hohen Offizieren und der Heeresleitung niemals, seine Politik wesentlich zu beeinflussen: Generale drängen gerne zum Krieg, zum Angriff, zur schnellsten Ausnützung einer günstigen Lage; Bismarck liess sich nie von ihnen drängen, sondern zögerte und verschob, und ging stets so vor, dass in den Kriegen, die unter seiner politischen Leitung geführt wurden, Preussen jedes Mal als der angegriffene Teil erschien und «das ganze Gewicht der Imponderabilien auf seiner Seite war».

Im Jahre 1914 – das ist Professor Smith's These – waren minder geschickte Diplomaten am Werk: sie liessen ihre Politik vom Generalstab bestimmen und sich vorzeitig zum Kriege drängen; Deutschland erschien der ganzen Welt als der Angreifer, und das Gewicht der Imponderabilien war auf der Seite seiner Gegner.

Der erste und der dritte Satz dieser These sind unbestreitbar: Fürst Bismarck war ohne Zweifel ein grösserer Staatsmann und Diplomat als alle seine Nachfolger; wahrscheinlich hätte er auch in diesem Weltkrieg den er voraussah und voraussagte, das Schiff anders und besser gesteuert, hätte wahrscheinlich in den Tagen der Krise, im Sommer 1914, und schon vorher die Ueberlegenheit seines Geistes und seiner Willensmacht offenbart. Aber Genies wie Bismarck sind eben in allen Berufen und in allen Ländern ausserordentlich seltene Erscheinungen.

Ebenso unbestreitbar richtig ist es, dass im Sommer 1914 das Deutsche Reich der Welt als der angreifende Teil erschien und dass das Gewicht der Imponderabilien schwer in die Wagschale seiner Feinde fiel und auch rings die Neutralen beeinflusste.

Ob aber Deutschland wirklich der Angreifer war, ob seine leitenden Staatsmänner ihre Politik tatsächlich von den Generalen bestimmen und sich zum Kriege drängen liessen, das ist zum mindesten bestritten.

Professor Munroe Smith zögert keinen Augenblick, diese Frage zu bejahen, und im Verlauf seiner Ausführungen sucht er auch durch eine Schilderung für diese Ansicht eine Art Beweis zu erbringen. Er tut dies, indem er fortlaufend das Verhalten Bismarcks und das der Regierungen der Zentralmächte im Jahr 1914 in eine Parallele bringt und die Unterschiede in ihrem Vorgehen deutlich macht.

Ohne noch auf seine Darstellung im einzelnen einzugehen, scheint es mir zunächst, dass der Punkt, der für solch eine Parallele der wesentlichste ist, von ihm nach flüchtiger Erwähnung nicht weiter in Betracht gezogen wird. Wenn man die Handlungsweise zweier Menschen oder zweier Regierungen vergleichen will, so scheint mir das erste und notwendigste, zunächst die Aehnlichkeiten wie die Unterschiede der Lage festzustellen, in der sich beide befanden, da sich ja ihr Verhalten sonst nicht vergleichen lässt. Der blosse Umstand, dass es sich in beiden Fällen um einen Krieg handelt, ist derart allgemein, dass damit nichts gesagt ist. Die Kriege der Weltgeschichte sind aus unendlich verschiedenen Ursachen entstanden; und ebenso war die Lage der Regierungen bei ihrem Ausbruch eine höchst verschiedene.

In allen Kriegen Bismarcks befand sich Preussen dem feindlichen Staat gegenüber, ob dieser nun angegriffen werden sollte oder selbst angriff, militärisch in einer Lage ausserordentlicher Ueberlegenheit. Im Jahr 1864 standen die beiden Grossmächte Preussen und Oesterreich dem kleinen Dänemark gegenüber; im Jahr 1866 stand das militärisch und waffentechnisch weit überlegene Preussen, verbündet mit Sardinien, dem schwächeren und von zwei Seiten angegriffenen Oesterreich gegenüber, das nur einige militärisch nicht bedeutende deutsche Kleinstaaten auf seiner Seite hatte. Im Jahr 1870 war das preussische Heer dem französischen an Zahl um etwa zwei Fünftel überlegen, von der Organisation und Bereitschaft gar nicht zu sprechen.

Im Jahr 1914 standen Deutschland und Oesterreich einer ungeheuren Koalition gegenüber. Munroe Smith gibt diese Ueberlegenheit der Gegner zur See, sowie an Reserven und Hilfsmitteln ohne weiteres zu. Dass sie auch zu Lande bestand, scheint er nicht zu wissen und wiederholt auch die Fabel von den geringeren Rüstungen, die auf Seite 71 ff. widerlegt wurde, wie seine Information überhaupt an vielen Stellen zu wünschen übrig lässt.

Vielleicht hätte Bismarck durch seine unerhörte Klugheit und Genialität die sich bildende Koalition immer wieder auseinanderzutreiben gewusst, er, der am «cauchemar des coalitions» litt; vielleicht hätte nicht einmal er es vermocht. Bismarck hatte England noch nicht zum Gegner, weil das Deutsche Reich noch kein wesentlich seefahrender und seemächtiger Staat geworden war. Jedenfalls aber war Bismarck nicht mehr da, und seine Nachfolger hatten es nicht vermocht. Wenn Munroe Smith ihnen das als diplomatisches Versagen zum Vorwurf machen würde, so hätte er Recht, wenn man jemandem den Vorwurf machen kann, kein Bismarck zu sein.

Aber nachdem die Koalition den Gegnern Deutschlands einmal gelungen und die Lage des Reichs im Jahr 1914 eine vollkommen andere geworden war, hätte Munroe Smith dies gerade bei dem Vergleich des Verhaltens der deutschen Staatsmänner während der Krise sehr in Rechnung ziehen müssen.

Bismarck konnte leicht warten und drängende Generale, die natürlich immer den militärisch günstigsten Augenblick suchen, zurückhalten; wenn die Staatsmänner im Jahr 1914 die Sache besorgter ansahen, und angesichts der ungeheuren Gefahr den militärischen Beratern mehr Gewicht einräumten, so war das in dieser veränderten Lage wohl begreiflich.

Munroe Smith erklärt es allerdings einfach für die Pflicht des Diplomaten, «darauf zu achten, dass sein Land nicht als für den Kriegsausbruch verantwortlich angesehen werden kann». Wie die Geschichte zeigt, gelingt das den Diplomaten fast immer im eigenen Lande, selbst in recht erstaunlichen Fällen, wofür ihm die Geschichte seines eigenen Vaterlandes, sowie die Englands eine Reihe von Beispielen bietet. Ob auch die Meinung der Neutralen gewonnen wird, das wird von vielen, oft kaum berechenbaren, Umständen abhängen.

Jedenfalls ist es im gegenwärtigen Krieg den Gegnern Deutschlands und Oesterreichs gelungen, als die Angegriffenen zu erscheinen und das Gewicht der Imponderabilien bei dem grössten Teil der Neutralen zu ihren Gunsten verwerten zu können.

Man könnte hier den Satz Munroe Smith' umkehren und etwa schliessen: den schlaueren Diplomaten des Dreiverbandes ist es gelungen, als die Angegriffenen zu erscheinen, ob sie es nun wirklich waren oder nicht. Auf diese Frage wird es wesentlich ankommen; denn wenn tatsächlich die Andern die Bedrohenden waren, dann muss das Vorgehen der deutschen Staatsmänner in anderem Licht erscheinen. Auf diese Frage aber geht Munroe Smith nicht ein; er ist von vornherein vom Gegenteil überzeugt. Er sagt: wenn in Zukunft auf der Basis von Beweismaterial, das wir noch nicht besitzen, der Geschichtsschreiber in der Lage sein sollte, zu zeigen, dass im 19. Jahrhundert die Triple-Entente einen europäischen Krieg herbeigeführt hat, um Deutschland niederzuwerfen und Oesterreich aufzuteilen, so wird er zum mindesten zugeben müssen, dass die beteiligten Regierungen das diplomatische Spiel durchaus nach den Regeln Bismarcks durchgeführt haben.» Man fühlt am Ton, dass er dies für unwahrscheinlich hält; er ist jedenfalls überzeugt, dass wir dieses Beweismaterial «noch nicht besitzen», und auch seine eigene Darstellung der Krise, die auf Grund des bereits vorliegenden Materials erfolgt, zeigt, dass er anderer Ansicht ist. Uebrigens ist in dem erwähnten Satz eines zu viel gesagt; es genügt vollkommen, wenn man nur beweisen kann, dass die Staatsmänner der Triple-Entente den gegenwärtigen Krieg herbeigeführt haben; in welcher Absicht sie es taten, ob, «um Deutschland niederzuwerfen» oder gar um «Oesterreich aufzuteilen», ist viel schwerer zu ergründen und zu belegen. Und für die Tatsache selbst genügt das in der Gegenwart vorliegende Beweismaterial völlig, und ich meine dies bereits gezeigt zu haben. Man muss es nur richtig und gründlich lesen.

Die Darstellung Munroe Smith ist eine durchaus einseitige und wiederholt auch eine irrige. Auf die gegen Deutschland gerichtete Politik der Triple-Entente, auf das System von Bündnissen und Abmachungen, mit dem man Deutschland einkreiste, geht er überhaupt nicht ein – lässt also einen der wichtigsten politischen Faktoren, die für die Entstehung des Krieges und den Charakter, den er annahm, doch jedenfalls von ausserordentlicher Bedeutung war, ganz aus dem Spiel. Er geht bei seiner Betrachtung lediglich von dem Anlass aus, der den Krieg zum Ausbruch brachte, der orientalischen Frage. Man kann dies tun. Aber die Art, wie Munroe Smith es tut, ist bezeichnend. In der Ausdehnung deutschen Einflusses im Orient sieht er den Keim, den Urgrund zum Kriege und einen schweren Fehler der deutschen Politik. Er ist der Ansicht, dass das deutsch-österreichische Bündnis damit «seinen Defensivcharakter verlor und zu einem Bund für Erlangung der Vorherrschaft auf dem Balkan geworden war», eine Politik, die überdies zur Auflösung des Dreibundes führen musste, weil sie den Interessen Italiens nicht mehr entsprach.

Wir wollen die italienischen Interessen und die Auflösung des Dreibundes aus dem Spiel lassen, weil dies zu weit führen würde. Dass das deutsch-österreichische Bündnis je seinen Defensivcharakter verloren und zu einem Bund zur Erlangung der Vorherrschaft auf dem Balkan geworden, ist eine kühne, durch nichts bewiesene Behauptung. Etwas anderes ist die Ausdehnung des politischen Einflusses des deutschen Reichs in der Türkei, die ohne weiteres zuzugeben ist, ebenso, was damit zusammenhing und wahrscheinlich schwerer ins Gewicht fiel, die Ausdehnung des finanziellen und wirtschaftlichen Einflusses durch die Bagdadbahn.

Und gerade hier zeigt sich, wie sehr es Herrn Munroe Smith an Objektivität und Einsicht fehlt. Alle Grossmächte suchten im nahen wie im fernen Orient ihren politischen Einfluss wie ihren Handel in Wechselwirkung auszudehnen: Amerika, England, Frankreich und Russland, in den Balkanländern, in Vorderasien, in China; und ebenso in Afrika. Dadurch, dass England und Frankreich sich halb Afrika aneigneten, dass Russland halb Vorderasien eroberte und sich mit England in Persien teilte, dass Italien die Brandfackel in den Orient schleuderte und im Einverständnis mit der Triple-Entente sich Libyen aneignete, – wodurch die ganze Balkanfrage erst ins Rollen kam – durch all dies sieht er das «Gleichgewicht» nicht gestört; wenn aber das deutsche Reich im Orient irgend Einfluss gewinnt, dann wird dieses offenbar nur nach einer Seite empfindliche «Gleichgewicht» sofort gefährdet. Man kann die Anführung dieses Wortes, dem wir überall begegnen, wo alle sachlichen Gründe fehlen, nur als unerlaubten Missbrauch einer vollkommen leeren Phrase bezeichnen.

Der ganze Orient ist die Einflusssphäre Englands und Russlands, das ist für Munroe Smith offenbar göttliches Recht; da darf Russland mit dem Aufhängen aller missliebigen Personen vorgehen, wie es noch im Frühjahr 1914 in Persien tat; wenn aber Deutschland in friedlichster Weise durch die Geschicklichkeit eines Diplomaten Einfluss in Konstantinopel gewinnt und dort wichtige Konzessionen erwirbt, dann ist das ein schwerer diplomatischer Fehler, und Grund genug, in letzter Linie Deutschland die Verantwortlichkeit für den Weltkrieg aufzubinden!

Der selbe Fetisch entscheidet für ihn in der serbischen Frage:

Wenn durch den Einfluss des riesigen Russland der Balkanbund begründet wird, mit seinem Willen der Krieg gegen die Türkei unternommen und auf dem Balkan alles durcheinander geworfen wird, so leidet jenes geheimnisvolle «Gleichgewicht» nicht; wenn das im Verhältnis kleine Oesterreich an seiner Grenze, an der seine Zerreissung offen gepredigt wird, Ordnung schaffen will, so darf es das nicht tun, weil dadurch das Gleichgewicht gestört wird. Professor Munroe Smith sollte sein «Gleichgewicht» einmal erst definieren!

Auf das, was Serbien, was Russland in und durch Serbien getan, wird nicht weiter eingegangen, die Vorgeschichte wird, wie von all diesen Herren, möglichst flüchtig berührt; sonst müsste die ganze Frage ja auch ein anderes Gesicht bekommen.

Wenn England Aegypten und die Transvaalstaaten nimmt, wenn Russland gar keinen Zweifel darüber lässt, dass es Konstantinopel und die Meerengen haben muss, so ist das keine offensive Politik; aber wenn Deutschland und Oesterreich, die seit vierundvierzig und sechsunddreissig Jahren keinen Krieg geführt haben, sich überhaupt in Balkanfragen einmischen, so beweist dies, dass ihr Bündnis seinen defensiven Charakter verloren hat!

So sind alle Grundauffassungen Munroe Smith' vollkommen willkürlich und unhaltbar, wie seine Schlussfolgerungen. Für jenen wesentlichen Satz, ohne den seine ganze These in sich selbst zusammenfällt, dass Oesterreich und Deutschland ihre Politik im Sommer 1914 von rein militärischen Gesichtspunkten bestimmen Hessen, bringt er nicht einen einzigen Beweis, er nimmt ihn als gegeben an und passt seine Darstellung darauf ein: das heisst, er unterschiebt das, was er erst beweisen sollte.

Wenn die österreichische Regierung im Sommer 1914 drohte, Serbien eventuell mit Waffengewalt zur Einstellung der Agitationen in den Provinzen zu zwingen, so waren dafür militärische Gesichtspunkte am wenigsten massgebend. Nicht einmal für den Transvaalkrieg, der ein reiner Eroberungskrieg war, waren militärische Gesichtspunkte entscheidend, sondern wesentlich politische und finanzielle. Bei der Durchführung, wenn es einmal zum Krieg kam, mussten in jedem Fall militärische Gesichtspunkte massgebend sein. Für Oesterreich-Ungarn lag die Sache im Jahr 1914 so: für den Fall der Nichtannahme der österreichischen Forderungen war man aus politischen Erwägungen zum Krieg entschlossen; kam es dahin, dann musste man ihn aus militärischen Erwägungen so rasch führen, dass die russischen Heere, wenn Russland eingreifen wollte, wo möglich zu spät kamen.

Für seine Beurteilung dieses Vorgehens beruft sich Munroe Smith auf drei Aktenstücke, auf einen Bericht Cambons aus dem Jahr 1913 (!), mitgeteilt im Gelbbuch Nr. 3, auf die Giolittischen «Enthüllungen» und auf einen Bericht des serbischen Gesandten in Wien vom 20. Juli 1914. In dem Bericht Cambons, dessen Verlässlichkeit auf Seite 120 erörtert wird, Es muss hier überhaupt auf eine Art, die Noten zu benützen hingewiesen werden, die allen Regeln der historischen Quellenkritik wie der Jurisprudenz widerspricht, und die von Munroe Smith wie von Ferrero geübt wird. Die diplomatischen Noten und Berichte können dreierlei enthalten: 1. Tatsachen; 2. Meinungen über die Gesinnungen und Absichten des Gegners; 3. Aeusserungen über die eigenen Absichten und Gesinnungen. Die ersten sind natürlich die wichtigsten und werden anzunehmen sein, solange man ihre Unrichtigkeit nicht beweisen kann. Bestehen diese Tatsachen in Aeusserungen dritter Personen, so wird es auf die Verlässlichkeit der Quelle ankommen; ist die Quelle nicht genannt, besteht die Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit, dass die Aeusserung nicht aus erster Hand ist, dass sie verändert wurde, so ist sie so gut wie wertlos. Die Aeusserungen der Schreibenden über die eigenen Absichten und Gesinnungen beweisen wenig: man wird sie mit den Handlungen vergleichen müssen. Noch weniger aber beweisen Meinungen über die Gesinnungen und Pläne des Gegners, die gänzlich subjektiv sind und überdies stets nur in der Absicht, dem Gegner zu schaden, veröffentlicht werden. Das französische Gelbbuch besteht grossenteils aus Aeusserungen der letztgenannten Art.
Wenn Professor Munroe Smith die Ansichten französischer Diplomaten über deutsche Absichten als «Beweise» anführt, dann müsste er die Ansichten deutscher Staatsmänner über etwaige englische Pläne als Gegen beweise gelten lassen. Höchstens die Ansichten uninteressierter neutraler Beobachter haben Wert.
ist zum mindesten von Serbien überhaupt nicht die Rede. Die Bedeutung der Mitteilungen Giolittis wird auch von Munroe Smith nicht im Zusammenhang mit der damaligen Lage – der im Jahr 1913 – beurteilt; sie erscheinen aber, wie auf Seite 145 gezeigt worden, in ganz anderem Licht, wenn man sie, was für einen Gelehrten selbstverständlich sein sollte, nicht für sich allein, sondern im Zusammenhang mit den Ereignissen betrachtet. Die Note des Gesandten Jovanovitsch endlich, die sich allein von den angezogenen Akten wirklich auf die Krise von 1914 bezieht, könnte Munroe Smith aufklären, wenn er nicht blind seiner vorgefassten Meinung folgen würde; denn es heisst darin: «Es ist hier in Oesterreich die allgemeine Ueberzeugung, dass wenn man auch jetzt nicht gegen Serbien vorgeht, dies einem Selbstmord Oesterreich-Ungarns gleichkäme», «La conviction générale est ici que ne rien faire cette fois-ici contre la Serbie équivaudrait pour l'Autriche-Hongrie à un véritable suicide.» Da hat er die Gründe des Ultimatums von einem Serben ausgesprochen, der diesmal vollkommen richtig urteilt. Kein vernünftiger Mensch wird diese Ueberzeugung – ob sie nun sachlich richtig sein mochte oder nicht – einen militärischen Gesichtspunkt nennen!

Munroe Smith stellt folgendes Dilemma auf: wenn die Zentralmächte eine europäische Krise vermeiden wollten, so war der Zeitraum vom 28. bis 31. Juli zu kurz, um eine Klarstellung der russisch-österreichischen Differenzen herbeizuführen. Wollten sie den Krieg herbeiführen, so war sie zu kurz, um Russland, wenn es nicht wollte, zu offen feindseligen Handlungen zu zwingen.

Alles an diesem Dilemma ist willkürlich und das Ganze der These zulieb, ohne Rücksicht auf die Tatsachen aufgestellt.

Das Vermeiden einer europäischen Krise hing natürlich nicht von den Zentralmächten allein ab; nur das Eingreifen Russlands und seine Mobilisierung hat die Krise – wie der englische Botschafter voraussagte – so übereilt im Krieg enden lassen: «precipitated the war», um die eigenen Worte Buchanans zu wiederholen.

Oesterreich-Ungarn wollte seinen Streitfall mit Serbien zur raschesten Lösung bringen. Differenzen zwischen Oesterreich und Russland kamen zunächst nicht in Frage. Damit sind wir wieder bei dem vielumstrittenen Punkt angelangt, auf den es ankommt.

Nach Munroe Smith' Ansicht hatte Russland ein Recht, sich einzumischen. Er begründet dies Recht mit dem sattsam erörterten «Gleichgewicht», das Oesterreich gestört hätte. Dieser Grund ist so schlecht, dass mir die «uralte Verbindung» des Verfassers des Buches «J'accuse» vorzuziehen scheint; sie ist zwar erlogen, aber sie hat doch einen Sinn.

Munroe Smith glaubt auch nicht, dass die Zentralmächte wirklich hofften, den Krieg lokalisieren zu können; gibt aber zu, dass sie auf das Urteil militärischer Sachverständiger hin Russland zu einem solchen Krieg nicht fähig glaubten, was das Gegenteil beweist. War es nicht menschlich denkbar, dass Russland, das seit hundert Jahren in jedem grossen Krieg geschlagen worden ist, 1854 von England und Frankreich, 1878 von den Türken, als das kleine Rumänien das russische Heer retten musste, 1904 von den Japanern und jetzt wieder trotz einem weltumfassenden Bündnis in schrecklichster Weise, war es wirklich undenkbar, dass man seinen Staatsmännern einmal Vernunft zutrauen sollte? Und wen sollte man fragen, als die militärischen Sachverständigen? Sie haben sich bewährt. Dass Russland die militärischen Erwägungen in seiner politischen Gier zu wenig berücksichtigte, oder so schlecht beraten war, hat sich an ihm bitter gerächt.

Im übrigen begeht Munroe Smith so ziemlich die gleichen Fehler, wie die andern, was auch bei ihm zu flüchtiges Aktenstudium und zu naives Vertrauen in die Einleitung des englischen Blaubuches verrät. Er meint, Oesterreich-Ungarn hätte, um sich die moralischen Vorteile der Defensivstellung Russland gegenüber zu sichern, sich von Anbeginn an bereit zeigen sollen, seine künftigen Beziehungen zu Serbien offen zu erörtern, während diese Weigerung später fallen gelassen worden sei.

Wie in dieser Schrift (Seite 176 bis 178 und Seite 190 fgg.) hinreichend gezeigt worden ist, hat die österreichisch-ungarische Regierung ihren Standpunkt nie geändert, die Verhandlungen nie abgebrochen und nie wieder aufgenommen; alles, was darüber gesagt und geschrieben worden, beruht auf Fälschungen im Orangebuch, Gelbbuch und Blaubuch. Zwar steht heute noch in der Einleitung zum deutschen Weissbuch zu lesen, dass der österreichische Botschafter in Petersburg auf eine Anregung Deutschlands die Unterhandlungen wieder aufgenommen hat, aber es steht nur darin, weil die deutsche Regierung, durch die unwahre Mitteilung Ssasonoffs, dass «Oesterreich nicht unterhandeln wolle», getäuscht die österreichische Regierung sehr energisch zu Unterhandlungen aufgefordert hatte. Dass Ssasonoff gelogen hatte, konnte erst festgestellt werden, als alle Akten, insbesondere das österreichische Rotbuch, veröffentlicht waren, in dem Graf Berchtold so diplomatisch höflich auf den merkwürdigen «Irrtum» des Herrn Ssasonoff hinweist. Herrn Munroe Smith lagen diese Akten bereits vor!

Nicht minder oberflächlich ist seine Erklärung, Oesterreich-Ungarn habe nur für sein Prestige gekämpft. Wohl kommt der Ausdruck Prestige in den österreichischen Noten vor, aber ein kritischer Gelehrter müsste den Dingen auf den Grund gehen und auf wesentlicheres als aus dem oder jenem Grund beliebte Ausdrücke achten. Oesterreich kämpfte für den Bestand seines Staatsgebietes, da die Serben offen zugaben, dass die Abtrennung österreichisch-ungarischer Provinzen ein Ziel sei, das sie nicht aufgeben könnten. Der Serbe Jovanovitsch schreibt, das Gefühl in Oesterreich sei, «anders handeln, wäre Selbstmord», der italienische Historiker, der die Geschichte der «Politica Estera Italiana» schrieb, gibt zu, dass die «Monarchie um ihre Existenz kämpfte». Aber wofür Russland in den Krieg ging, wenn nicht für sein «Prestige», das würden wir gerne von Herrn Munroe Smith hören. Denn was sein «Balkan-Gleichgewicht» in diesem Fall anders heissen soll, als Einfluss in Serbien, der wieder, wo nicht Gewalt angewendet wird, nichts anderes als Prestige sein kann, ist mir nicht verständlich.

Bezüglich der Konferenz begeht Munroe Smith die gleichen Irrtümer, wie Ferrero und andere. Auf ungenügender Erkenntnis der Lage beruht die Frage, die er auf Seite 49 stellt: «warum das Ultimatum an Russland nicht schon früher abgeschickt wurde?» Die Antwort ist sehr einfach: weil die Gefahr früher noch nicht so gross war, um es zu rechtfertigen, weil man nicht leichtfertig einen so energischen Schritt tun wollte. Und wenn er fragt, «warum verlangte man von Russland nicht von Anfang an, dass es sich zum Frieden verpflichten sollte?» so ist die Antwort, weil eine solche kategorische Forderung im Anfang durch nichts gerechtfertigt und eine zwecklose Herausforderung gewesen wäre. Als richtiger Professor zwängt Munroe Smith das Verhalten der deutschen Regierung in sein Katheder-Dilemma: «entweder strategisch oder diplomatisch», also entweder von Anfang an überscharf, um den Krieg vom Zaun zu brechen, oder bis ans Ende übersanft und nachgiebig, ohne Rücksicht auf die drohenden russischen Heereswolken, die an die Grenzen rückten. Die deutsche Regierung hingegen, was man ihr sonst vorwerfen mag, verfuhr anfangs mit Recht diplomatisch: die Forderung, dass Russland sich nicht einmischen möge, wurde in der Note vom 24. Juli, – die Professor Munroe Smith auf Seite 40 vergessen zu haben scheint, – in Form eines Wunsches ausgesprochen, und schon da von den Franzosen als «deutsche Drohung» ausgeschrieen – erst als die russische Mobilisierung angesichts der Einkreisung Deutschlands die Lage äusserst gefährlich erscheinen liess, traten folgerichtig die strategischen Erwägungen in den Vordergrund.

Wenn er gar auf Seite 27 ausführt, «Mobilmachung gilt im allgemeinen nicht als Kriegsgrund. Die richtige Antwort auf eine Mobilmachung ist Mobilmachung», so kann man nur sagen: richtige Antworten in diesem Sinn gibt es nur im Prüfungssaal, und der Kandidat, der nicht die Antwort gibt, die Professor Munroe Smith erwartet und verlangt, fällt wahrscheinlich durch und muss die Prüfung wiederholen; aber in der furchtbaren Wirklichkeit, in der Gefahr und Verantwortung für das Schicksal eines Volkes und Reichs, wird die Antwort von ganz anderen Erwägungen bestimmt und ihre Richtigkeit wesentlich vom Ausgang und von der Geschichte entschieden. Was die russische Mobilmachung für Deutschland bedeutete, das ist auf Seite 217 ff. hinreichend klargestellt worden.

Nicht minder irrig ist, was Munroe Smith über die belgische Frage schreibt. Auf einen Irrtum über die Rechtslage ist bereits auf Seite 229 hingewiesen worden. Wenn er zur politisch-strategischen Seite der Frage sagt, «Deutschland konnte nicht erwarten, dass England die Invasion Belgiens hinnehmen würde, ohne den Krieg zu erklären», so kann man ihm erstens erwidern, dass die englischen Staatsmänner im Jahr 1887 ganz bereit waren, diese Invasion hinzunehmen, und zweitens, dass die deutschen Staatsmänner 1914 es im Grunde gar nicht erwarteten. Den Versuch, England zur Neutralität zu bewegen, mussten sie machen, und die englische Stellung von 1887 konnte ihnen eine leise Hoffnung geben. Dass für die Invasion Belgiens militärische Gründe massgebend waren, ist richtig; dass diese Gründe massgebend sein mussten, sobald es zum Kriege kam, das haben die englischen Militärschriftsteller nachgewiesen (s. Seite 235/36).

Vollkommen falsch ist, wenn er auf S. 57 erklärt: «Der ursprüngliche Feldzugsplan im Westen scheint vor allem durch den unerwartet heftigen Widerstand der Belgier und die unerwartet wirksame Unterstützung, die England Frankreich geben konnte, zunichte geworden zu sein.» Sowohl die Erörterung der auf S. 314 genannten englischen und französischen Militärschriftsteller vor dem Krieg, wie jede irgend verlässliche Geschichte des bisherigen Kriegsverlaufes könnte ihn darüber aufklären, dass Engländer wie Franzosen damit rechneten, dass die belgischen Festungen Monate Widerstand leisten würden, so dass ihr ganzer Plan durch die so äusserst rasche Ueberwindung Belgiens umgestossen wurde. Desgleichen kam die englische Hilfe um fast vierzehn Tage zu spät und erwies sich in der ersten Phase des Krieges als vollkommen unwirksam. Der Feldzug im Westen scheint, soweit man heute überhaupt urteilen kann, wesentlich an der Haltung Italiens vielleicht auch an Ursachen, die im Osten lagen, gescheitert oder vielmehr nicht an sein volles Ziel gelangt zu sein.

Was Munroe Smith über die sicher feststehende Vergangenheit, über das Vorgehen Bismarcks, sagt, ist vortrefflich. Was er über die Krise und den Krieg von 1914 sagt, ist zwar eine schön klingende These, aber ihre Begründung durchwegs anfechtbar. Was er beweisen sollte, unterstellt er, und soweit es richtig ist, soweit militärische Erwägungen das Verhalten der Zentralmächte bedingten, geschah es mit höchstem Recht, weil die Lage im Vergleich zu der in den Zeiten Bismarcks eine völlig veränderte war.

Auch mit seinen Prophezeihungen hat er kein Glück: im Eingreifen oder Hereinziehen der Türkei in den Krieg sieht er einen Nachteil für das Deutsche Reich und verkündet die Intervention der Balkanstaaten mit bedeutenden militärischen Streitkräften auf der Seite der Entente. Man hat es gesehen.

Er geht auch in all seinen Anschauungen davon aus und lässt überall durchblicken, dass er die Niederlage der Zentralmächte für unvermeidlich hält. Noch ist der Krieg nicht entschieden, obwohl dank geschickter Ausnützung der Imponderabilien die Gegner so viele Völker in den Krieg gezogen haben, dass der Sieg für sie keine Ehre mehr sein kann, die Niederlage um so grössere Schande. Dabei meine ich Ehre und Schande nicht im gewöhnlichen Sinn, – auch eine gerechte Sache kann unterliegen. Schande gerade wegen der gewissenlosen Ausnützung der Imponderabilien.

Dass sie diese Ausnützung in vollendeter Weise verstehen, sei ohne weiteres zugegeben – von irgend welchen sittlichen Bedenken sind sie dabei nicht gehindert. Tatsachen und Dokumente werden gefälscht, Gegengründe geflissentlich nicht erörtert.

Es müsste, meine ich, selbst jeden loyalen Feind irre machen, dass gerade die wesentlichste Anklage gegen Deutschland – dass es den Krieg gewollt und herbeigeführt – nur auf Grund so vieler Fälschungen oder Irrtümer zu begründen und aufrecht zu erhalten ist.

Um selbst keinen Gegengrund gegen meine eigenen Ansichten zu übersehen, habe ich die Schriften der autoritativsten und wohlmeinendsten, wie die des gehässigsten Anklägers zur Unterlage meiner Ausführungen gewählt. Der Leser urteile, wer gewissenhafter vorgegangen ist.

Nicht dass heute schon viel zu erreichen wäre; aber langsam kommen die Menschen zur Besinnung. Der rasende Hass, der die europäische Kulturwelt zerrissen hat und noch für lange zu trennen droht, ist nicht nur durch den Krieg selbst hervorgerufen, sondern weit mehr noch durch die Lüge – Lügen über die Entstehung, Lügen über die Führung des Krieges. Nur wer dazu beiträgt, diese Lügen zu zerstören, kann sagen, dass er zur Wiedereinigung der Menschheit beiträgt.


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