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III. England

Bisher war der Autor Ankläger, nun wird er Verteidiger. Seine Methode bleibt die gleiche.

Er beginnt diesen Abschnitt mit der Erklärung, dass «die Haltung der englischen Regierung bis zum Auftauchen der belgischen Neutralitätsfrage sich aus seinen bisherigen Ausführungen so deutlich ergebe, dass es unnütze Wiederholung wäre, sie nochmals im Zusammenhang darzustellen», um sich daraufhin sofort in den unnützesten Wiederholungen zu ergehen. Um die englische Friedensfreundschaft im vollen Licht erstrahlen zu lassen, zählt er nochmals sämtliche englische Vermittlungsversuche auf und wiederholt dazu die Lüge von der österreichischen Ablehnung und späteren Wiederaufnahme der «direkten» Verhandlungen mit Russland.

All diese schon früher erörterten Vorschläge dienten, wie gezeigt worden ist, bis auf einen, lediglich der Durchsetzung der russischen Wünsche. Der einzige Vorschlag, der auch Oesterreich Rechnung trug, ist von Oesterreich angenommen, aber von Russland abgelehnt worden. Dies ist auf Seite 175 bis 183 ausführlich bewiesen worden. Aber hier an dieser Stelle zeigt sich die Art, wie der Autor Beweise fälscht, nochmals so deutlich, dass sie aufgedeckt werden muss.

Er schliesst den betreffenden Absatz – Punkt 7 auf Seite 202 seines Buches – mit den Worten: «Auf diesen Vorschlag ist nie eine Antwort erfolgt, weder von Oesterreichs noch von Deutschlands Seite», und führt in der Anmerkung 5 darunter als Belege die Noten des Blaubuchs Nr. 88, 98 und 103 an. Wenn man diese Noten liest, so findet man:

In der Note Nr. 88 vom 29. Juli wird der Vorschlag von Sir Edward Grey gemacht; in der Note Nr. 98 vom folgenden Tag teilt Sir Edward Göschen ihm mit, dass der deutsche Staatssekretär von Jagow in diesem Vorschlag eine gewisse Friedensmöglichkeit sehe, wenn es Sir Edward Grey nur gelänge, auch Russland zur Annahme zu bewegen; in der Note Nr. 103, gleichfalls vom 30. Juli, schreibt wieder Sir Edward Grey, Fürst Lichnowsky habe ihm für diesen Vorschlag die deutsche Unterstützung voll zugesagt, und auch Grey selbst spricht nochmals die allerdings nicht sehr sichere Hoffnung aus, dass auch Russland auf den Vorschlag eingehen werde.

Unter Berufung auf diese drei Noten wagt der Autor zu schreiben: «Auf diesen Vorschlag ist nie eine Antwort erfolgt, weder von Oesterreichs noch von Deutschlands Seite!» Dafür unterschlägt er die österreichische Note Nr. 51 vom 31. Juli, die die Annahme enthält, und die englische Note Nr. 135 vom 1. August, die diese Annahme bestätigt. Ist eine solche Methode nicht infam? Rechnete der Autor damit, dass kein Leser sich die Mühe nehmen würde, die massenhaft von ihm angeführten Noten – auf dieser Seite allein zitiert er in den Anmerkungen nicht weniger als neununddreissig Noten – nachzuprüfen, so dass er seinem Buch gerade durch grösste Gewissenlosigkeit den Schein einer gewissenhaften und gelehrten historischen Arbeit geben konnte? Oder sollte es nur Dummheit sein?

Im übrigen ist bereits diese ganze gedankenlose Aneinanderreihung von Vorschlägen, deren jeder einen andern Inhalt, eine andere politische Bedeutung hatte, für den Autor kennzeichnend, der über diese ausgeklügelten und raffinierten diplomatischen Schritte hintappt, ohne auch nur einen Versuch zu machen, sich von ihrer wirklichen Bedeutung Rechenschaft zu geben.

In der Tat hat der Autor das Verhalten Englands während der Krisetage überhaupt nicht dargestellt; dieses Verhalten wie die ganze englische Politik ist ihm unverständlich geblieben, weil er weder die nötigen Kenntnisse noch die Fähigkeit besitzt, mehr als den äusserlichsten Wortlaut der Depeschen aufzufassen; Hintergründe und Zusammenhänge, Vorgeschichte und Folgen sind ihm gleich verschlossen; darum schreibt er Torheit auf Torheit, fällt auf jeden noch so plumpen Trug hinein, ein ahnungsloser Schwätzer von der ersten zur letzten Zeile.

Eben weil er die Noten nicht kritisch zu lesen oder zu vergleichen und ihren wirklichen Sinn nicht zu erkennen vermag, oft auch – wie wiederholt gezeigt wurde – nicht einmal ihren Wortlaut erfasst, oder sich zu merken imstande ist, eben darum war er ganz und gar auf die Einleitung zum Blaubuch angewiesen, die wenigstens eine zusammenhängende und leicht fassliche aber auch höchst unehrliche Darstellung bot, und die er darum abschreibt. Dieser ganze Hauptteil seines Buches, das «Verbrechen», ist im Grunde nur eine langatmige, verworrene und geschwätzige Umschreibung der in dieser Einleitung gegebenen Darstellung.

Ich gehöre nicht zu denen, die die allzueinfache Ansicht vertreten, dass die deutschen Staatsmänner Engel und die englischen Teufel waren. Es gibt in Deutschland viele, die das glauben, und der umgekehrten Ansicht sind die naiven Leute in den feindlichen Ländern.

Es waren ohne Zweifel auf beiden Seiten mehr oder minder fähige und mehr oder minder fehlbare Männer, die die Interessen ihres Vaterlandes wahrzunehmen suchten, wie sie sie sahen, und in der Weise, die sie für die beste hielten. Zu untersuchen ist, mit welchen Mitteln sie dies taten und wie sie sich in der fraglichen Zeit verhielten.

Mit jedem neuen Dokument, mit jeder neuen Mitteilung, mit jedem neuen Ereignis, das auf die Vergangenheit Licht wirft, wird dieses Verhalten deutlicher und erkennbarer. Jeder Mensch weiss, dass man eine aufregende Gegenwart am wenigsten übersieht, jeder macht die Erfahrung, dass er im privaten wie im politischen Leben die Haltung seiner Gegner und ihre wahren Beweggründe oft erst lange nachher begriff.

Darum könnte gar nichts törichter sein, als der Galoppangriff des Autors auf den deutschen Reichskanzler, weil dieser das Verhalten der englischen Staatsmänner am 2. Dezember anders beurteilte als am 4. August.

Freilich, jemandem, der überhaupt nichts lernt, nichts prüft, über nichts nachdenkt, und noch viel weniger umdenkt, gleich dem Autor, dem wird auch mit der Zeit nichts klar, der sprudelt sein seichtes Phrasenwasser früh und spät mit gleichem Geplätscher.

Am 4. August war noch nicht einmal das englische Blaubuch erschienen, also nicht einmal das, was die englische Regierung selbst über ihre Haltung verlauten lassen wollte!

Diese Haltung hat sich während der kurzen zehn Tage der Krise in sehr auffälliger Weise geändert, ohne dass dies sogleich nach aussen auffallen musste.

Es scheint, dass die englischen Staatsmänner sich in den ersten Tagen um die Erhaltung des Friedens bemühten. Sie mussten dies in jedem Falle tun, weil sie vor dem englischen Parlament einen schlechten Stand gehabt hätten, wenn sie nicht nachweisen konnten, dass sie sich in dieser Richtung Mühe gegeben hatten. Auch im englischen Parlament war in jenen Tagen die Mehrheit keineswegs von vorneherein kriegsfreundlich.

Die englische Regierung hatte durch Jahre ihr Aeusserstes getan, um, falls es einmal zum europäischen Kriege kommen sollte, Deutschland in eine möglichst ungünstige und gefährliche Lage zu bringen, wie im Abschnitt über die Einkreisung im ersten Teil dieser Schrift gezeigt worden ist. England hatte seine Flottenverteilung und seine Flottenpositionen ganz und gar auf den Krieg mit Deutschland eingerichtet, und es war mehrmals – insbesondere im Jahre 1911 – drauf und dran gewesen, den Krieg hervorzurufen, zum mindesten es darauf ankommen zu lassen; die Regierung hatte die wichtigsten Vorbereitungen bereits getroffen (s. S. 92).

Es scheint nicht, dass sie im Juli 1914 von Anfang an in gleicher Stimmung war. Es wird sich überhaupt nicht feststellen lassen, dass das Kabinett Asquith den Krieg mit Deutschland, auf den die Presse Northcliffes und grosse englische Kreise deutlich und kräftig hinarbeiteten, unbedingt wollte. Man mochte hoffen, Deutschland diplomatisch noch vollständiger einzukreisen und durch eine noch grössere Koalition ohnmächtig zu machen. Die Männer, die die äussere Politik Englands seit Jahren ununterbrochen gelenkt hatten, König Eduard und Sir Edward Grey, hatten zwar ihre Kreise so gezogen und ihre Netze so gelegt, dass England für alle Fälle vorbereitet schien; aber in keinem Fall hatte Grey gerade für jetzt den Krieg gewünscht.

Dies geht natürlich nicht aus seinen billigen und längst zur leeren Floskel gewordenen Friedensversicherungen hervor, noch weniger aus der salbungsvollen, an Entstellungen und Unwahrheiten so reichen Einleitung zum Blaubuch. Auch seine Vermittlertätigkeit, die zum grössten Teil eine sehr einseitige war, würde es nicht beweisen.

Bewiesen wird es nur durch zwei Stellen des Blaubuches, die Noten Nr. 17 und 88.

Aus der ersteren geht hervor, dass der englische Botschafter in Petersburg, Sir George Buchanan, Ssasonoff sehr ernstlich von dem Schritt abriet, der nach seiner, des Botschafters, Meinung den Krieg entfesseln musste – das englische Wort «precipitate» sagt eigentlich noch mehr – der russischen Mobilisierung.

Dies beweist zum mindesten deutlich, dass der Botschafter an diesem Tage – dem der serbischen Antwort – keine entgegengesetzte Instruktion hatte.

Die zweite Note vom 29. Juli, Nr. 88, enthält jenen einzigen billigen Vermittlungsvorschlag, in welchem Sir Edward Grey Oesterreich vorschlug, die Sache vor die Mächte zu bringen, in deren Mehrheit es Gegner finden musste, es aber insofern sicherstellte, als er ihm serbisches Gebiet als Pfand bot – und der von Deutschland am nächsten Tage weiter gegeben, von Oesterreich am übernächsten angenommen wurde.

Beide Noten beweisen aber zugleich die Halbheit des englischen Friedenswillens – soweit er in den ersten Tagen der Krise bestand – da, als Russland dem Rat des englischen Botschafters entgegen das tat, was nach deutscher wie nach britischer Erklärung den Krieg herbeiführen musste, nämlich dennoch mobilisierte, England ihm nicht weiter entgegentrat, sondern es kräftig unterstützte.

Ebenso liess Grey den einzigen Vermittlungsvorschlag der ernst genommen werden konnte, sofort fallen, als Russland ihn nicht annahm. In seiner Note vom 4. August teilt er wohl die Annahme des Vorschlages durch Oesterreich der russischen Regierung mit, und zwar mit der Bemerkung, dass diese Annahme, «wenn Russland seine Mobilisierung einstellen würde, den Frieden erhalten könnte», aber er tut dies ohne irgend Nachdruck darauf zu legen, und als wollte er den Eindruck der ohnedies lendenlahmen Note noch mehr abschwächen, fängt er sie mit der merkwürdigen Mitteilung an, «er habe aus sicherer Quelle erfahren», während er die Annahme amtlich vom österreichisch-ungarischen Botschafter, Grafen Mensdorff, erfahren hatte, dem Graf Berchtold sie am Tag vorher depeschiert hatte, mit dem Auftrag, sie Sir Edward Grey «mit tiefstem Dank für den Vorschlag» mitzuteilen. (Oest. Rotbuch Nr. 51, Blaubuch Nr. 135.)

Dies beweist unwiderleglich, dass das englische Kabinett nach dem 25. Juli, nachdem Russland seinen entschiedenen Kriegswillen und die französische Regierung ihren Entschluss mitzugehen ausgesprochen hatte, seine Haltung geändert hat.

Denn Ssasonoff hatte am 25. Juli auf die Warnung Buchanans wörtlich geantwortet: «Russland könne Oesterreich nicht gestatten, Serbien niederzudrücken und die Vormacht auf dem Balkan zu werden, und es werde, wenn es nur der französischen Unterstützung sicher sei, den Krieg auf alle Gefahr hin wagen.»

Die Niederdrückung Serbiens wäre Russland, das jeden andern slavischen Stamm niedergetreten hat, an sich und in jedem andern Falle ebenso gleichgültig gewesen, wie sie ihm im Jahre 1885 gleichgültig war. Die Vormacht auf dem Balkan war der Grund und um dieser Vormacht willen wollte es den Krieg. Aber auch hier war der Ausdruck unehrlich.

Denn Oesterreich wäre durch die Annahme seiner Forderungen noch lange nicht die Vormacht auf dem Balkan geworden, ebensowenig wie vor dem Jahre 1904, als Serbien noch zur österreichischen Einflussphäre gehörte. Und wenn Russland der serbischen Regierung nicht den Nacken gesteift hätte, hätte sie diese Forderungen annehmen müssen. Die Folge wäre nur die gewesen, dass Oesterreich für eine Zeit Ruhe gehabt hätte, ebenso hätte der Balkan, soweit es an Oesterreich lag, und die Welt Ruhe gehabt.

Selbst ein österreichisch-serbischer Krieg musste, da Oesterreich sich ja verpflichten wollte, kein serbisches Gebiet zu nehmen, noch die Unabhängigkeit des Königreiches zu schmälern, Oesterreich noch lange nicht zur Vormacht auf dem Balkan machen. Dafür hätte die Existenz Bulgariens wie die der Türkei gesorgt, von dem ungeheuren Gewicht des blossen Daseins der russischen Riesenheere ganz abgesehen.

Nicht um die Abwendung der österreichischen, sondern um die Begründung der russischen Vormacht auf dem Balkan handelte es sich.

So lag die Sache für jeden Vernünftigen und anfangs auch für England. Wie sehr in der Einleitung zum Blaubuch auch versucht wird, die serbische Frage und ihre Vorgeschichte durch unbestimmte und zweideutige Aeusserungen zu verdrehen, es muss selbst da noch zugegeben werden, dass «Oesterreich schwer herausgefordert war»; eine Herausforderung Russlands wird nicht einmal behauptet; es wird nur gesagt, dass Russland sich für den Balkan interessierte, was natürlich an sich nicht das geringste Recht gibt. Dass die Westmächte an der Sache kein Interesse hatten, wird zugegeben.

Zu behaupten, dass selbst ein unprovozierter Angriff auf Serbien ohne weiteres als ein Angriff auf Russland aufzufassen gewesen wäre, ist natürlich Unsinn. Dass die italienische Regierung – die der Autor als Zeugin anruft! – dies behauptete, geschah, weil sie Oesterreich im Fall eines russischen Angriffs die Treue nicht zu halten wünschte, weil sie sich längst als Oesterreichs Gegnerin und als Russlands Verbündete auf dem Balkan betrachtete – was sie ja bereits in vielen Fällen bewiesen und im Jahre 1909 nach Racconigi feierlich verkündet hatte. Kein Mensch wird zu behaupten wagen, dass, selbst wenn Serbien besiegt wurde, das ungeheure russische Reich wesentlich geschwächt oder geschädigt worden wäre. Selbst seine wirkliche Machtstellung auf dem Balkan, die natürlich nicht durch das kleine Serbien, sondern durch seine eigenen Millionenarmeen gestützt wird, wäre nicht wesentlich verändert worden. Nur sein Prestige hätte gelitten.

Man kann es formell gelten lassen, wenn England Belgiens wegen den Krieg erklärte: es konnte sagen, es sei durch den Garantievertrag von 1839 gebunden, die belgische Neutralität zu verteidigen. Aber eine Kriegserklärung Russlands an Oesterreich wegen Serbien war durch keinen Garantievertrag, durch kein Bündnis herbeigeführt, und die Geschichte von den alten Beziehungen beider Länder ist eine Fabel, die man nur völlig geschichtsunkundigen Leuten aufbinden kann. Man kann höchstens gelten lassen, dass, nachdem die russische Politik Serbien jahrelang gegen Oesterreich vorgetrieben, es nun für sie einzutreten moralisch verpflichtet war. Das aber hätte auch in ganz anderer und für Serbien und den Frieden erspriesslicherer Weise geschehen können, und ist in keinem Fall eine Entschuldigung dafür, dass Russland um dieser jahrelang betriebenen antiösterreichischen Politik willen den Weltkrieg entfesselte.

Ein Angriff Russlands auf Osterreich aber musste nach dem Dreibundvertrag Deutschland mit in den Krieg ziehen. In der gesamten Welt gab es in den ersten Tagen der Krise niemanden, der nicht eingesehen hätte, dass der europäische Frieden von Russland abhing.

Nach Nr. 10 des Blaubuches sagte Sir Edward Grey am 24. Juli zum französischen Botschafter Cambon, er gedenke vorläufig in Petersburg gar keine Schritte zu tun, solange es sich nicht zeige, dass das österreichische Ultimatum zu einem Zwist zwischen Oesterreich und Russland führen müsse – solange dies nicht geschehe, brauche England sich um die ganze Sache gar nicht zu kümmern.

Klarer konnte er gar nicht sagen, dass für Russland kein Zwang bestand, einzuschreiten – allerdings sah er natürlich voraus, dass Russland trotzdem einschreiten würde.

Und sobald es klar war – durch Ssasonoffs Aeusserungen vom 24. und 25. Juli, – dass Russland zum Einschreiten, ja, zum Krieg entschlossen war, änderte England seine Haltung; zwar nahm die englische Regierung noch immer die Haltung eines Vermittlers ein; aber nur die Haltung: in der Tat trieb sie russische Politik.

Sir Edward Grey schlug die von Ssasonoff gewünschte Viermächtekonferenz vor, in der Oesterreich drei völlig einige Gegner und einen Freund finden musste, und die, weil der Dreibund sein Scheindasein noch führte, dem vorschlagenden Russland wie dem vermittelnden England auch den Schein der Unparteilichkeit gewährte, auf den der Autor hinweist.

Grey hat jede Formel Ssasonoffs angenommen, aber die einzige ehrliche Vermittlung, die er selber versucht hatte, sofort fallen lassen, als Russland nicht dafür zu haben war.

Und wenn er sich am 31. Juli tatsächlich in einem Gespräch mit dem Fürsten Lichnowsky nach seiner Note Nr. 111 bereit erklärte, «jeden annehmbaren Vorschlag Deutschlands oder Oesterreichs, welcher der Erhaltung des Friedens dienen könnte, in Petersburg und Paris zu vertreten und für den Fall der dortigen Nichtannahme sich von den Verhandlungen zurückzuziehen», so wirft diese Erklärung auf seine Aufrichtigkeit das schlechteste Licht, da er ja nicht einmal seinen eigenen Vermittlungsvorschlag in Petersburg wirklich vertreten hat. In wie eigentümlich abschwächender Weise er noch am letzten Tag die Annahme des Vorschlages nach Petersburg bekanntgab, ist auf Seite 253 mitgeteilt worden.

Vollkommene Lüge und Erfindung des Autors ist, dass Sir Edward Grey die Verhandlungen zwischen Oesterreich und Russland aufs lebhafteste gefördert und sie durch weitere, volle Befriedigung für Oesterreich enthaltende, Vorschläge zum Ziele zu führen gesucht hätte, und wenn der Autor in einer Anmerkung Nr. 110, 111, 131, 133, 135, 137 des Blaubuchs dafür zitiert, so ist dies, wie so oft, ein frecher Betrug, da nicht eine einzige dieser Noten irgendeinen Vorschlag, oder auch nur etwas einem Vorschlag ähnliches enthält!

Sir Edward Grey hat also unter dem Schein der Vermittlung lediglich russische Wünsche zur Annahme zu bringen gesucht; und während er von der deutschen Regierung verlangte, sie möge die österreichische Regierung zurückhalten, ja, «einen Druck auf sie ausüben», übte er auf die russische nicht den geringsten Druck aus und suchte sie von nichts zurückzuhalten, nicht einmal von dem Schritt, von dem sein eigener Botschafter am 25. Juli gesagt hatte, dass er zum Kriege führen müsste: der Mobilisierung; nach dem 25. Juli erfolgte keine Warnung mehr.

Wir haben vielmehr nur zu deutliche Anhaltspunkte dafür, dass heimlich das Gegenteil geschah.

Zunächst den Brief des belgischen Geschäftsträgers in Petersburg, Herrn von l'Escaille, in dem es heisst, «England habe anfangs zu verstehen gegeben, dass es sich nicht in einen Kampf hineinziehen lassen will. Sir George Buchanan habe es offen gesagt, England wolle sich nicht in einen Zwist hineinziehen lassen, aber jetzt habe die russische Regierung die Versicherung, dass England Frankreich helfen wird. Diese Unterstützung ist von ungeheurer Bedeutung und hat nicht wenig dazu beigetragen, der Kriegspartei in Russland die Oberhand zu geben.» «L'Angleterre a commencé par donner à entendre qu'elle ne voulait pas se laisser entraîner dans un conflit. Sir George Buchanan le disait ouvertement. Aujourd'hui on est fermement convaincu à St-Petersbourg, on a même l'assurance, que l'Angleterre soutiendra la France. Cet appui est d'un poids énorme et n'a pas peu contribué à donner la haute main au parti de la guerre.»

Der Autor versucht diesen Brief sowohl in seiner Echtheit wie in seinem Inhalt zu verdächtigen.

Er findet es zunächst sonderbar und «Sherlock-Holmes-artig-romantisch», dass der belgische Diplomat diesen Brief statt in Petersburg in Deutschland zur Post geben liess. Entweder stellt der Autor sich hier wieder einmal besonders dumm, oder er ist es. Denn es ist einfach selbstverständlich, dass ein in Petersburg akkreditierter Diplomat, wenn er in kritischen Tagen Dinge schreibt, die der russischen Regierung höchst unangenehm sein mussten, den Brief lieber nicht der russischen Post anvertraute und die deutsche für sicherer hielt. Dass inzwischen in Deutschland bereits Kriegszustand eintreten würde, konnte er nicht ahnen.

Nun folgt ein kleiner Advokatenkniff, der den Leser betrügen soll. Der Autor schreibt, «der Brief sei bisher nicht bestätigt worden», als ob das nötig oder nur denkbar wäre! Glaubt ein Leser wirklich, dass Herr von l'Escaille, nachdem er das Missgeschick hatte, dass sein Brief entdeckt wurde, nun noch vortreten und, nur um der deutschen Regierung eine besondere Freude zu machen, feierlich erklären sollte: «ja, das habe ich geschrieben und es ist meine Meinung»? Es genügt vollkommen, dass er die Echtheit des Briefes nie in Abrede gestellt hat. Es wäre auch schwer gewesen, da schon die Deckadresse «Madame Costermans, 107 rue Froissard, Bruxelles» die Echtheit beweist. Madame Costermans ist offenbar die Gattin oder Mutter des politischen Direktors im belgischen Ministerium des Aeussern, Herrn Costermans.

Weiter erklärt der Autor, der belgische Geschäftsträger könne das alles nicht wissen, was er sage; oder höchstens vom Hörensagen; dies sei nur Klatsch. Nun ist es ja wohl möglich, dass ein Diplomat an einem Hof nicht alles und auch nicht alles richtig erfährt. Aber welche bodenlose Unverschämtheit von Seiten des Autors, der gar nichts weiss und über alles plappert, der erzählt, als ob er es wüsste, was in den geheimsten Beratungen beim Kaiser in Potsdam beschlossen wurde, was man im Wiener Ministerium des Aeussern hoffte, wünschte und fühlte – welche Unverschämtheit von ihm, die Mitteilungen eines Diplomaten zu verdächtigen, der dies immerhin wissen kann! Er, dem es nicht einfällt, die «Dokumente» im Gelbbuch zu bezweifeln, in denen längst verstorbene Personen als lebend angeführt werden und sonst aller mögliche Klatsch berichtet wird, – er bezweifelt ein unangefochtenes Dokument, sobald es gegen die englische Politik spricht. So handelt eben ein loyaler und gründlicher «Historiker».

Endlich führt der Autor noch an: wenn die aus den diplomatischen Büchern Englands usw. hervorgehenden Tatsachen dem Zeugnis des belgischen Geschäftsträgers widersprechen, so müsste dieser Widerspruch zu Gunsten der ersteren entschieden werden.

Aber dieser Widerspruch besteht eben nicht; oder vielmehr er besteht nur gegenüber den Behauptungen der englischen Regierung in der Einleitung des Blaubuches, die der Autor – blindgläubig oder bösgläubig – nachschreibt; der Inhalt des Blaubuches bestätigt die Aeusserungen d'Escailles vollkommen, er ergibt klar und deutlich eine Aenderung der englischen Haltung in Petersburg, und eben diese Aenderung wird wieder von dem belgischen Diplomaten bestätigt.

Wir haben übrigens noch andere Bestätigungen. Das Bureau Reuter meldete schon am 29. Juli aus Petersburg: «Im Vertrauen auf Englands Unterstützung, über die die Zweifel meist geschwunden sind, ist die russische Oeffentlichkeit bereit, den Krieg auf sich zu nehmen», und am 30. Juli: «Die Abfahrt der englischen Flotte aus Portland hat einen ungeheuren Eindruck hervorgerufen und im Verein mit Japans friedfertiger Versicherung die russische Entschlossenheit für die bewaffnete Entscheidung mehr als befestigt.»

Was der belgische Geschäftsträger in Petersburg sagt, was das Bureau Reuter, das England gegenüber ein wahrlich unverdächtiger Zeuge ist, bestätigt, das entspricht durchaus der ganzen englischen Politik der letzten zehn Jahre und widerspricht der zweideutigen Haltung der letzten zehn Tage in keiner Weise und wird endlich durch das Ergebnis bestätigt.

Russland hatte die Zusicherung der englischen Hilfe gleich in den ersten Tagen verlangt, aber nicht sofort erhalten. Im selben Gespräch mit Sir George Buchanan vom 24. Juli hatte Ssasonoff die Ueberzeugung ausgesprochen, wenn sich nur England mit Frankreich und Russland solidarisch erklären würde, würden Deutschland und Oesterreich sicherlich eingeschüchtert werden und ihren Standpunkt aufgeben. In diesem Wunsch, der gleichzeitig vom französischen Botschafter geäussert wurde und den Poincaré am 30. Juli gegenüber dem englischen Botschafter Sir F. Bertie nochmals aussprach, sieht der Autor einen «Beweis für den ernstesten Friedenswillen» beider Mächte. Er, der sonst immer mit dem Strafgesetz in der Hand Politik treibt, fühlt sich nicht bewogen, zu sagen, dass man solch ein Vorgehen im Strafrecht Erpressung nennen würde. Nennen wir es richtiger eine Kriegsdrohung, um die eigene Politik durchzusetzen, oder sagen wir nur, um Serbien und damit zugleich Russland vor den Folgen der durch Jahre gegen Oesterreich betriebenen Politik der Verhetzung und der Attentate zu schützen; wahrscheinlicher noch, um sie zu ihrem Ziele zu führen.

Und diese Kriegsdrohung, die mit tötlicher Sicherheit zum Kriege führen musste, nennt der Autor «einen Beweis für den russisch-französischen Friedenswillen»!

In England verstand man dies sofort; man wusste, dass Deutschland und Oesterreich nicht einzuschüchtern waren, und Sir George Buchanan sagte denn auch am 27. Juli auf Ssasonoffs erneutes Drängen: «Wenn wir der deutschen Regierung sagen, dass sie es auch mit uns zu tun bekäme, wie mit Frankreich und Russland, würden wir ihre Haltung nur noch steifer machen.»

Aber für die schwatzenden Politiker des Forums genügt die Wiederholung «Brutus ist ein ehrenwerter Mann», und wenn nur bei jedem noch so drohenden Schritt wiederholt wird, «wir tun das um des lieben Friedens willen», so ist der Autor gleich seinen Seelenverwandten, die Shakespeare auf die Bühne gestellt hat, begeistert und gerührt.

Wahrscheinlich wäre es beiden Mächten lieber gewesen, ihr Ziel auch ohne Krieg zu erreichen; auch Italien hätte im Jahre 1912, wenn die Türkei ihm Tripolis gutwillig geräumt hätte, den Krieg nicht geführt; deswegen kann man aber noch nicht sagen, dass seine Kriegsdrohung den ernstesten Friedenswillen bewies.

Als Buchanan jene Antwort gab, da war die Aenderung in der Haltung des englischen Kabinetts noch nicht entschieden; am selben 27. Juli sagte Sir Edward Grey zum Fürsten Lichnowsky, «er werde in engster Gemeinschaft mit Deutschland arbeiten», aber in der Folge arbeitete er nur in engster Gemeinschaft mit Russland.

Oder sollte das Versprechen «in engster Gemeinschaft mit Deutschland zu arbeiten», etwa die sonderbare Forderung bedeuten, dass auch Deutschland sich an der Einschüchterung beteiligen sollte, um Oesterreich eine schwere politische Niederlage zu bereiten. Es sieht fast so aus.

Die deutschen Staatsmänner hätten vollkommene Esel sein müssen, um darauf hineinzufallen. Da sie nicht darauf hineinfielen, sah man sich nach andern um; und die Erwartung wurde nicht enttäuscht; wenn auch nicht jeder solchen Eifer im Hineinfallen zeigte, wie der Autor.

Immer den Frieden im Munde führend, schrie man, «seht, Deutschland hält seinen Bundesgenossen Oesterreich nicht genug zurück!» und lenkte so die Aufmerksamkeit davon ab, dass man den eigenen Bundesgenossen Russland überhaupt nicht zurückzuhalten versuchte, ihm vielmehr nach kurzem Zögern jede diplomatische Unterstützung gewährte und kriegerische in Aussicht stellte.

Wir können die Gedankengänge des englischen Staatssekretärs und die Beratungen im englischen Kabinett natürlich nur vermuten. Die Weltlage, auf die man so lange hingearbeitet hatte, war eingetreten, wenn auch vielleicht auf anderem Wege und rascher, als man erwartet hatte. Die Frage war: sollte man ehrlich vermitteln – das heisst, indem man beiden Teilen sachlich, nicht nur mit freundlichen Worten, Rechnung trug, oder die Gelegenheit benützen und mitgehen. Was darüber beraten, wann beschlossen wurde, wissen wir nicht. Wir sehen nur die Handlungen: diese beweisen im Anfang ein Zögern, dann ein zweideutiges Vermitteln, der einzige ernste Vorschlag wird auf den Widerspruch des befreundeten und am heftigsten drohenden Russland, das sich von Anfang an zum Kriege entschlossen erklärt, sofort fallen gelassen; dann ein immer entschiedeneres Mitgehen.

Will man die Verschlagenheit der Politik Grey's – und damit zugleich die Fassungsgabe des Autors – ermessen, so braucht man nur sein gleichzeitiges Verhalten gegenüber Frankreich zu verfolgen, wie es stufenweise in den Noten 87, 99 und 119 des Blaubuches zum Ausdruck gelangt.

In Nr. 87 gibt Sir Edward Grey selbst ein Gespräch wieder, das er am 29. Juli mit dem französischen Botschafter Paul Cambon hatte, dem er die folgende schlangenklug gewundene Erklärung gibt: «er, Grey, habe dem deutschen Botschafter bereits gesagt, man möge in Deutschland nicht darauf rechnen, dass England, wenn es zum Krieg kommen sollte, beiseite stehen werde. Aber Cambon möge einsehen, dass England eine bindende Erklärung, Frankreich und Russland zu helfen, auch nicht geben könne. Die öffentliche Meinung in England werde bei einem Balkanstreit nicht so mitgehen wie in der Marokkofrage. Selbst wenn zwischen Oesterreich und Russland Krieg ausbrechen sollte, selbst wenn Deutschland und Frankreich hineingezogen würden, bleibe England von jeder Verpflichtung frei; und noch sei nicht entschieden, was es tun werde; man würde überlegen und tun, was das englische Interesse verlange.»

Herr Cambon ist zunächst befriedigt. Er hat vollkommen verstanden. Er weiss oder glaubt zu wissen, was das englische Interesse verlangen wird und wie die Entscheidung fallen muss. Es handelt sich darum, die öffentliche Meinung in England für den Krieg zu gewinnen und mit einer blossen Balkanfrage geht das eben nicht.

Herr Cambon hat dies so gut begriffen, dass er am nächsten Tag seine Frage anders formuliert. Er wünscht nicht mehr ein förmliches Versprechen, sondern nur eine Erklärung, was England in bestimmten Fällen tun würde. Und er erinnert Grey an die Briefe, die im November 1912, als bereits wegen einer Balkanfrage Krieg auszubrechen drohte, gewechselt worden waren. Auch damals hatte die englische Regierung sich nicht formell gebunden (s. S. 55–57).

Mit der Note Blaubuch Nr. 105, in der dieses zweite Gespräch vom 30. Juli mitgeteilt wird, werden die beiden Briefe vom 22. November 1912 mit veröffentlicht, sowie ein Schreiben des französischen Ministers des Aeussern an Herrn Cambon, in dem auf die drohenden Vorkehrungen Deutschlands und die Gefahr, in der Frankreich bereits schwebt, hingewiesen wird. Dieses Schreiben wird, um es wirksamer zu gestalten, im Datum wie im Inhalt gefälscht; davon später mehr (s. S. 285 ff.).

Am Schluss verweist Grey auf die Kabinettsitzung vom nächsten Tag und verspricht nachher nochmals mit dem Franzosen zu sprechen.

Am nächsten Tag kommt Cambon wieder; er ist diesmal viel aufgeregter, was ja begreiflich ist, denn er weiss, dass Frankreich dem Kriege zustrebt, und ist nicht sehr zufrieden, als Grey ihm mitteilt, in der Kabinettsitzung sei beschlossen worden, dass man im Augenblick noch kein bindendes Versprechen geben könne, ja er ist so aufgeregt, dass er diesmal nicht gleich versteht, was Grey ihm immer wieder und wieder zu verstehen gibt.

Ich werde es machen wie der Autor und den Wortlaut mitteilen, unter Betonung der Stellen, die mir die entscheidenden scheinen, – es sind nicht die gleichen, die der Autor gesperrt druckt:

«Ich sagte, wir wären zum Schluss gekommen, dass wir im Augenblick kein Versprechen geben können. Wir haben wohl unsere Politik vor das Parlament zu bringen, aber wir können das Parlament nicht im voraus binden. Bis zu diesem Augenblick finden wir nicht, noch fände es die öffentliche Meinung, dass Verträge oder Verpflichtungen unseres Landes in Mitleidenschaft gezogen seien. Weitere Wendungen könnten die Lage ändern und Regierung und Parlament zur Ansicht bringen, dass eine Teilnahme gerechtfertigt sei. Die Bewahrung der belgischen Neutralität könnte, ich will nicht sagen ein entscheidender, aber ein wichtiger Faktor für die endgültige Bestimmung unserer Haltung sein. Ob wir nun dem Parlament vorschlagen, an einem Krieg teilzunehmen oder nicht teilzunehmen, das Parlament werde jedenfalls wissen wollen, wie wir mit der belgischen Neutralität daran seien, und es könnte sein, dass ich beide, sowohl Frankreich als Deutschland, fragen werde, ob beide bereit seien, sich zu verpflichten, die Neutralität Belgiens nicht als erster zu verletzen.» «I said that we had come to the conclusion, in the Cabinet today, that we could not give any pledge at the present time. Though we should have to put our policy before Parliament, we could not pledge Parliament in advance. Up to the present moment, we did not feel, and public opinion did not feel, that any treaties or obligations of this country were involved. Further developments might alter this Situation and cause the Government and Parliament to take the view that Intervention was justified. The preservation of the neutrality of Belgium might be, I would not say a decisive, but an important factor, in determining our attitude. Whether we proposed to Parliament to intervene or not to intervene in a war, Parliament would wish to know how we stood with regard to the neutrality of Belgium, and it might be that I should ask both France and Germany whether each was prepared to undertake an engagement that she would not be the first to violate the neutrality of Belgium.»

Der Autor führt die gleiche Note an, aber er unterstreicht die Stellen, die sagen, dass die englische Regierung sich nicht verpflichten könne, während ich die Stellen unterstreiche, die sagen, dass die englische Regierung sich noch nicht verpflichten könne.

Schon am 27. Juli hatte Sir Edward Grey zum russischen Botschafter in London gesagt, «der Eindruck, dass London beiseite stehen werde, sei ja schon infolge der der ersten Schlachtflotte erteilten Befehle unmöglich», um sofort hinzuzufügen, dass man darin nicht mehr als das Versprechen einer diplomatischen Aktion sehen möge. Auch der stellvertretende französische Minister des Aeussern, Herr Bienvenu-Martin, verstand ihn sofort und sprach dem englischen Botschafter in Paris seine Dankbarkeit aus; er beteuerte sein vollkommenes Verständnis durch die Worte, «er erkenne, dass die Frage in ihrer gegenwärtigen Phase England in keiner Weise berühre», (Blaubuch Nr. 47 und 59) und wiederum bestätigte Grey seinem Pariser Botschafter, «er habe Cambon gesagt, es wäre nicht gerechtfertigt, wenn wir im gegenwärtigen Augenblick ein Versprechen gäben, aber wir werden die Lage sofort neu in Erwägung ziehen, sobald eine neue Wendung der Dinge eintritt». (Blaubuch Nr. 117.)

Man sieht die Worte: «jetzt», «im gegenwärtigen Augenblick», soweit der Konflikt sich «bis jetzt» entwickelt hat, «sobald eine neue Wendung eintritt» kehren immer wieder. Sie müssen also für den englischen Staatssekretär wie für seine Zuhörer von ausserordentlicher Wichtigkeit gewesen sein.

Die Sache ist ja nur zu deutlich. Mehr konnte ein englischer Minister nicht versprechen; aber es war ihm natürlich unbenommen, nachher viel mehr zu halten, als er versprochen hatte, und es war ihm unbenommen, dies schon jetzt anzudeuten. Er durfte nur ermutigen, nicht versprechen; und er ermutigte so viel er konnte; in jedem Wort sagte er dem französischen Botschafter: «Hoffe nur, verstehe doch, dass ich mich nicht binden kann, aber verzweifle darum nicht, noch ist es nicht so weit; aber es kann ja jeden Augenblick kommen.»

Spricht so jemand, der den andern vom Kriege abhalten will? Ein englischer Minister ist vom Parlament und damit zugleich von der öffentlichen Meinung abhängig. Seine Sache ist es, durch Geschicklichkeit und Beredsamkeit die Mehrheit auf seine Seite zu bringen und für seine Politik zu gewinnen. Das ist es, was er von Jugend auf, schon in den Spielparlamenten an der Universität, lernt und übt. Aber er muss sie, die er führt, immer in dem Wahn lassen, dass sie frei entscheiden. Er muss immer den Schein wahren. Darum konnte Sir Edward Grey nie ein unbedingtes Versprechen geben. Er musste stets gedeckt bleiben und dem Parlament sagen können: seht, ich habe meine Befugnis nicht überschritten, ich habe euch nicht im voraus verpflichtet. Wenn man seine Note liest, muss man bewundernd sagen, er hätte es gar nicht geschickter machen können: er hatte schwerwiegende, ja entscheidende Aussichten auf Englands Mithilfe eröffnet und konnte doch immer sagen: ich habe ja nichts gesagt.

Seine Sache war es, das durchzusetzen, wozu er längst entschlossen war. Da der so lange drohende Krieg nicht aus der Marokkofrage hervorging, die Lloyd George im Jahre 1912 als eine Lebensfrage bezeichnet hatte, sondern aus einem Balkanwinkel, von dem die meisten Engländer ebensowenig wussten, wie etwa der Autor, so musste etwas gefunden werden, was sie näher anging.

Darum verwies Sir Edward Grey den drängenden Franzosen auf die «neue Wendung», von der er wusste, dass sie nicht ausbleiben konnte. Da war zunächst die Frage der belgischen Neutralität, mit deren Verletzung durch Deutschland – wie schon die wiederholten Schutzanträge und Verhandlungen mit Belgien und der Aufsatz Hilaire Bellocs beweisen – man bestimmt rechnete. Von dieser Verletzung konnte man sich sehr viel versprechen, damit konnte man sowohl die Realpolitiker, die seit Jahrhunderten Belgiens Unberührbarkeit im englischen Interesse forderten, als auch die zahlreichen loyalen und naiven Leute im Lande für den Krieg gewinnen.

Dennoch hütete man sich, die Kriegsbeteiligung Englands auf diese eine Karte zu setzen. Es sollte «kein entscheidender, nur ein wichtiger Faktor» sein. Denn Sir Edward Grey war ja längst entschieden, aber für das Parlament war ein moralisch klingender Grund wichtig. Schon früher hatte man einen Angriff auf die französische West- oder Nordküste zum Kriegsfall gemacht, wie man Frankreich am 2. August zusicherte. (Blaubuch Nr. 148.)

Aber man zählte mit ziemlicher Sicherheit auf den ersten Faktor. Den Kriegsgrund der belgischen Neutralität trug man gleichsam seit Jahren in der Tasche. Oder glaubt jemand, dass der englische Generalstab das auf Seite 240 genannte vierbändige Geheimwerk über die belgischen Flüsse und Strassenverhältnisse auf Grund des vom belgischen Generalstab gelieferten Materials ausgearbeitet und in Druck gelegt hätte, wenn die englische Regierung nicht aufs bestimmteste mit einem Krieg in Belgien gerechnet hätte? Und welche Antwort man von Frankreich, welche man von Deutschland erhalten werde, wusste man zum genauesten im voraus, so gut wie Herr Hilaire Belloc es wusste. Man muss zugestehen, wieder wurde die Sache mit grösster Geschicklichkeit in Szene gesetzt. Die weinerlich-pathetischen Worte, mit denen Sir Edward Grey und mehr noch Herr Asquith im englischen Parlament ihr entrüstetes Erstaunen über die Verletzung der belgischen Neutralität vortrugen, bildeten den Höhepunkt dieser glänzend gespielten politischen Komödie.

«Wir kämpfen», sagte Herr Asquith in der Sitzung des Unterhauses vom 6. August 1914, «um eine feierliche internationale Vertragsverpflichtung zu erfüllen, eine Verpflichtung, die, wenn sie ähnlich im Privatleben von zwei Personen eingegangen würde, nicht nur als eine gesetzliche, sondern als eine Ehrenpflicht erscheinen würde, die kein Mensch, der sich selbst achtet, zu erfüllen sich weigern dürfte.»

Wie schön das klingt! Nun, die Neutralität der Insel Korfu ist gleichfalls von Grossbritannien, England, Frankreich, Russland, Oesterreich und Preussen – also genau denselben Mächten, die seinerzeit die belgische Neutralität garantiert haben, zu London verbürgt worden. Man hat aber nicht gehört, dass, als die Franzosen und Italiener im Laufe des Krieges Korfu besetzten, England «eine Ehrenpflicht erfüllt hätte, die kein Mensch, der sich selbst achtet, zu erfüllen weigern dürfte».

Und in wie vielen Verträgen hat England feierlich die Integrität der Türkei gewährleistet, seitdem es die Verpflichtung im Jahr 1878 zum ersten Mal übernahm und dafür die Insel Cypern erhielt?

Aber da es so viele Leute gibt, die mit solchen Worten eingefangen werden und nach den Taten nicht fragen, warum sollte ein kluger Minister nicht so sprechen?

Es mag auf den ersten Blick weniger politisch erscheinen, aber es ist jedenfalls ehrenhafter und vornehmer zu sagen: «Wir tun Unrecht, aber wir sind in grosser Gefahr, und müssen die belgische Grenze verletzen.»

Man kann überzeugt sein, dass die Mehrheit des englischen Parlaments von der Vorgeschichte der belgischen Neutralität und ihrer Verletzung wenig oder gar nichts wusste. Dass das Deutsche Reich aus der Zahl der Garantiemächte ausgeschieden war, wusste vermutlich nicht einer. Die militärische Lage, die Vorgänge der Krise waren sicherlich den wenigsten bekannt und von den Machenschaften zwischen der belgischen und englischen Regierung wussten sie ebensowenig.

Da musste die Plötzlichkeit des Ereignisses und das Pathos Asquith' wirken. Ausserdem war die von den grossen Blättern der Northcliffepresse bearbeitete Volksstimmung für einen Krieg gegen das Deutsche Reich nicht schwer zu gewinnen.

Man vermochte einen grossen Teil Europas und der Bevölkerung Europas wie Amerikas – und nicht die schlechtesten in beiden Weltteilen – auf diese Weise zu täuschen und zunächst auf die Seite der Entente zu bringen. Aber die Zeit kommt, da Europa und Amerika umlernen werden.

Welch unsagbaren Missverstand der Autor zu alledem schreibt, kann hier nur flüchtig angedeutet werden. Er ist ebenso masslos und sinnlos im Verteidigen wie im Anklagen. Er schreit, «den führenden Männern Deutschlands sei die Logik abhanden gekommen, sie wollten oder könnten nicht begreifen, dass das, was England nach dem Kriegsausbruch tat, nichts mit dem zu schaffen hat, was es vorher getan», und sieht gar nicht, welch ein Armutszeugnis er damit den englischen Staatsmännern ausstellen würde, das sie wahrlich nicht verdienen. In unendlich klug berechneten Schritten und in klar gezogenen Linien war die englische Politik seit vielen Jahren auf das eine Ziel losgegangen: Deutschland zu umstellen und einzukreisen; dann hatte die englische Regierung während der Krise Schritt für Schritt im gleichen Sinn Stellung genommen, hatte schon vor dem 1. August Russland und Frankreich die nötigen Ermutigungen gegeben und war am 3. August schon seit einer Woche entschlossen, die Gelegenheit zu nützen, den gefährlichen und unangenehmen Konkurrenten zu vernichten.

In gar keinem Fall: nicht wenn Deutschland sich verpflichtete, die französischen Küsten nicht anzugreifen, nicht wenn es sich verpflichtete, Frankreich selbst, ja die französischen Kolonien beim Friedenschluss unangetastet zu lassen, nicht wenn es sich verpflichtete, Belgiens Neutralität nicht anzutasten: für keinen Fall, wollte England sich verpflichten, neutral zu bleiben. Auf alle Vorschläge des Fürsten Lichnowsky erwiderte Sir Edward Grey immer wieder: «Wir müssen uns die Hände frei halten».

In seiner Geschichte des Krieges hat Stegemann diesen stets wiederkehrenden Satz vortrefflich ergänzt: «England wollte sich die Hände frei halten, um sie gegen Deutschland zu gebrauchen».

Auch hieraus möchte der Autor der englischen Regierung ein Lob drehen und Sir Edward Grey mit einem alten Bagatellrichter vergleichen, der beiden Prozessparteien die Schwächen ihres Standpunktes vorhält, um sie zu einem Vergleich zu bewegen; und so dreht und fälscht er denn die Vorgänge jener Tage dahin, als hätte Sir Edward Grey «den Franzosen und Russen gesagt: gebt nach, rechnet nicht auf meine Hilfe, und den Deutschen und Oesterreichern: gebt nach, rechnet nicht auf meine Neutralität». Wohl sprach der englische Staatssekretär so zu Deutschland und Oesterreich, niemals aber, nicht an einer einzigen Stelle in sämtlichen Akten, nicht einmal bei jener ersten und letzten ernstlichen Warnung Buchanans vom 25. Juli sagte er der französischen und russischen Regierung: «Gebt nach», und ebensowenig sagte er ihnen je «rechnet nicht auf meine Hilfe», sondern stets nur: «ich kann mich jetzt noch nicht binden, euch zu helfen, aber wartet nur, wenn die Sache sich entwickelt, werden wir schon sehen». So hat des Autors alter Amtsgerichtsrat sicherlich nicht gesprochen, oder er hätte sehr wenig Vergleiche erzielt. Und auch der allerparteiischeste Richter gibt kein schriftliches Versprechen ab, nur dem einen Teil zu helfen, er sagt höchstens wie Sir Edward Grey: «Wir werden schon sehen.»

Der Autor aber fährt in gleicher Weise fort, entstellt jede Tatsache, missversteht jede Note, verdreht jede Rede, schreibt Sinnlosigkeit auf Sinnlosigkeit, verliert in seiner Stylstümperei jede Haltung und jeden Faden, wiederholt oder vergisst, was er vorher gesagt, läuft gleichsam hin und her, kollert und gestikuliert und überschlägt sich im Geiste vor Eifer. Er ist wütend, dass man in Deutschland immer wieder die Gründe erörtert, die England zur Teilnahme am Kriege bewogen haben und schreit in unfreiwilliger Komik: «Diese Gründe sind ganz ausschliesslich Englands Sache!»

Wenn es historisches Interesse, wenn es nur Neugier wäre, dass wir ergründen möchten, weshalb ein Volk, ein Land, mit dem wir seit dem siebenjährigen Krieg keinen Kampf mehr gehabt, dem wir niemals politisch entgegengetreten sind oder noch irgend eine Unfreundlichkeit erwiesen haben – mit der einzigen Ausnahme einer Depesche, die einen völkerrechtswidrigen Akt eines Privatmannes verurteilte, dessen Urheber in England selbst gerichtlich verurteilt wurde – dem wir aber viel Freundlichkeiten und Dienste erwiesen haben, und das viele von uns aufrichtig liebten und bewunderten; wenn wir wissen wollen, warum dieses Land sich nicht nur seit Jahren in die Reihe unserer Gegner stellte und gegen uns arbeitete, sondern in unserer höchsten Gefahr uns an die Kehle griff, das sollte uns verwehrt, sollte nur wunderlich sein?

Hat der Autor schon vergessen, dass er von Oesterreich verlangte, es sollte seine Gründe für sein Vorgehen gegen Serbien, England und andern Unbeteiligten vorlegen? und wir Nächstbeteiligten sollen nicht fragen, warum England gegen uns vorgeht? Warum sind Englands Gründe ausschliesslich seine Sache, und Oesterreichs Gründe nicht seine Sache?

Wir sollen uns mit dem Grund für Kinder und Idioten begnügen, mit dem sich der Autor begnügt, dass England wegen des verletzten Garantievertrages von 1839 uns den Krieg erklärt hat, den es damit nicht nur für uns, sondern für sich selbst zu einem auf Leben und Tod gemacht, und in den es seither Volk auf Volk hineingerissen hat? Das sollen wir von einer Regierung glauben, die so ungezählte Verträge, und gerade in den letzten Jahren, gebrochen hat, wenn es ihr irgend passte? und nachdem gerade vom Garantievertrag, – als die gleiche Frage im Jahr 1870, freilich bei ganz anderer politischer Stellung Englands, auftauchte – Englands moralischester Staatsmann vorsichtig gesagt hatte: «Ich kann die Lehre derer nicht unterschreiben, die in diesem Hause behauptet haben, dass das einfache Bestehen eines Garantievertrages jeden Teil bindet, gleichgültig, in welcher besonderen Lage er sich befinden mag, wenn die Gelegenheit kommt, dem Garantievertrag gemäss zu handeln.» «I am not able to suscribe to the doctrine of those who have held in this House what plainly amounts to an assertion, that the simple fact of the existence of a guarantee is binding on every party to it, irrespectively altogether of the particular position in which it may find itself at the time when the occasion for acting on the guarantee arises.»

Eben darum suchte Gladstone beide Mächte, Preussen und Frankreich durch erneuten Vertrag zu binden, und Bismarck erneuerte die Garantie in der Tat für die Dauer bis zu einem Jahr nach dem Krieg. Gladstones Haltung war eine zweifelnde. Aber im Jahre 1887, als infolge der nationalistischen Bewegung in Frankreich unter Führung des Generals Boulanger die Gefahr eines Krieges zwischen Frankreich und Deutschland drohte, hatte die englische Regierung, wie aus der auf Seite 237 zitierten Aeusserung des «Standard» hervorgeht, über die Frage noch ganz anders gedacht. Und nicht nur das Organ des konservativen Kabinetts Salisbury, sondern Sir Charles Dilke, der Unterstaatssekretär des Auswärtigen im liberalen Kabinett Gladstone war, schrieb im Juni des gleichen Jahres in der «Fortnightly Review»: «Die Verträge verfallen ohne Zweifel mit der Zeit. Der Vertrag von 1839 über Belgien ist älter als der Vertrag von 1855 über Schweden, und England würde es heute für Wahnsinn halten, die Unverletzlichkeit Schwedens gegen Russland zu garantieren, und ähnlich denkt England heute rückhaltlos bezüglich Belgiens.» Ebenso hatte schon vorher, am 4. Februar, W. T. Stead, der berühmte Herausgeber der «Review of Reviews», damals Leiter der liberalen «Pall Mall Gazette», in einem Leitartikel bewiesen, dass «eine englische Garantiepflicht für Belgien nicht zu recht bestehe».

Im Jahre 1870 empfand man in England für keine der beiden kriegführenden Mächte Sympathien; daher Gladstones neutrale und unbestimmte Haltung; im Jahre 1887 bestanden die besten Beziehungen zu Deutschland; daher erschien der deutsche Durchmarsch durch Belgien als durchaus erlaubt; 1914 war man mit Frankreich mehr oder minder verbündet, mit Deutschland verfeindet; daher war der Durchmarsch durch Belgien wieder ein Verbrechen und wurde aller Wahrheit entgegen als verräterischer Vertragsbruch in die Welt hinausgeschrieen, die mit dieser Lüge gegen Deutschland aufgehetzt wurde. So einfach ist das Problem der englischen Politik gegenüber Belgien und seiner Neutralität.

Ja, dass England ein Interesse an Belgien hat, das wissen wir gut; dass es für England zunächst ein Bollwerk gegen Frankreich war, das wissen wir seit jenem berühmten Brief, mit dem Lord Castlereagh im Jahre 1813 verhinderte, dass Metternich Frankreich seine «natürlichen Grenzen» bewilligte. Später wurde es das Bollwerk gegen Deutschland. Das wissen wir alles, und wenn ein moralischer englischer Minister die Verletzung englischer Interessen als «the direst crime that ever stained the pages of history» bezeichnet, so setzt uns das weiter nicht in Erstaunen. Die Verletzung fremder Interessen erscheint ihnen nicht als ein so «grässliches Verbrechen».

Trotzdem wissen wir, trotzdem weiss alle Welt, dass dies nicht der wesentliche Grund der Kriegsteilnahme Englands war; wir wissen wohl, dass sie auch ohne dies erfolgt wäre, sonst hätte sich ja Sir Edward Grey gegen das Versprechen der Wahrung der belgischen Neutralität zur eigenen verpflichtet.

Ein vernünftig denkender Franzose, der sich sein sachlich kühles Urteil im Weltkrieg bewahrt hat, hat diese Gründe in folgenden Worten klar zum Ausdruck gebracht: «Die englische Regierung hat ihrem Volke keine geheimen Absichten zu verbergen, sie braucht ihm das Kriegsziel nicht unter falschen Gesichtspunkten darzustellen. Dieses Ziel ist die Erdrückung Deutschlands, die für das wirtschaftliche Gedeihen Englands notwendig geworden ist; diese Notwendigkeit ist unbestritten, ist allen Leuten bekannt, sie entspricht den realen Gesamtinteressen wie denen der Einzelnen; jedermann weiss es, jeder nimmt seit langem mit zähem Machtwillen lebhaft und glühend daran teil. Höchstens, dass die Staatsmänner, die die Verantwortlichkeit für dieses Unternehmen auf sich genommen haben, vor den Augen der Neutralen das zu verbergen haben, was ihr Vorgeben, für Recht und Ehre zu kämpfen, entkräften könnte; aber den Mitbürgern gegenüber wäre solche Zurückhaltung ganz überflüssig, da alle übereinstimmend den wahren gewinnsüchtigen Grund des Krieges, soweit er ihr Land betrifft, kennen und grösstenteils billigen, dass man entsprechend vorging.» «Le gouvernement Anglais n'a aucun projet occulte à cacher à sa nation, ni aucun besoin de lui présenter le but de la guerre sous un faux espect. Ce but est l'écrasement de l'Allemagne devenu indispensable au succes économique de l'Angleterre; la nécessité en est indiscutée, connue de tous, conforme aux réels intérêts collectifs autant qu'à ceux des individus et chacun le sait, chacun communie ardemment depuis longtemps avec la tenace volonté du Pouvoir à cet égard. Tout au plus les hommes d'Etat qui ont assumé la responsabilité d'une teile œuvre peuvent-ils avoir à dissimuler aux yeux des Neutres ce qui pourrait infirmer leur prétention de lutter pour le seul motif du Droit et de l'Honneur; mais cette réserve serait superflue envers leurs concitoyens, qui savent unanimement la vraie raison cupide du conflit en ce qui s'y soit conformé.» (Joseph Bertourieux, «La Vérité», Berne 1916, Seite 99.)

Der Autor oder sonst jemand könnte einwenden, das sei die Meinung eines Privatmannes, eines Ausländers, der England nicht versteht. Wir haben indessen, ausser hinreichenden Geständnissen der führenden englischen Presse, eine feierliche amtliche Verkündung des englischen Kriegszieles in einem Urteil, das der oberste Gerichtshof Englands am 21. Dezember 1915 zugunsten einer englischen Firma der «Zinc Corporation Limited» fällte, die die Feststellung verlangte, dass ihre Vertragspflichten gegen eine deutsche Firma durch den Krieg aufgehoben seien. In diesem Urteil stellen die Richter – Lord Justice Swinfen Eady, Lord Justice Philimore und Lord Justice Pickford – fest, dass es «das Ziel Englands sei, im Verlauf des Krieges den blühenden Handel Deutschlands zu vernichten». «It is the objet of this country during the war to destroy the commercial prosperity of the enemy country.» «Würde also der Vertrag anerkannt werden, so würde das heissen, dass die britischen Gerichte das Werk stören, das die See- oder Landstreitkräfte für die Nation vollbringen», «It would be to undo by British tribunals the work done for the nation by its naval or military forces.»

So wird denn unsere Neugierde, die den Autor so sehr verdriesst, durch den richterlichen Spruch dieser, wenn nicht ehrwürdigen, so doch ehrlichen Männer vollends befriedigt.

Er aber schreit weiter und entrüstet sich: «Eine Zusicherung, die England am 2. August, also nach dem Ausbruch des Krieges an Frankreich gemacht hat, eine Begründung der englischen Kriegserklärung vom 4. August – diese nachträglichen Ereignisse sind für Herrn von Bethmann-Hollweg ebensoviele Beweise einer vorbedachten Kriegsanstiftung Englands. Diese Beweise sind hinfällig, weil sie gegen die einfachste Logik verstossen. Die Handlungen, welche eine Schuld begründen, können zeitlich niemals nach dem entscheidenden Ereignis liegen.»

Selbst der ungeübte Leser sieht, wie der Autor dem Gegner stets das Wort im Munde fälscht; selbstverständlich müssen die Handlungen, die die Schuld begründen, also hier die Anstiftung des Krieges, vor dem Ereignis liegen oder mit ihm gleichzeitig sein, aber Handlungen, die diese Schuld beweisen, können sehr wohl nach dem Ereignis eintreten, und wie der Autor selbst schreibt, hat der Reichskanzler nur von «Beweisen» gesprochen.

Man wird es müde, immer auf den gleichen Aberwitz hinzuweisen und muss es doch zeigen, wie der Autor auf all diesen Seiten seines Buches (219 fgg.) kindisch-listig zu widerlegen sucht, was niemand behauptet hat. Denn niemandem ist es je eingefallen, zu sagen, England sei für diesen Weltkrieg verantwortlich, weil es nach seinem Ausbruch daran teilgenommen hat. Niemand sucht Englands Mitschuld am Ausbruch des Krieges in dem, was es nach dem ersten August getan hat; diese Mitschuld und Verantwortlichkeit ist im Gegenteil in seiner jahrelangen Politik seit dem Anfang dieses Jahrhunderts begründet, wie sie im ersten Teil dieser Schrift auf S. 37 fgg. geschildert worden ist, sowie in seinem zweideutigen Verhalten in den letzten Tagen vor dem 1. August, das dann so rasch ein unzweideutiges wurde. Was England nach dem 1. August getan, ist nur die Vollendung und Bestätigung dessen, was es vorher getan hatte.

Der Autor sagt, dass die Erörterung darüber, was England unter Umständen getan oder nicht getan hätte, zwecklos sei. Darin hat er einmal nicht Unrecht; aber der erste, der gegen diesen Satz sündigt, ist er selbst, denn er erklärt auf Seite 235: «Wenn Deutschland die belgische Neutralität schonte und gleichzeitig den Angriff auf die Küsten und die Schiffahrt Frankreichs unterliess, so wäre der Frieden zwischen Deutschland und England erhalten worden.» Dies ist eine Versicherung, was England getan hätte, wenn Deutschland dies oder das nicht getan hätte. Und wir glauben sie nicht, oder wenigstens nicht ganz. Gewiss, wenn in dem Krieg, dessen Ausbrechen England so sehr befördert hatte, Deutschland auf all jene Massnahmen verzichtet hätte, die ihm den Sieg versprechen konnten, wenn seine Heere sich am Vogesenwall verblutet, oder die Franzosen gar das rheinische Industriegebiet besetzt und die Speisung der deutschen Heere mit Kriegsmaterial verhindert hätten, gleichzeitig die Russen die Ostprovinzen des Reiches verwüstet, am Ende Berlin genommen hätten, kurz, wenn man das gewünschte Ziel erreicht hätte, ohne dass es England einen Mann oder ein Pfund Sterling gekostet hätte, dann wäre, wie der Autor so schön sagt, der Friede zwischen dem kostenlos zugrunde gerichteten Deutschland und dem zufrieden lächelnden England erhalten geblieben. Es hätte vielleicht noch ein Wort für uns eingelegt, denn «the unmeasured aggrandisement of any power whatever», «die unverhältnismässige Vergrösserung irgend einer Macht» wäre, wie Gladstone sagte, «gegen das englische Interesse».

Aber das sind zwecklose Erörterungen dessen, was gewesen wäre, vor denen der Autor mit Recht warnt; schade nur, dass er sich an seine Warnung nicht hält. Wenn er aber im gleichen Zusammenhang bemerkt, die Behauptung, dass England auch ohne die Verletzung der belgischen Neutralität gegen Deutschland ins Feld gezogen wäre, sei eine völlig halt- und beweislose, so sagt er, wie so oft, die Unwahrheit. Denn er beweist sie selbst, wenn er zugleich auch den Beweis durch das törichteste Gerede wieder zu entkräften versucht. Er muss nämlich zugeben, dass die englische Regierung schon am 2. August der französischen die – in einer Kabinettssitzung vom 1. August beschlossene – Zusicherung gab, ihr gegen Angriffe der deutschen Flotte Hilfe zu leisten.

Da dies selbstverständlich den Eintritt Englands in den Krieg bedeutete, so ist damit allein schon bewiesen, dass dies auch ohne Verletzung der englischen Neutralität geschehen wäre.

Um dies wegzudrehen, schreibt der Autor womöglich noch groteskeren Unsinn als bisher. Harmlos fragt er: «Was war denn aber in Wirklichkeit der französischen Regierung zugesichert worden? Eine bedingte und beschränkte Hilfeleistung, nichts weiter. Die Hilfeleistung war an die Bedingung geknüpft, dass Deutschlands Flotte durch den Kanal oder die Nordsee hindurch feindliche Operationen gegen die französischen Küsten oder die französische Schiffahrt unternehmen würde.» Ja, auf welchem andern Weg sollte die deutsche Flotte denn sonst nach Frankreich gelangen? Etwa durch den Rhein-Marnekanal? Der Ausdruck, «eine bedingte Hilfeleistung» ist unbezahlbar. Wenn die deutsche Flotte nicht durchs Meer fuhr, sondern zu Haus blieb, sollte diese Hilfe nicht stattfinden. Das war die Bedingung. Nicht minder geistreich ist der Ausdruck «beschränkte» Hilfeleistung. Der Autor erläutert: «Die Hilfeleistung war ausserdem der Beschränkung unterworfen, dass sie nur durch die englische Flotte stattfinden sollte.» Ja, seit wann ändert das etwas an einer Kriegshandlung, mit welcher Truppengattung sie erfolgt? Schiessen die Kanonen der Panzerschiffe weniger scharf als die der Landartillerie? Und nun kommt sein Stichwort: «Ausdrücklich wurde hervorgehoben, dass diese Hilfeleistung nicht gleichbedeutend sein sollte mit einer Kriegserklärung an Deutschland.» Für diesen kindischen Menschen kommt es immer nur auf die Erklärung an. Wenn jemand auf ihn schiesst, ohne sich zu erklären, so fühlt er sich nicht verletzt, er ist geneigt, den Mann, der auf ihn schoss, weiter als liebenswürdigen Gesellschafter zu betrachten. Da aber die deutsche Flotte sich vermutlich bei einer Fahrt durch die Nordsee nicht hätte anschiessen lassen, ohne zurückzuschiessen, so wäre der Krieg natürlich sofort ausgebrochen. Und was, meint die Einfalt, hätte England gesagt, wenn die Deutschen ihm im Burenkrieg unter Androhung bewaffneten Einschreitens verwehrt hätten, durch das Deutschsüdwestafrika benachbarte Betschuanaland gegen die Buren zu marschieren; hätte es dies auch als neutral betrachtet? Was England mit der Flotte recht ist, muss Deutschland mit der Truppe billig sein. Und Deutschland hatte, wie der Krieg gezeigt hat, an der Integrität der Burenstaaten ein mindestens eben so grosses Interesse wie England an dem Belgiens. Die englische Regierung vollends zu rechtfertigen, fährt der Autor fort: «Diese bedingte und beschränkte Zusage Englands floss nicht aus dem freien Willen der englischen Regierung, sondern aus einer vertraglichen Verpflichtung, die sie Frankreich gegenüber übernommen hatte.» Ja, das glauben wir auch, und wir haben stets gesagt: zwischen England und Frankreich bestand längst ein Bündnis; und wir freuen uns, dass der Autor es zugibt, obschon sein Zugeben wie sein Bestreiten uns gleich bedeutungslos scheint.

Der Autor beeilt sich natürlich zu versichern, dass diese Flottenverteilung (über die im ersten Teil, auf Seite 53 mehr gesagt wurde) keinerlei kriegerische Absichten, am allerwenigsten gegen Deutschland, zu Grunde lagen. Man «hatte lediglich den Schutz der beiderseitigen Handelsinteressen im Auge». Was in aller Welt das nur bedeuten soll? Wieso halten die englisch-französischen Handelsinteressen im Jahre 1912 plötzlich eine derartige Verteilung der beiden Kriegsflotten nötig, dass gerade die englische in den für Deutschland wichtigen und zugleich gefährlichen Gewässern der Nordsee, die französische im Mittelmeer sein musste? Waren etwa algerische Seeräuber im Mittelmeer oder die Wikinger in der Nordsee erschienen? oder sollten die Flotten zu Reklamezwecken dienen und Bestellungen übernehmen? Um diesen Unsinn glaublicher zu machen, pfuscht er gleichzeitig in die Strategie und versichert, dass, wenn man feindliche Tendenzen gegen Deutschland gehabt, man auch einen Teil der französischen Flotte in der Nordsee versammelt hätte, wobei er ganz der ungeheuren Mittelmeerinteressen Englands, – Gibraltars, Aegyptens und des Kanals von Suez, der Dardanellen, – vergisst, sowie, dass gerade im Mittelmeer die französische Flotte, durch einen guten Teil der englischen und die ganze italienische verstärkt, weder gegen die Dardanellen noch gegen die österreichische Küste irgend etwas ausrichten konnte!

Es war die Pflicht Englands, sagt der Autor weiter, da die französische Flotte im Mittelmeer englische Interessen schützte, in dem bevorstehenden Kriege den Schutz der französischen Küste zu übernehmen. Das glauben wir gerne, nur nennen wir das eine Bündnispflicht und eine Kriegsteilnahme, und wer, wie der Autor in der nächsten Zeile behauptet: «England war damit nicht im geringsten aus seiner Neutralität herausgetreten», der gehört ins Tollhaus, oder er versucht, seine Leser zu betrügen, vielleicht beides. Man bedenke, der Autor erklärt es für neutrales Verhalten, wenn die englische Flotte auf deutsche Schiffe, die auf die französische Küste zufahren, schiesst! Und er fügt, um diese Ungeheuerlichkeit zu unterstützen, die Bemerkung hinzu: «Es hing ja von dem freien Willen Deutschlands ab, die Küsten und die Schiffahrt Frankreichs nicht anzugreifen und dadurch jeden Grund für ein Eingreifen der britischen Flotte zu vermeiden.» Man nehme einmal an, die Schweiz würde wegen irgendwelcher «Handelsinteressen» Deutschland die Zusage machen: wir beschiessen alle französischen Truppen, die längs unserer Grenze nach dem Elsass marschieren (oder umgekehrt): der Autor würde das für ein neutrales Verhalten erklären, mit der Motivierung, es liege ja im freien Willen der Franzosen, sich bei ihren Operationen der Schweizer Grenze nicht auf Schussweite zu nähern! «Neutralität ist» – nach der Definition des belgischen Völkerrechtslehrers Arendt – nur dann vorhanden, «wenn die neutrale Macht sich jeder Einmischung in die Feindseligkeiten der Kriegführenden enthält». Wenn der Autor noch anführt, der deutsche Botschafter, Fürst Lichnowsky, habe doch selbst am 3. August angefragt, ob England neutral bleiben wolle, falls man sich auf deutscher Seite verpflichten würde, die französische Nord- und Westküste nicht anzugreifen, so vergisst er, dass dies ein freiwilliges Angebot war: Deutschland konnte England auch eine Provinz anbieten, wenn es wollte; England durfte aber nicht eine deutsche Kriegsoperation verbieten, ohne die Neutralität aufzugeben. Ich kann jemandem Hunderttausende versprechen für ein Verhalten, das ich für mich vorteilhaft erachte, aber wenn er mit der Drohung zu schiessen, nur einen halben Franken von mir verlangt, so ist dies Raub oder Erpressung. Der Jurist, als der der Autor sich aufspielt, sollte so viel vom Strafrecht, wie vom Völkerrecht, wissen, wenn er sich schon über solche Fragen zu schreiben herausnimmt.

Die Zusage vom 2. August war jedenfalls eine Einmischung in die Feindseligkeiten und mit der künftigen Teilnahme am Kriege gegen Deutschland völlig gleichbedeutend. Unwahr ist schliesslich auch die letzte Behauptung des Autors, dass Deutschland noch am Abend des 4. August die Möglichkeit hatte, den Krieg mit England zu vermeiden, weil «der englische Botschafter Göschen am 4. August zunächst nur die Zurückziehung der deutschen Truppen aus Belgien verlangte, und erst, als diese verweigert wurde, die Erklärung abgab, dass England die Schritte ergreifen müsse, die seine vertragsmässigen Verpflichtungen ihm auferlegten». Denn in der betreffenden Note, – Note Nr. 159 des Blaubuches – ist wiederum durchaus nicht die Zusicherung der Neutralität, des Friedens mit Deutschland enthalten, was unbedingt der Fall hätte sein müssen, wenn England irgend gedacht hätte, bei Nichtverletzung dieser Neutralität den Frieden zu wahren. Die Forderung Göschens war nichts als ein letzter Schritt auf dem Wege, der von der englischen Regierung gewählt worden war, um die längst beschlossene Teilnahme am Kriege herbeizuführen.

So schreibt der Autor über jede Einzelfrage, wie über die gesamte Haltung und Führung der englischen Politik während der kritischen Tage, wie lange vorher, nur falsches und sinnloses Zeug, und das erstaunliche ist nur wieder, dass so viele tausend Leser so viel platte Torheit hingenommen haben.

Einige Bemerkungen über das englische Blaubuch

Da das englische Blaubuch nicht nur für den Verfasser des Buches «J'accuse», sondern für die öffentliche Meinung fast der ganzen Welt, wie sie im Herbst 1914 sich herausgebildet hat, massgebend gewesen ist, so wird es gut sein, nachdem die darin mehr verhüllte als klargelegte Politik erörtert worden, auch die Verlässlichkeit seines Inhalts zu beleuchten.

Die darin gesammelten Noten sind sehr geschickt ausgewählt und zusammengestellt, um einen bestimmten Eindruck der Friedensfreundlichkeit hervorzurufen, einfach dadurch, dass fortwährend vom Frieden gesprochen wird; gleichzeitig sind ihrer so viele und die Verhandlungen kreuzen sich derart, dass sie einen für ungeübte Leser verwirrenden Irrgang bilden. Damit die Leser in diesem Irrgang den der englischen Regierung erwünschten Weg nehmen, wurde die Einleitung als eine Art leicht fasslicher Uebersicht vorausgeschickt.

Dass diese Einleitung die Vorgeschichte in sehr subjektiver Weise darstellt, ist vielleicht nicht anfechtbar; jede derartige Schrift ist eine Rechtfertigungsschrift, und historische Unbefangenheit wird man von ihr nicht erwarten noch verlangen dürfen. Nur von denen, die sie prüfen, darf man Unbefangenheit fordern, soweit sie in solcher Zeit menschenmöglich ist. Von der veröffentlichenden Regierung wird man aber immerhin fordern können, dass sie die Dokumente, soweit sie sie veröffentlicht, in unverändertem Zustande vorlegt.

Wenn also in der Einleitung der österreichisch-serbische Fall sehr ungenau und oft in zweideutiger und irreführender Art dargestellt wird, wenn die Beziehungen Russlands zu den Balkanvölkern idealisiert und um hundert Jahre vordatiert werden, wenn die serbische Antwort als entgegenkommend bezeichnet wird, so sind das einfach Erfordernisse der englischen Politik.

Auf das erheiternde Wort, «dass keine Zeit gewesen sei, in Belgrad oder Petersburg einen mässigenden Einfluss auszuüben», ist schon hingewiesen worden. Man fühlte offenbar, dass sich Leute finden mussten, die fragen würden: «Ja, warum habt ihr euch denn nicht bemüht, Russland zurückzuhalten?» und so fand man jene wundervolle Rechtfertigung. Dass die Leute so weit gehen würden, zu fragen: «aber braucht denn der elektrische Funke von London nach Petersburg länger, als von Berlin nach Wien, oder war die Zeit vom 23. zum 28. und zum 31. Juli für England und Russland kürzer, als für Deutschland und Oesterreich?» wurde offenbar nicht befürchtet.

Auffällig ist auch, dass in dieser Einleitung zwar alle Bemühungen Sir Edward Greys um die Friedensvermittlung aufgezählt werden, nur der nicht, um dessentwillen Luigi Luzzatti Sir Edward Grey einen wahren Weisen nannte, der einzige, den Oesterreich annehmen konnte und annahm und durch den der Frieden wirklich hätte bewahrt werden können (s. S. 175).

Völlig klar wird die Unwahrhaftigkeit der Darstellung des «Foreign Office» auf Seite VIII, wo die Friedenshoffnungen, die Sir Edward Grey infolge der nach seinem eigenen Zeugnis (Blaubuch Nr. 133) am 1. August erhaltenen – übrigens gefälschten – Nachricht von einem plötzlichen österreichischen Nachgeben in letzter Stunde geschöpft haben will, durch das deutsche Ultimatum vom 31. Juli jäh zerstört werden, von dem er wieder nach eigenem Zeugnis (Blaubuch Nr. 117) noch am gleichen Tage Kunde erhielt! (s. S. 196).

Aber auch die Wiedergabe der Dokumente selbst ist nicht verlässlich. Als Beilage der Note Nr. 105 vom 30. Juli ist ausser den beiden Briefen Sir Edward Greys und Herrn Cambons vom 22. November 1912 über das englisch-französische Militärabkommen als dritte Beilage eine Note des Herrn Viviani an Herrn Cambon abgedruckt, in dem der französische Ministerpräsident sich über deutsche Vorbereitungen und Angriffshandlungen an der Grenze beklagt. Dieses Telegramm Vivianis ist datiert «Paris, 31. Juli». Es musste alsbald auffallen, dass eine englische Depesche vom 30. Juli eine französische vom 31. Juli als Beilage mitführte; die französische Depesche wäre demnach einen Tag früher über den Kanal zurückgegangen, als sie überhaupt von Paris abging! Da die Note vom 30. Juli sich ausdrücklich auf diese Beilage bezieht, so muss ein Datum gefälscht sein.

Damit nicht genug: im Text der Note wird darüber Beschwerde geführt, dass «deutsche Patrouillen gestern, Freitag, zweimal in französisches Gebiet eingedrungen seien». Freitag aber war der 31. Juli, also kann die Depesche erst am 1. August abgesendet worden sein und das Datum wäre ungeschickterweise statt um zwei, nur um einen Tag vorgerückt worden, um die deutschen Grenzverletzungen und damit die deutschen Vorbereitungen als früher erfolgt erscheinen zu lassen!

Als die zweite Auflage des Blaubuches herauskam, war der Widerspruch offenbar entdeckt worden, denn man liess nun plötzlich das Datum ganz und im Text das Wort «Vendredi» – sowie in der gegenüberstehenden englischen Uebersetzung «Friday» – weg und liess nur das unbestimmte «hier» und «gestern» stehen.

Wir sind noch nicht zu Ende. In der französischen Note wird auch gesagt: «J'ajoute que toutes nos informations concordent pour montrer que les preparatifs allemands ont commence samedi, le jour même de la remise de la note autrichienne.» «Ich füge hinzu, dass alle unsere Informationen übereinstimmend beweisen, dass die deutschen Kriegsvorbereitungen bereits am Sonnabend, dem Tag, an dem die österreichische Note überreicht wurde, begonnen haben.»

Aber die österreichische Note wurde gar nicht Sonnabend, sondern Donnerstag, den 23. Juli, überreicht, Sonnabend, den 25. Juli, erfolgte die serbische Antwort. Auch hier finden wir in der zweiten Auflage des Blaubuches die Daten in einer Anmerkung richtiggestellt, und es wird auch hinzugefügt, dass die serbische Antwort im Text gemeint sei. In der Tat stellt der ganze Satz nichts weiter als eine möglichst ungeschickte Erfindung dar, durch die der Leser zu dem Glauben verleitet werden soll, dass die deutsche Regierung das österreichische Ultimatum an Serbien mit der österreichischen zusammengebraut hätte, um den Weltkrieg herbeizuführen, und daher auch sogleich ihre militärischen Massnahmen begonnen hätte.

Als vier Monate später das französische Gelbbuch erschien, muss man sich der Sache ungefähr erinnert haben, denn das Datum lautete jetzt dem englischen Blaubuch conform «30. Juli» und das Wort «Vendredi» fehlte. Dagegen stellte sich nun heraus, dass im englischen Blaubuch nicht nur das Datum, sondern der ganze Text der Note verändert worden war, und dass die Stelle über die österreichische Note sich im Original überhaupt nicht findet! Sie ist in der folgenden Wiedergabe gesperrt gedruckt, während die Stellen, die sich in beiden Büchern finden, durch Anführungszeichen hervorgehoben sind:

 

M. Rene Viviani, Président du Conseil, Ministre des Affaires étrangères, à M. Paul Cambon, Ambassadeur de France, à Londres.

Paris, le 30 juillet 1914.

Je vous prie de porter à la connaissance de Sir Edward Grey les renseignements suivants touchant les préparatifs militaires français et allemands. L'Angleterre y verra que si la France est résolue, ce n'est pas elle qui prend des mesures d'agression.

Vous attirerez l'attention de Sir Edward Grey sur la décision prise par le Conseil des Ministres de ce matin: bien que l'Allemagne ait pris ses dispositifs de couverture à quelques centaines de mètres de la frontière, sur tout le front du Luxembourg aux Vosges, et porté ses troupes de couverture sur leurs positions de combat, «nous avons retenu nos» troupes à 10 kilomètres de la «frontiere,» en leur interdisant de s'en rapprocher d'avantage.

Notre plan, conçu dans un esprit d'offensive, prévoyait pourtant que les positions de combat de nos troupes de couverture seraient aussi rapprochées que possible de la frontiere. En livrant ainsi une bande du territoire sans défense à l'agression soudaine de l'ennemi, le Gouvernement de la République tient à montrer que la France pas plus que la Russie, n'a la responsabilite de l'attaque.

Pour s'en assurer, il suffit de comparer les mesures prises des deux côtes de notre frontière: en France, les permissionaires n'ont été rappelés qu'après que nous avons la certitude que l'Allemagne l'avait fait depuis cinq jours.

En Allemagne, non seulement les troupes en garnison à Metz ont été poussées jusqu'à la frontiere, mais encore elles ont été renforcées par des éléments transportés en chemin de fer des garnisons de l'intérieur, telles que celles de Trèves ou de Cologne. Rien d'analogue n'a été fait en France.

L'armement des places de la frontière (deboisements, mise en place de l'armement, construction de batteries, renforcement de réscaux de fil de fer) a été commencé en Allemagne dès samedi 25; chez nous il va l'être, la France ne pouvant plus se dispenser de prendre les mêmes mesures.

Les gares out été occupées militairement en Allemagne le Samedi 25; en France le mardi 28.

«Enfin, en Allemagne, les réservistes, «par dizaine de milliers, ont «été rappelés» par convocations individuelles, ceux résidant à l'étranger (classe de 1903 à 1911) rappelés, les officiers de réserve convoqués; à l'intérieur, les routes sont barrées, les automobiles ne, circulent qu'avec un permis. «C'est le dernier Stade avant la «mobilisation.» Ancune de, cos mesures n'a été prise en France.

«L'armée allemande a ses avantpostes «sur nos bornes frontières; «par deux fois, hier, des patrouilles «allemandes ont pénétré sur «notre territoire. Tout le XVI e «Corps de Metz, renforcé par une «partie du VIII e venu de Trèves «et de Cologne, occupe la frontière «de Metz au Luxembourg; «le XV e Corps d'àrmée de Strassbourg «a serré sur la frontière.

«Sous nienace d'être fusillés, «les Alsaciens-Lorrains des pays «annexés ont défense de passer «la frontiere.»

René Viviani.

 

Paris, 31 juillet 1914.

French Minister for Foreign Affairs to M. Cambon, French Ambassador in London.

« L'armée allemande a ses avant-postes « sur nos bornes-frontières, « Vendredi hier; par deux « fois des patrouilles allemands « ont pénétré sur notre territoire. « Nos avant-postes sont en retraite « à 10 kilomêtres en arrière de la « frontière.» Les populations ainsi abandonnées à l'attaque de l'armée adverse protestent; mais le Gouvernement tient à montrer à l'opinion publique et au Gouvernement britannique que l'agresseur ne sera en aucun cas la France. «Tout le 16 e Corps de « Metz renforcé par une partie du « 8 e venu de Trèves et de Cologne « occupe la frontière de Metz au Luxembourg. Le 15 e Corps «d'Armée de Strassbourg a serré «sur la frontière. Sous menace «d'être fusilles les Alsaciens Lorrains «des pays annexés ne peuvent «pas passer la frontière; «des réservistes par dizaines de «milliers sont rappelés en Allemagne; «c,est le dernier stade «avant la mobilisation; or nous n'avons «rappelé aucun réserviste.»

Comme vous le voyez, l'Allemagne l'a fait. L'ajoute que toutes nos informations concordent pour montrer que, les préparatifs allemands ont commencé samedi, le jour même de la remise de la note autrichienne.

Ces éléments, ajoutés à ceux contenus dans mon télégramme d'hier vous permettent de faire la preuve au Gouvernement britannique de la volonté pacifique de l'un, et des intentions agressives de l'autre.

 

Es lässt sich natürlich nicht entscheiden, wo die Aenderungen begonnen, wo sie geendet haben, ob die französische Botschaft die ersten Veränderungen willkürlich oder auf Verlangen des englischen «Foreign Office» vorgenommen hat, oder ob sie etwa erst im «Foreign Office» erfolgten, noch lässt sich erklären, wie es möglich war, dass selbst ein nervöser Diplomat beim Fälschen so viel unsinnige und einander widersprechende Fehler auf einmal machte. Dagegen sieht man ganz deutlich, aus welcher Stelle der Originalnote («L'armement des places etc.») dem Bearbeiter der übereilte Gedanke kam, auf die Ueberreichung des österreichischen Ultimatums zu verweisen. Der Gedanke, die Schuld Deutschlands festzustellen, war so verlockend, dass der betreffende Herr ganz übersah, dass das Datum gar nicht stimmte. Wir können nur feststellen, dass die Daten im Blaubuch zweimal geändert wurden, dass der Text geändert wurde, und dass der im Blaubuch abgedruckte Text, in der ersten wie in der zweiten Auflage, dem Originaltext in der französischen Note überhaupt nicht entspricht; und diese Tatsache ist schwerlich geeignet, das Vertrauen in die amtlichen englischen Veröffentlichungen zu erhöhen.


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