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V. Frankreich

Auch was der Autor über die Haftung der französischen Regierung in den Tagen der Krise vorbringt, ist fast nur Wiederholung; auf eine genauere Prüfung ihrer Politik hat er sich, wie gewöhnlich, überhaupt nicht eingelassen. Die Noten, die er bespricht und zitiert, hat er kaum gelesen, daher kommt es, dass er auf Seite 248 zum Beweis der wieder einmal behaupteten friedlichen Haltung Russlands die Noten Nr. 77 und 78 des Gelbbuches anführt, in denen von der Haltung Russlands überhaupt mit keinem Wort die Rede ist!

Er versucht zwar nachzuweisen, dass die französische Regierung in Petersburg für den Frieden gewirkt hätte. Aber wenn er hiefür die Depesche des Gelbbuches Nr. 85 anführt, in der Herr Bienvenu-Martin Russland die Annahme der von Ssasonoff selbst so dringend gewünschten Viermächtekonferenz empfahl, die beiden als ein sicheres Werkzeug zur Niederlage Oesterreichs und zur Durchführung ihrer Pläne erschien, so ist das nur ein Beweis der Einfalt, mit der er jeder diplomatischen Spiegelfechterei aufsitzt. Schlimmere Spiegelfechterei noch war es, wenn in Note Nr. 101 – unter Versicherungen französischer und Hoffnungen auf englische Kriegshilfe! – die russische Regierung gebeten wird, Deutschland keinen Vorwand zur Mobilisierung zu geben! Ueber diese Sache ist in den früheren Abschnitten genug gesagt worden. Die klugen Leute unterliessen es in ihren kriegerischesten Depeschen nie, von ihrer Friedensliebe zu sprechen. Sie wussten, dies genügt, gläubige Toren zu beruhigen. Dagegen hat sich Viviani, dem es wichtig war, Sir Edward Grey in jeder Weise entgegenzukommen, in seiner Note Nr. 112 vom 31. Juli tatsächlich in Petersburg für die Annahme des Grey'schen Vorschlages eingesetzt, nach welchem Oesterreich zunächst Belgrad besetzen sollte. Aber dies geschah in sehr eigentümlicher Weise. Es fällt zunächst auf, dass Viviani sich für den Grey'schen Vorschlag erst einen Tag, nachdem Russland ihn in der Note Nr. 64 vom 30. Juli abgelehnt hatte, einsetzt und nachdem Grey diese Ablehnung ohne Widerspruch zur Kenntnis genommen hatte. Es fällt weiter auf, dass Viviani sich in seiner Depesche ebenso zweideutig ausdrückt, wie Ssasonoff in seiner Antwort (Note Nr. 113): nachdem er im ersten Teil der Depesche den Grey'schen Vorschlag wirklich erwähnt, spricht er im zweiten Teil nicht mehr von einer Besetzung Belgrads, sondern nur von einer Einstellung des – noch gar nicht begonnenen – österreichischen Vormarsches in Serbien, so dass es fast scheint, als ob er Ssasonoff jene irreführende zweite Formel suggerieren wollte, die dieser dann tatsächlich aufstellte, und die Oesterreich unter dem Schein einer Konzession in Wirklichkeit nichts gewährte. Vivianis Note war also entweder keine ehrliche Unterstützung des Grey'schen Vorschlages, sondern nur eine scheinbare, oder sie war nicht erfolgreich – wie der Autor auf Seite 249 behauptet – da die Ssasonoff'sche Formel eine Ablehnung des Grey'schen Vorschlages bedeutete.

An anderer Stelle – auf Seite 255 – unterzieht der Verfasser, wie er selber sagt, «aufs Geratewohl eine Verhandlung herausgreifend», den Inhalt der Note Nr. 74 des Gelbbuches seiner ebenso kenntnisreichen und scharfsinnigen als loyalen Untersuchung.

Herr Jules Cambon, der französische Botschafter in Berlin, berichtet darin, dass er dem deutschen Staatssekretär, Herrn von Jagow, nochmals die Viermächtekonferenz ans Herz legte, was ja sehr begreiflich ist, da diese Konferenz durchaus im Interesse Russlands und Frankreichs lag. Im Kapitel über Oesterreich-Ungarn ist dargelegt worden, dass man den wesentlichen Grund der Ablehnung der Konferenz – die Furcht vor der Haltung Italiens, das sich auf dem Balkan mit Russland identifiziert hatte – damals nicht sagen konnte, und dass Herr von Jagow daher verschiedene andere zum Teil formelle Gründe geltend machen musste. Herr Cambon, der ein kluger, wenn auch kein verlässlicher Mann ist, wusste dies natürlich ganz genau; hatte aber kein Interesse, es auszusprechen, denn das wäre sehr unklug gewesen. Aber der Autor, der nicht nur kein verlässlicher, sondern auch kein kluger Mann ist, der stets nur den äusserlichen Schein der Dinge kennt und sieht, und weder die Wahrheitsliebe noch den Willen hat, ihr Wesen zu ergründen, der also Italien für einen ehrlichen und getreuen Bundesgenossen des Dreibundes ansieht, versteht dies alles natürlich nicht.

Im Verlauf der Unterredung, die am 27. Juli stattfand, legte Herr Cambon dem Staatssekretär auch die serbische Antwortnote ans Herz, die am selben Vormittag in Berlin überreicht worden war. Cambon versichert dem Staatssekretär, der sie noch nicht gelesen hatte, dass diese Antwort «abgesehen von einigen Detailfragen eine vollkommene Unterwerfung Serbiens bedeute» – was zu behaupten wieder im russisch-französischen Interesse lag, tatsächlich aber eine grobe Irreführung war, die der Autor freudig unterstützt. Dass Herr Cambon seine hohle, gleissende Ware – die serbische Antwort – im Namen der Menschlichkeit anpreist, druckt der Autor gesperrt. Jede Phrase macht ihn glücklich. Aber die Phrasenseligkeit hindert ihn nicht, den Leser bewusst irrezuführen. Herr von Jagow hatte, wie eben bemerkt, die serbische Antwort noch nicht gelesen, was ganz natürlich erscheint, da Cambon selbst mitteilt, dass sie erst am selben Morgen vom serbischen Gesandten in Berlin überreicht worden war, und es sich um ein wichtiges und umfangreiches Schriftstück handelte. Diese Stelle der Note unterschlägt der Autor und bemerkt statt dessen, dass die Note ja doch schon am 25. dem österreichischen Gesandten in Belgrad übergeben wurde, um dem Leser den Eindruck zu erwecken, dass Herr von Jagow die Unwahrheit sagte! Eine weitere Fälschung des Verfassers, die allerdings mit dem Gegenstand dieses Kapitels nichts zu tun hat und nur durch seine wirre Denk- und Schreibweise hineingeriet, ist es, wenn er auf Seite 252/53 seines Buches behauptet, dass ›Herr von Tschirschky-Bögendorf in Wien eine recht undankbare Rolle zu spielen hatte, indem er scheinbar nach aussen hin am Ballplatz zur Nachgiebigkeit raten musste, nach innen aber, im Arbeitszimmer des Grafen Berchtold, den Geheiminstruktionen des Herrn von Bethmann, die gleichzeitig seinen persönlichen Neigungen entsprachen, freien Lauf lassen und zum Kriege drängen konnte.‹ Selbst wenn dies wahr wäre, besässe der Verfasser nicht den geringsten Beweis dafür, da die angeblichen ›Geheiminstruktionen‹ ja eben geheim wären. Sein ganzes Beweismaterial ist eine Stelle in einer Depesche des englischen Botschafters Bunsen (Blaubuch Nr. 141), in der dieser das gleiche aber nur als seine und des russischen Botschafters Vermutung ausspricht! Sir Maurice de Bunsen gibt indessen in zwei andern Noten vom Anfang und vom Ende der Krise (Nr. 32 und Nr. 161 des Blaubuchs) – die zweite zitiert der Autor! – selbst zu, dass Herr von Tschirschky überzeugt war, dass Russland nicht eingreifen werde, woraus doch klar folgt, dass der Botschafter den Weltkrieg nicht erwartete noch wünschte!

Schwindler und Fälscher überall! vom Anfang seines Buches bis zum Ende!

Im übrigen enthält das Kapitel nur Wiederholungen früher vorgebrachter Unwahrheiten. Die französische Politik über die man ja diskutieren könnte, wird nirgends ernstlich erforscht, der Autor kennt weder ihre Grundlagen noch ihre Ziele; die Belege, die er anführt, hat er kaum gelesen, noch weniger verstanden, noch auch irgend ehrlich zitiert, hier wie überall nichts als strohernes Geschwätz und Geschimpfe.

Das französische Gelbbuch ist eine unehrliche und zugleich nachlässige Arbeit, deren ernste Franzosen sich einst schämen werden. Welche ungeschickten Fälschungen, welche unwahren Mitteilungen es enthält, ist an vielen Stellen dieser Schrift gezeigt worden. Wenn der Autor dafür auf Seite 251 findet, dass die «Aeusserungen der französischen Diplomatie, wie sie im Gelbbuch niedergelegt sind, an eleganter Form und plastischer Darstellungskraft die Leistungen aller übrigen Diplomaten übertreffen», so ist das Geschmacksache. Und wenn er die französischen Diplomaten mit erbärmlicher Schmeichelei umkriecht, so steht es ihm an: «Welch glänzende Typen, die Brüder Cambon! Welch kluge und faszinierende Erscheinung, der Ministerpräsident Viviani! Und selbst der weniger hervortretende Bienvenu-Martin; wie scharf in seinen Antithesen, wie schlagend in der Zurückweisung der deutschen Sophismen, wie klug voraussehend in der Beurteilung der österreichischen und deutschen Tendenzen!» Die Herren mögen sich bei diesem Lober bedanken.

Die wahre Haltung der französischen Diplomatie ergibt sich aus dem, was im letzten Abschnitt des ersten Teiles, S. 103 ff., darüber gesagt worden, aus den Ratschlägen, die Herr Berthelot im Auftrag des in Antithesen scharfen Herrn Bienvenu-Martin den Serben gab, aus den Versicherungen, die er schon am 29. Juli der russischen Regierung gab, dass Frankreich mittun werde, wenn Russland Oesterreich angreife und mit Deutschland in Krieg gerate, aus den Verhandlungen, die Herr Paul Cambon in London mit Sir Edward Grey führte.

Frankreich fuhr im Schlepptau, aber auf der Strasse, die Delcassé vor vielen Jahren gewiesen, die Poincaré und Millerand wieder eingeschlagen hatten. Hier, wo es sich weniger um die französische Politik handelt, als um das Buch «J'accuse», ist es nicht nötig, nochmals darauf einzugehen.


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