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II. Das deutsche Reich

Der Autor geht zur «Anklage» gegen die deutsche Regierung über, die er um so leichter findet, als nach seinen Worten, «Deutschland sich seine Anklageschrift selbst geschrieben hat». «Selbstbekenntnisse aus Unverstand», nennt er das deutsche Weissbuch, und das Wort ist am Platz, nur dass nicht der Unverstand das Weissbuch geschrieben, als vielmehr der Unverstand es gelesen hat. «Wenn ein Buch und ein Kopf zusammentreffen, und es gibt einen hohlen Klang», schrieb Schopenhauer, «so muss nicht notwendig das Buch daran Schuld haben».

Er zitiert als erstes Schuldbekenntnis, dass Deutschland der österreichischen Regierung Serbien gegenüber freie Hand liess. Eine sonderbarere Anklage könnte gar nicht erhoben werden. Selbstverständlich musste die deutsche Regierung der österreichischen Serbien gegenüber freie Hand lassen, so gut wie Frankreich seinerzeit Russland gegen Japan freie Hand lassen musste, und England wieder Japan gegen Russland, und das Deutsche Reich sogar Italien gegen die Türkei, die ihm nahe stand. Kein Grosstaat wird je ein Bündnis eingehen, das ihn in allen Fragen von seinem Bundesgenossen abhängig macht, insbesondere an Grenzen und auf Gebieten, die ihm mit dem Bundesgenossen nicht gemeinsam sind. In Oesterreich-Ungarn wachte man stets mit besonderer Eifersucht ob dieser Unabhängigkeit, weil ein guter Teil der öffentlichen Meinung ohnedies stets leicht eine zu starke Bevormundung durch den mächtigen Bundesgenossen witterte. Die bosnische Frage, sowie die Ermordung des Thronfolgers war an sich eine rein österreichische Angelegenheit, etwa wie die elsass-lothringische eine rein deutsche war, die an sich Oesterreich nicht kümmerte. Dass man in Oesterreich die fortgesetzte Aufwiegelung und die furchtbar anschwellende Zahl der politischen Morde nicht länger hinnehmen konnte, das brauchte man der deutschen Regierung nicht erst zu erklären. Sogar die englische Regierung versicherte, dass sie das einsehe.

Wenn der Autor daraufhin folgert, «die deutsche Regierung folgte also blind den österreichischen Schritten», so ist das wieder eine Verdrehung und um so unsinniger, als der Autor ja selbst die an der gleichen Stelle im Weissbuch enthaltenen Wort anführt: «Wir waren uns hierbei wohl bewusst, dass ein etwaiges kriegerisches Vorgehen Oesterreich-Ungarns gegen Serbien Russland auf den Plan bringen und uns hiermit unserer Bundespflicht entsprechend in einen Krieg verwickeln könnte», aus denen hervorgeht, dass die deutsche Regierung jenen Schritten nicht blind, sondern sehend folgte. Da man die russische Politik kannte, so musste man in Deutschland wissen, dass Russland die Gelegenheit zum Kriege ergreifen konnte, – konnte, wohlgemerkt, nicht musste.

Der Autor scheint Jura studiert zu haben, und zwar gleichfalls schlecht, aber immerhin ist ihm die juristische Formelsprache bekannt; daher kommt wohl das kindliche Vergnügen, das er darin findet, seine Schrift mit strafrechtlichen Formeln zu verbrämen. Wenn er an dieser Stelle den Mummenschanz so weit durchführt, dass er Deutschland des «dolus eventualis» bezichtigt und Erörterungen über die juristische Bedeutung des «dolus eventualis» anschliesst, so kann man wohl die Albernheit nicht weiter treiben.

Und welchen Dolus hätte dann Russland gehabt, dessen Minister sich schon am 25. Juli zum Kriege völlig entschlossen erklärte, falls Oesterreich gegen Serbien vorging?

Der Autor behauptet nun, die deutsche Regierung bekenne durch den oben angeführten Satz zugleich, dass sie die Lokalisierung des Konfliktes auf Oesterreich und Serbien von Anfang an als aussichtslos ansah. Immer dieselbe Spiegelfechterei mit Worten, immer der gleiche einfältig-schlaue Versuch, den Leser um die Wahrheit herumzuführen. Weil man Russland zutraute, dass es wegen Serbien zu einem allgemeinen Kriege Lust haben könnte, musste man darum jede Hoffnung aufgeben, es zur Vernunft zu bringen? Weil ich einem Gegner zutraue, wegen einer Sache Prozess zu führen, sollte ich darum keinen Versuch machen, ihn zu einem vernünftigen Vergleich zu bewegen, besonders wenn der Einsatz, wie sich ja seither reichlich gezeigt hat, das Spiel nicht lohnt?

Umsomehr, als Russland kein irgend wesentliches Interesse an der Sache hatte. Eben weil ein solches russisches Interesse nicht vorlag – kein Bündnis, kein Nachbarverhältnis, keine Handelsbeziehungen, keine Bedrohung einer russischen Grenze oder des russischen Staatszusammenhanges, nichts, nichts, als Machtgier und Eifersucht auf Oesterreich – eben darum musste ja der Verfasser die Lüge von den «engsten Blut- und Glaubensbanden» von der «zweihundertjährigen gemeinsamen Geschichte» erfinden, die er dem Leser an dieser Stelle zum drittenmal auftischt. «Russland musste dem schwächeren Bruder zu Hilfe kommen!» Wo man keine Gründe hat, da findet sich immer eine Phrase. Warum kam Russland dem serbischen Bruder denn im Jahr 1885 nicht zu Hilfe? Warum dem bulgarischen nicht im Jahre 1912? Warum dem polnischen Bruder nie? «Auf einmal», schreibt der Autor, sentimental werdend, «sollte dieses Band zerrissen sein? Russland sollte ruhig zusehen, wie der blutsverwandte kleine Staat von Oesterreich zertreten wurde?»

Russland, das jeden, sei es slavischen, sei es nicht slavischen Stamm, zertreten hat, über den es irgend Macht bekam! Zum Speien widerlich ist diese Heuchelei vom edlen Russland und seiner Hilfe und Liebe für die schwächeren slavischen Brüder. All dies wurde geschrieben, ehe die russische Revolution ausbrach. Wie immer diese Bewegung in dem riesigen Lande ausgeht, sie wird vieles ändern. Hier wie in dem lang vorher geschriebenen Buch «J'accuse» ist nur vom Russland des Zaren die Rede, für das der Autor sich begeistert.

Einzige Quelle und Gewähr seiner Geschichtsauffassung ist die Einleitung des englischen Blaubuchs. Das englische Blaubuch ist, infolge der vielen falschen Angaben, die es insbesondere auch in seiner Einladung macht (s. S. 190 und 283 ff.), bereits für die Krise von 1911 eine sehr schlechte und wenig vertrauenswürdige Quelle, aber als Geschichtswerk über die Vergangenheit will es wohl selber nicht betrachtet werden. Und wenn darin von zweihundertjährigen Gefühlen des russischen Volkes für die Balkanvölker die Rede ist, so kann man nur die Geschichtskenntnisse der Herren im Londoner «Foreign Office» als schwach bezeichnen, gleich denen des Autors, der ihre Aussprüche nachschreibt.

Man muss nur diese Aussprüche etwas näher ansehen: «Russlands Interesse am Balkan ist allbekannt.» Was soll diese vom Autor nachgeplapperte Phrase des Blaubuchs bedeuten? Sind historisch politische Beziehungen zum Balkan gemeint, so sind die Beziehungen Oesterreichs viel, viel älter, das bereits vor Jahrhunderten für die Befreiung der Balkanchristen mit den Türken kämpfte, als Russland noch ein unbekanntes, halbtartarisches Land im Norden war, dessen Südgrenze noch lange nicht das schwarze Meer erreicht hatte. Die ältesten Beziehungen Russlands zu den Balkanvölkern galten nicht slavischen Völkern, sondern, und zwar ganz natürlich, den Rumänen, weil diese seine ersten Grenznachbarn waren. In den Jahren 1709 und 1711 schlossen die Fürsten der Moldau und der Walachei mit Peter dem Grossen Schutzverträge ab. Viel anderes als schwere Plünderungen, Bedrückung, Russifizierungsversuche und Landraub haben die damals begonnenen Beziehungen den Rumänen im Lauf der zwei Jahrhunderte nicht gebracht. Die erste Berührung mit den Bulgaren wie mit den Serben begann im Feldzug 1804–1812. Und der geringe Teil des russischen Volkes, der lesen konnte, hat wohl erst infolge des im Jahr 1828 erschienenen Venelin'schen Werkes über Bulgarien sich dafür zu interessieren begonnen, lieber die Beziehungen Russlands zu Serbien s. S. 133 fg. Sind Handels- und wirtschaftliche Beziehungen gemeint? – die Handelsbeziehungen Russlands zu den Balkanländern sind im Vergleich zu denen Oesterreichs gleich null.

Was «Russlands Interesse am Balkan» heisst, das weiss alle Welt: – es heisst: Konstantinopel und die Meerengen. Wenn Herr Ssasonoff dies im Mai 1914 in die Worte kleidete: «Der Balkan für die Balkanvölker», so darf Sir Edward Grey im Blaubuch sich so stellen, als wenn er es glaubte, denn das ist sein Geschäft. Aber der Autor, der Ankläger und Richter sein will, darf es nicht. Der seither veröffentlichte Vertrag zwischen Russland und den Westmächten, der jenen Konstantinopel sichert, sowie die Ministerreden in der Duma haben die Bedeutung des Ssasonoff'schen Satzes allen deutlich gemacht. Was dann aus den Balkanvölkern werden müsste, zeigt das Schicksal Polens, Finlands, der Ukraine, der Kaukasier und der Armenier in Russland zur Genüge.

Der Autor aber setzt seine Erörterung mit einer Albernheit fort, die über das erlaubte Mass hinausgeht, ob sie nun gespielt oder echt sein mag. Er fragt: «Weshalb hat die deutsche Regierung die österreichische Note abgehen lassen, ohne sie zu kennen, ohne vorher ihren Inhalt zu prüfen?» Wann hat je ein unabhängiger Staat seine Note einem andern, und war er tausendmal sein Verbündeter, zur Prüfung vorgelegt, wann je ein Verbündeter sich erlauben dürfen, solch eine Prüfung zu beanspruchen? Hat etwa Frankreich, das doch Russlands Verbündeter war, die russischen Noten an Oesterreich nachgeprüft?

Die österreichisch-serbische Streitfrage war eine rein österreichische Angelegenheit. Erst in dem Augenblick, in dem Russland sich einmischte, wurde sie eine, die auch deutsche Interessen berührte.

Wenn der Verfasser diese selbstverständliche Haltung der deutschen Regierung «unverantwortlichen Leichtsinn» nennt, wie unverantwortlich war dann der Leichtsinn der französischen Regierung, die Russland um Serbiens willen den Krieg drohen liess, der sie mitziehen musste?

Warum fragt der Autor, «hat, als England und Russland eine Fristverlängerung wünschte, Herr von Jagow sofort Zweifel geäussert, ob Oesterreich diesem Verlangen nachgeben würde? Die Antwort ist sehr einfach: weil er nicht so kenntnislos und unverständig sprach, wie der Autor schreibt. Der russische Vertreter, Fürst Kudascheff, hat genau die gleichen Zweifel geäussert, weil auch er Oesterreichs Lage begriff, wenn er schon entgegengesetzte Interessen vertrat. Wenn der Autor weiter fragt, warum die deutsche Regierung die Fristverlängerung nicht befürwortet hat, so ist die Antwort, weil die Verlängerung im serbischen, aber nicht im österreichischen Interesse lag, und die deutsche Regierung der österreichischen einen schädlichen Rat weder geben wollte noch durfte. Denn es ist, wie bereits gezeigt wurde, eine Erfindung des Autors, dass jene Mächte die Verlängerung erstrebten, um «auf Serbien nur im Sinne der Nachgiebigkeit mit Erfolg einwirken zu können»; denn Russland wollte, wie bereits nachgewiesen worden, dass Serbien nicht nachgebe, – sonst, wenn Russland anders gewollt hätte, hätte ja Serbien nachgeben müssen! – und die beiden andern Mächte wollten lediglich, was Russland wollte. Serbien war ihnen, wie sie erklärten, mehr oder minder gleichgültig.

Ebenso albern ist es, wenn der Autor fragt: «War es nicht berechtigt, dass sie zunächst einmal das österreichische Beweismaterial kennen lernen wollten? Wenn Oesterreich-Ungarn den Ententemächten Beweismaterial zukommen zu lassen versprach, und es der englischen – die ihr Verständnis für den österreichischen Standpunkt wiederholt betont hatte – tatsächlich noch zukommen liess, so war das ein besonderes Entgegenkommen Oesterreichs, im Wunsch auch die Mächte der feindlichen Gruppe von seinem Recht zu überzeugen und sie von einer ungerechten und friedenschädlichen Parteinahme abzuhalten, nicht aber, um sich ihrem Spruch und Gutbefinden zu unterwerfen.

Hat etwa England sein Beweismaterial vorgelegt, ehe es den Burenkrieg begann, oder Amerika, ehe es wegen Cubas und der «Maine» an Spanien den Krieg erklärte? oder Italien, als es eines schönen Tages Tripolis von der Türkei verlangte?

Darin lag und liegt ja die perfide Verdrehung des Autors – wie vieler anderer Leute, – das gegen Oesterreich, dessen Recht klar war, die unsinnigsten Vorwürfe erhoben und die ungewöhnlichsten Forderungen an es gestellt werden, die man an alle andern Mächte nicht stellte. Dass Oesterreich schwer provoziert, dass in den Provinzen eine gefährliche Bewegung entstanden war, das wird in der Einleitung zum Blaubuch zugegeben, ja, es wird ausdrücklich gesagt, dass «alle Sympathien auf seiner Seite waren».

Das Unerhörte war, dass dem provozierten und gefährdeten Oesterreich der Schritt verdacht wurde, der dem nicht provozierten, in seiner staatlichen Existenz nicht gefährdeten Russland ohne weiteres gestattet sein sollte; und dies, obgleich der Angriff Oesterreichs auf Serbien nicht notwendig einen europäischen Krieg hervorrufen musste, der Angriff Russlands auf Oesterreich aber unbedingt, weil in diesem Fall dadurch sowohl für Deutschland als für Frankreich der Bündnisfall eintrat, während für Russland keinerlei Bündnispflicht bestand, sondern das Eingreifen von seinem Willen abhing. Aber wenn eine Lüge nur oft genug wiederholt wird, glaubt sie, – für eine Zeit! – die ganze Welt.

Die englische Regierung nahm folgenden Standpunkt ein: Du, Oesterreich, bist provoziert und meine Sympathien sind auf deiner Seite; Serbien ist mir gleichgültig; wenn aber das nicht provozierte Russland dies nicht anerkennt, dann handle ich nicht nach meiner Auffassung, sondern nach der russischen, weil – das wurde natürlich nicht gesagt – Russland zu meiner Gruppe gehört, mein Interesse mir also gebietet, ihm in jedem Falle Recht zu geben. Dies wurde nicht gesagt, sondern als Grund wurde vorgeschoben, «weil mir am europäischen Frieden gelegen ist».

Diese, wir wollen einmal sagen, naive Rechtsverdrehung geht durch all die amtlichen Bücher der Entente wie durch das Werk des Autors. Dass man damit bereits zugestand, dass der europäische Friede nur durch Russland gefährdet war, fühlte man gar nicht!

Man gab offen zu, dass man den russischen Standpunkt annahm, maskierte aber die Gründe. Darum wurde von den Interessierten die serbische Antwort als über alle Erwartung entgegenkommend ausgeschrien. Selbstverständlich, denn das hiess Russlands Spiel spielen; und der Zustimmung der Gedankenlosen, die in den meisten Ländern die öffentliche Meinung bilden, konnte man sicher sein. Nur einer im Bund hat aus der Schule geschwatzt: die französische Regierung in Nr. 26 des Gelbbuchs. Und wenn die deutsche Regierung im Weissbuch erklärte – der Autor druckt die Stelle anklagend ab, – «dass die serbische Antwort im wesentlichen deutlich das Bestreben erkennen liess, durch Verschleppung und neue Verhandlungen sich den gerechten Forderungen der Monarchie zu entziehen», so wird ihre Ansicht durch diese Note des Gelbbuches als richtig bestätigt, in der Herr Berthelot der serbischen Regierung den Rat gibt, «sie sollte möglichst entgegenkommend antworten und Zeit zu gewinnen suchen», «la Serbie devait chercher à gagner du temps» – doppelt bestätigt, weil man ja in Deutschland diesen erst fünf Monate später zugestandenen Rat gar nicht kennen konnte.

Dass die Antwort im Gegensatz zu dem, was der Verfasser immer wieder behauptet, nicht eine einzige wesentliche und ehrliche Zusage enthielt, ist im vorhergehenden Abschnitt gezeigt worden (s. S. 157 bis 160). Wenn also der Autor fragt: «Warum konnte Deutschland eine günstige Aufnahme dieser Note, wie Grey begehrte, in Wien nicht befürworten?» so ist die Antwort, weil es damit gleichfalls Russlands Spiel gegen Oesterreich gespielt hätte. Und wenn er weiter schreibt, dass die Verschleppungsabsicht sich doch erst dann zeigen konnte, wenn Serbien später mit der Erfüllung seiner Zusagen zögerte, so verwechselt er, absichtlich oder unabsichtlich, eine Verschleppung der Erfüllung, von der hier gar nicht die Rede ist, mit der der Verhandlungen, zu der Frankreich – und vermutlich auch andere – geraten hatten, und die damit angebahnt wurde, dass Serbien Scheinzusagen machte, die in Wirklichkeit gar keine waren.

Der Autor, dem nichts zu ungeheuerlich ist, schreibt wörtlich weiter: «Weshalb also hat Deutschland die Abberufung des österreichischen Gesandten und später die Kriegserklärung geduldet? Deutschland konnte alles bei Oesterreich, was es wollte. Oesterreich war eine Null im europäischen Völkerkonzert, wo Deutschland die erste Geige spielte. Einen Konflikt mit Russland, der aus dem serbischen Konflikt notwendig folgen musste, konnte Oesterreich nur riskieren, wenn Deutschland hinter ihm stand.» So unsinnig dies als allgemeiner Satz ist, so traf es dennoch in diesem Falle zu. Wenn Deutschland seine Bundespflicht gebrochen und seine Zusage der Hilfe für den Fall eines russischen Angriffes auf Oesterreich zurückgezogen hätte, dann allerdings wäre Oesterreich in diesem Fall kaum etwas anderes übrig geblieben, als sich knirschend zu fügen und die schwärende Wunde im Staatskörper zunächst weiter zu tragen. Aber dies wäre nicht nur ein infamer Treubruch gewesen, an den in Deutschland – etwa den Verfasser ausgenommen – kein Mensch dachte, sondern hätte auch Selbstmord bedeutet; denn selbstverständlich hätte Oesterreich das Bündnis mit dem unverlässlichen Freund nicht erneuert; das was früher bereits englischer Wunsch gewesen, hätte sich erfüllt, und Deutschlands Isolierung wäre eine vollständige und tödliche geworden.

Schon zur Zeit der bosnischen Krise, als die Spannung und was für Oesterreich in Frage stand, noch weit geringer war, hatte der belgische Gesandte in Berlin festgestellt, dass wenn Deutschland damals zugegeben hätte, dass die Entente Oesterreich zum Rückzug zwang, es dem Vertrauen, das man in Wien ins deutsche Bündnis setzte, einen schweren Stoss versetzt hätte, «aurait porté une très rude atteinte à la confiance qu'inspire à Vienne l'alliance allemande» (Note vom 1. April 1909). Wie viel mehr jetzt!

Ist es nicht höchst merkwürdig, dass man von Deutschland verlangte, es möge seinen, wie zugegeben wird, schwer herausgeforderten Bundesgenossen zurückhalten und eventuell im Stich lassen, während kein Mensch von Frankreich oder England verlangte, dass es das in keiner Weise gekränkte Russland zurückhalte? Im Gegenteil, England erklärte, – und der Autor schreibt es gehorsam nach – Russland könne nicht zurückgehalten werden. Denn, wie immer die Sachen lagen, das wird niemand leugnen, dass es sich für Oesterreich um einen ermordeten Thronfolger und um ein bedrohtes Staatsgebiet, für Russland höchstens um einen seiner zahllosen, – durch Europa und Asien, von Serbien bis zur Mandschurei reichenden, – Aussenposten seiner Machterweiterungssphäre handelte.

Wenn Frankreich und England, die in Serbien kein Interesse auf dem Spiel hatten, sich der russischen Anschauung anschlossen, nur weil Russland ihr Freund und Verbündeter war, warum sollte Deutschland nicht das Recht haben, sich auf die Seite Oesterreichs, seines Freundes und Verbündeten, zu stellen, der überdies vollkommen im Recht war? Warum sollte auch Deutschland verhalten sein, blind Russland zu folgen, das ihm weder befreundet noch verbündet und vollkommen im Unrecht war? Oesterreich hatte das grösste Interesse an einer endgültigen Lösung der serbischen Frage. Oesterreich war schreckliches Unrecht getan worden; wenn die österreichische Regierung jetzt zurückwich und auf die notwendige Genugtuung verzichtete, so wäre Spott und Verachtung auf dem Balkan wie bei der eigenen Bevölkerung ihr Los gewesen – warum also sollte Deutschland verpflichtet sein, ihr einen Rat zu geben, von dem es wusste, dass es ein schlechter Rat gewesen wäre, und dass die österreichische Regierung ihn niemals annehmen würde, wenn die deutsche nicht einen solchen Druck ausübte, dass sie sich dadurch die einzige sicher befreundete und verbündete Macht in Europa entfremdet hätte?! Wir lassen es dahingestellt, ob solch eine Entfremdung zwischen den beiden Zentralmächten nicht vielleicht ein ganz erwünschter und nicht ganz unbeabsichtigter Erfolg dieser Schritte gewesen wäre; aber so viel ist jedenfalls klar: niemand hatte dem russischen Reich irgendwie Unrecht getan, niemand eine aufrührerische Propaganda in seinen Provinzen unterstützt, kein Grossfürst war ermordet worden, es wurde von Russland überhaupt nichts verlangt, als dass es sich ruhig verhalten sollte; und nur weil es das nicht wollte, sondern vorzog, kriegerische Drohungen auszusprechen, sollte Deutschland verpflichtet sein, sich der russischen Anschauung ohne weiteres anzuschliessen, und weil es dies nicht konnte und nicht wollte, sollte, wie Herr Ssasonoff schrieb, «seine Haltung eine höchst bedrohliche sein!» Hatte die deutsche Regierung gegen irgendwen Drohungen ausgesprochen? Weigerte sie sich, ruhig zu bleiben, wie die russische es tat? Sie weigerte sich nur, der österreichischen einen schlechten Rat zu geben oder einen Druck auf sie auszuüben, einzig und allein, weil Russland dies wünschte.

Zur Zeit, da das englische Blaubuch herausgegeben wurde, fühlte man offenbar in England, dass der Vorwurf kommen musste, dass man auf Russland keinen wirksam zurückhaltenden Einfluss ausgeübt, während man von der deutschen Regierung immer wieder verlangte, sie müsse die österreichische zurückhalten. Und so beeilte man sich diesem Vorwurf zuvorzukommen und gab in der Einleitung zum englischen Blaubuch, auf Seite V, §(4), den gewichtigen Grund an.

Der Leser höre und urteile selbst: Sir Edward Grey, oder derjenige seiner Beamten, der diese Einleitung verfasst hat, schreibt: «es sei keine Zeit gewesen, Russland einen Rat zu geben, oder Serbien zu beeinflussen», «there was no time to advise Russia or to influence Servia». In dieser platten Ausflucht offenbart sich bereits die tiefe Unwahrheit der amtlichen englischen Darstellung, die mit sehr gedankenlosen Lesern rechnet. Warum war keine Zeit, Russland einen Rat zu geben? Braucht ein Telegramm von London nach Petersburg länger als nach Wien? Und wenn die englische Regierung nicht mehr Zeit hatte, der russischen, die noch keine Frist gestellt, noch ihre letzte Entscheidung getroffen hatte, einen Rat zu geben, wie sollte da für die deutsche Regierung Zeit sein, der österreichischen zu raten, die ihre Entscheidung in der endgültigsten Form getroffen und ihre Forderungen befristet hatte, und die weder von ihrer Entscheidung noch von der Frist abstehen konnte, ohne sich lächerlich zu machen? Und in Wirklichkeit war ja doch für die Beeinflussung Serbiens bis zum 28. Juli, für die Russlands bis zum 1. August Zeit.

Was der Autor über die verschiedenen «Vermittlungsvorschläge « – Viermächtekonferenz und die beiden Ssasonoffschen Formeln – anbringt, ist schon im vorhergehenden Abschnitt widerlegt worden (s. S. 166 und 180 ff.). Er wiederholt nur frühere Entstellungen und Fälschungen. So wenn er sagt, dass der einzige wirkliche Vermittlungsvorschlag, der gemacht wurde, der Vorschlag Greys vom 29. Juli, der am 30. vom König von England unterstützt, am 31. von Oesterreich angenommen war, «mit Stillschweigen begraben wurde». Dies ist nur im russischen Orangebuch und im französischen Gelbbuch geschehen.

Es wird gut sein, bereits hier festzustellen, dass Deutschland, wenn es sich gleich weigerte, «auf die österreichischen massgebenden Stellen in Wien einen Druck auszuüben» – dies hatte Sir Edward Grey wörtlich von ihm begehrt (Blaubuch Nr. 112) – sich dennoch sehr bemühte, Oesterreich in der gewünschten Richtung zu beeinflussen. Die deutsche Regierung übermittelte nicht nur die englischen Vorschläge dem österreichischen Ministerium des Aeussern, sondern sie tat auch alles, was sie konnte, um die direkte Aussprache zwischen der russischen und der österreichischen Regierung zu fördern. Das deutsche Weissbuch enthält als Nr. 16 ein Telegramm des deutschen Botschafters in Wien an den Reichskanzler vom 28. Juli, in dem es heisst: «Graf Berchtold bittet mich, Euer Exzellenz seinen verbindlichen Dank für die Mitteilung des englischen Vermittlungsvorschlages zu sagen.» Das österreichische Rotbuch veröffentlicht als Nr. 41a eine Note des Grafen Berchtold an die Botschafter in London, Petersburg, Paris und Rom vom 29. Juli, in der er sie davon in Kenntnis setzt, dass die österreichische Regierung sich zu ihrem grossen Bedauern genötigt sehe, die ihr durch den deutschen Botschafter, Herrn von Tschirschky, übermittelten englischen Vorschläge abzulehnen. Eigene Vorschläge des Reichskanzlers, die dem in Note 88 des Blaubuches ausgesprochenen Vermittlungsversuch Grey's ähnlich waren und eine Einschränkung des Kriegsziels in Serbien auf die Sicherung von Bürgschaften und eine Erklärung über diese Einschränkung anrieten, sind in einer Note Sir E. Göschens an Grey im englischen Blaubuch Nr. 75 mitgeteilt. Vermutlich am gleichen Tage, da darin vom eingetretenen Kriegszustande mit Serbien die Rede ist, erging an den deutschen Botschafter in Wien jene energische Instruktion, die der Reichskanzler am 19. August 1915 im deutschen Reichstag verlesen hat: «Wir können Oesterreich-Ungarn nicht zumuten, mit Serbien zu verhandeln, mit dem es im Kriegszustand begriffen ist. Die Verweigerung jedes Meinungsaustausches mit Petersburg aber würde ein schwerer Fehler sein. Wir sind zwar bereit, unsere Bundespflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Oesterreich-Ungarn durch Nichtbeachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen. Eure Exzellenz wolle sich zu Graf Berchtold sofort mit allem Nachdruck und grossem Ernst in diesem Sinne aussprechen.» Diese Depesche wurde offenbar auf Grund der Note Sir Edward Grey's an Göschen (Blaubuch Nr. 84) abgesendet, in der Grey sich beklagt hatte, dass die österreichisch-ungarische Regierung sich weigere, mit der russischen zu verhandeln, eine Klage, die wieder auf einer falschen Information Herrn Ssasonoffs (Orangebuch Nr. 50) beruhte (s. darüber im vorhergehenden Abschnitt S. 178). Oesterreich-Ungarn hatte sich nie geweigert mit Petersburg zu verhandeln. Wenn sie also gleich unbegründet war, so beweist diese scharfe Depesche doch den ausserordentlich guten Willen der deutschen Regierung, beweist, wie Recht der Reichskanzler hatte, als er sagte, «er habe der Wiener Regierung nur zu sehr zur Mässigung geraten» (Blaubuch Nr. 107) und vermehrt angesichts der Art, wie sie hervorgerufen wurde, den Verdacht, dass es auf eine Verstimmung zwischen Wien und Berlin abgesehen war. Das österreichische Rotbuch enthält als Nr. 47 eine Note des österreichischen Botschafters in Petersburg, Grafen Szapary, in der er dem Grafen Berchtold mitteilt, dass der deutsche Botschafter, Graf Pourtalès, versöhnliche Schritte bei der russischen Regierung getan habe. All dies geht nicht nur aus den veröffentlichten Akten hervor, und wird durch das Zeugnis des belgischen Geschäftsträgers in Petersburg, Herrn de l'Escaille, bestätigt, der am 30. Juli an seine Regierung schrieb: «Es ist unbestreitbar, dass Deutschland hier sowohl als in Wien versucht hat, einen Ausweg zu finden und den allgemeinen Krieg vermeidlich zu machen». «Ce qui est incontestable c'est que l'Allemagne s'est efforcée de trouver un moyen quelconque d'éviter un conflit général mais qu'elle a rencontré d'un côte l'obstination du cabinet de Vienne à ne pas faire un pas en arrière et de l'autre la méfiance du cabinet de St-Pétersbourg devant les assurances de l'Autriche-Hongrie.» s. über diesen Brief S. 258 ff.

Der Autor kommt zur Besprechung der zwischen dem deutschen Kaiser und dem Zaren gewechselten Depeschen. Er gibt zu, dass aus den Depeschen des deutschen Kaisers ein zweifellos ehrlicher Friedenswille spreche. Dies sei verzeichnet.

In der ersten Ausgabe des deutschen Weissbuches fehlte eine Depesche des Zaren vom 29. Juli in der nicht vorgeschlagen, sondern andeutungsweise erwähnt wurde, dass man den österreichisch-serbischen Streitfall vor das Haager Schiedsgericht bringen könnte.

Ob dies dem Zaren selbst eingefallen, ob es ihm geraten wurde, um ihn in harmloser Weise sich seines Spielzeuges erfreuen zu lassen, in jedem Fall bedeutete die Depesche, wenn und soweit die russische Regierung daran beteiligt war, eine unehrliche Komödie. Nachdem Oesterreich so oft erklärt hatte, dass es von seinen Forderungen unter keinen Umständen abgehen werde, wusste man natürlich, dass die Sache aussichtslos war. Auch waren «Fragen, die die wesentlichen Interessen oder die Unabhängigkeit eines Teiles berührten», schon im Haag selbst ausgeschlossen worden. Warum, wenn die russische Regierung auch nur das geringste Gewicht auf die Sache legte, liess sie diesen Vorschlag auf die zwischen den beiden Kaisern gewechselten Telegramme beschränkt bleiben, und machte sie nicht amtlich und rief die Verbündeten zur Unterstützung auf? Sie zog die Ssasonoff'schen Formeln vor, die sie durch Kriegsdrohung begleiten und stützen konnte. Für diese allein setzte sie die verbündeten Regierungen mit allen Mitteln in Bewegung.

Vielleicht erinnerte man sich auch, dass die englische Regierung und das englische Parlament das Haager Schiedsgericht mit überwältigender Mehrheit abgelehnt hatten, als der Präsident Krüger es vor dem Burenkrieg anrief, dass die russische Regierung selber vor ihrem Krieg mit Japan keinen Augenblick an die Schöpfung des Zaren gedacht hatte.

Dennoch halte ich es für einen Fehler, dass man die Depesche in der ersten Ausgabe des Weissbuches wegliess, da sie ja doch herauskommen und Unverständigen gleich dem Autor eine weitere Handhabe bieten musste. Wahrscheinlich fürchtete man, eine zu lange Erklärung geben zu müssen.

Wie wenig ernst der Vorschlag in Russland selbst genommen worden ist, ist schon dadurch bewiesen, dass er auch im russischen Orangebuch fehlt, in dem alle Kaiserdepeschen vorsichtig weggelassen sind.

Hienach aber leistet sich der Autor sein stärkstes Stück. Er führt aus, dass die deutsche Regierung, um einen Vorwand zum Krieg zu haben, das ursprüngliche Verhandlungsthema – die «sachliche Differenz zwischen Oesterreich und Russland» in den Hintergrund treten liess und die «formelle Frage der Rüstungsdrohung» an ihre Stelle vorschob. (Statt «Rüstungsdrohung», muss es richtig «Mobilisierung» heissen. Auf Seite 278, wo er den gleichen Unsinn wiederholt, gebraucht der Autor wenigstens den richtigen Ausdruck.)

Man überlege, was der Autor hier sagt! Die Differenz zwischen Russland und Oesterreich hatte allerdings sehr weitreichende sachliche Gründe. Aber im Augenblick ging der Streit lediglich um den Wortlaut der österreichischen Note und der serbischen Antwort. Alle Forderungen der russischen Regierung, alle Formeln Ssasonoffs gingen nach dem einen Ziel: eine Aenderung des österreichischen Textes in bestimmten Punkten oder die Annahme des serbischen Textes zu erreichen. Der Autor selbst wiederholt an verschiedenen Stellen, dass Serbien im Augenblick doch nicht mehr tun als Zusagen geben, nicht aber sie innerhalb der achtundvierzigstündigen Frist auch schon erfüllen konnte (was kein Mensch verlangt hatte!). Es handelte sich also in der Tat zunächst um Worte und formelle Fragen, oder richtiger: Fragen der Formulierung, wenn ihnen auch eine grosse sachliche Bedeutung für die Zukunft innewohnte.

Im Gegensatz zu dieser Differenz, die er die «sachliche» nennt, bezeichnet der Autor die Frage der russischen Mobilisierung als eine «formelle»! Also neben dem Streit der Diplomaten um die Notentexte, der mit Depeschen und Verhandlungen ausgefochten wurde, erscheint ihm der Aufmarsch moderner Riesenheere, der hunderte von Millionen kostet, Millionen Menschen, hunderte von Eisenbahnzügen, unerhörte Mengen von Kriegsmaterial in Bewegung setzt, und die ganze Kraftentfaltung und zugleich die furchtbarste Drohung bedeutet, deren ein moderner Grosstaat fähig ist, als eine ... formelle Frage! Kann man, angesichts eines so unsinnigen Trugversuchs, ihn für etwas anderes denn einen vollkommenen Narren erklären? Deutschland liess die sachliche Frage der Notentexte fallen und schob die formelle der Armeemobilisierung vor!

Der Autor spricht die Vermutung aus, dass in «Berlin an der entscheidenden Stelle ein Umschwung stattgefunden haben muss» und zwar «aller Wahrscheinlichkeit nach bei Gelegenheit des Vortrages, den der Reichskanzler am 29. Juli dem Kaiser in Potsdam gehalten hat». Es ist dies nichts als eine «vollkommen leere, durch gar nichts gestützte Vermutung; man denke, wie oft in diesen kritischen Tagen der Reichskanzler dem deutschen, Graf Berchtold dem österreichischen Kaiser, Ssasonoff dem Zaren, Herr Viviani dem Präsidenten Vortrag gehalten haben müssen! Sicherlich sind fast jedesmal für diesen oder jenen Fall wichtige Beschlüsse gefasst worden. Die Vermutung, dass der Entschluss zum Krieg am 29. Juli in Potsdam gefasst worden sei, haben auch andere Leute ausgesprochen. Der französische Botschafter Cambon stellt sie in einer Note vom 30. Juli auf. (Gelbbuch Nr. 105.) Aber der Autor führt noch eine für ihn kennzeichnende Schwindelei hinzu, wenn er schreibt: «Leute, die es wissen können, erzählen, dass die leitenden Militärpersonen, gestützt von dem Kronprinzen und seinem Anhang, dem Kaiser en bloc ihre Demission angedroht haben, falls er sich nicht zum Krieg entschliesse.» Warum nennt der Autor für diese wichtigste aller Behauptungen, die erste, die eine wirkliche Anklage bedeutet, seine Gewährsmänner nicht? Die Antwort ist: weil er frech lügt. Die Leute, die es wissen können, das sind jene, die an der Konferenz von Potsdam teilgenommen, oder die allereingeweihtesten Mitglieder der Regierung und des Generalstabs, die aber nie etwas ähnliches gesagt haben. Solche Behauptungen, die das Gepräge albernster Erfindung an der Stirn tragen, werden – und noch dazu ohne Beweis – höchstens von kannegiessernden Schwätzern gleich dem Autor aufgestellt.

Die einfache Wahrheit ist, dass ein «Umschwung» überhaupt nicht stattgefunden hat. Die Mobilisierungsfrage ist niemals in den Vordergrund geschoben worden, weil sie vom ersten Augenblick an im Vordergrund stand, wie dies bei jeder kritischen Spannung zwischen zwei Mächten der Fall ist. So lange über Forderungen, Noten, Formeln und Vermittlungsvorschläge verhandelt wird, so lange ist keine Gefahr; sobald aber ein Heer an der Grenze aufmarschiert, besteht unmittelbarste Gefahr für das Land, an dessen Grenze dies geschieht.

Im gegenwärtigen Fall aber lag die Sache noch bedenklicher. Frankreich und Russland zusammen haben selbst allein Deutschland und Oesterreich gegenüber eine ungeheure zahlenmässige Uebermacht (s. S. 71). Falls es zum Kriege kam, konnte Deutschland nur auf seine bessere Organisation, seine schnellere Beweglichkeit, seine Strategie, rechnen. Aus dem gleichen Grunde war aber auch das kleinere Frankreich dank seinem wertvolleren Truppen- und Offiziersmaterial, seiner vorzüglich geschützten Grenze, seinem glänzenden Bahnsystem der weitaus gefährlichere Feind. Wenn es zum Krieg kam, musste Deutschland, – wie dann geschah, – fast seine ganze Truppenmacht gegen Frankreich werfen, um hier unbedingt überlegen zu sein. Tatsächlich konnten im August 1914 nur etwa zehn Divisionen zum Schutz der ganzen fünfzehnhundert Kilometer langen deutschen Ostgrenze zurückgelassen werden. Wenn Russland die Zeit gelassen wurde, seine ungeheuren Massen in ungestörter Ruhe an die deutsche Grenze zu bringen, so war der schwache deutsche Grenzschutz aller Berechnung nach verloren, und ganz Ostdeutschland der russischen Ueberflutung preisgegeben. Das wusste man natürlich in den fremden Generalstäben genau so gut wie in Berlin. Darum liess man ja den Zaren dem deutschen Kaiser gütig anbieten, er möge doch ruhig gleichfalls mobilisieren. Mit vollkommener Offenheit sagte der Staatssekretär von Jagow daraufhin am 1. August zum englischen Botschafter Göschen «Deutschland habe die Raschheit für sich, Russland die Zahl. Aus Rücksicht auf die Sicherheit des Reiches könnte Deutschland Russland nicht die Zeit lassen, Truppenmassen aus allen Teilen seines weiten Gebietes heranzubringen.» (Blaubuch Nr. 138.) Dies war aber durchaus kein neues Argument, das erst am 1. August vorgebracht wurde, sondern das war vom Anbeginn der Krise wieder und wieder ausgesprochen worden. Schon am 27. Juli, also zwei Tage vor der Potsdamer Konferenz war Sir Edward Göschen durch den Staatssekretär ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht und gewarnt worden, dass «wenn Russland im Norden mobilisiere, Deutschland das gleiche tun müsste, da es sich sorgfältig davor hüten müsste, überfallen zu werden» (Note Sir E. Göschens, Blaubuch Nr. 43), und am 30. Juli hatte der Staatssekretär hinzugefügt, «bis auf die Rückberufung beurlaubter Offiziere habe die kaiserliche Regierung bis jetzt keinerlei besondere militärische Vorbereitungen getroffen. Es würde indessen bald etwas geschehen müssen, sonst könnte es zu spät werden, und wenn Deutschland mobilisiere, müsste es an drei Seiten mobilisieren. Er bedauere dies, da Frankreich, wie er wohl wisse, den Krieg nicht wünsche, es wäre indessen eine militärische Notwendigkeit» (Note Sir E. Göschens, Blaubuch Nr. 98).

Der deutsche Botschafter in St. Petersburg, Graf Pourtalès, hatte schon am 26. Juli bemerkt: «Mobilisierungsmassnahmen seien heutzutage höchst gefährlich, denn in diesem Falle gelange die rein militärische Erwägung der Generalstäbe zum Wort; wenn in Deutschland einmal auf den Knopf gedrückt werde, sei die Sache unaufhaltsam» (Rotbuch Nr. 28).

Diese Warnung des Grafen Pourtalès bezeichnet der Autor als ein Selbstbekenntnis der deutschen Regierung!

In der Tat war dies jedem Kundigen so klar, dass nicht der deutsche, sondern der englische Botschafter in St. Petersburg, Buchanan, bereits einen Tag vorher zum russischen Minister fast wörtlich das gleiche gesagt hatte: «ich warnte den russischen Minister des Aeussern, dass, wenn Russland mobilisieren sollte, Deutschland sich nicht mit der blossen Mobilisierung begnügen oder Russland Zeit geben würde, seine Mobilisierung durchzuführen, sondern gleich den Krieg erklären würde.» «I warned him that if Russia mobilised, Germany would not be content with here mobilisation, or give Russia time to carry out hers, but would probably declare War at once.» (Note Sir G. Buchanans vom 25. Juli, Blaubuch Nr. 17.) So klar war die Lage Deutschlands selbst seinen Feinden – so unwahr ist es, wenn die englische oder irgend eine Regierung sich nachher stellte, als hätte Deutschlands Vorgehen sie durch einen plötzlichen Umschwung oder selbst durch seine Kriegserklärung überrascht.

Warum verschweigt der ehrliche Autor diese Stelle? Und sieht er auch in ihr ein «Selbstbekenntnis» und etwa einen Beweis, dass auch Sir G. Buchanan an dem vom Autor und gleich scharfen Geistern enthüllten deutschen Komplott gegen den Weltfrieden beteiligt war?

Es hat also überhaupt kein Umschwung stattgefunden und daher auch nicht zu Potsdam, wo vermutlich über die. durch die russische Teilmobilisierung geschaffene Lage beraten wurde. Selbstverständlich mussten die letzten entscheidenden, wenn auch von Anfang an für den Fall russischer Mobilisierung angekündigten Schritte einmal endgültig beschlossen werden. Wann dies geschah, daraus wurde in Deutschland gar kein Hehl gemacht; am 31. Juli berichtet Sir Edward Göschen, der Reichskanzler habe ihm gesagt, «wenn, wie er erfährt, Russland jetzt auch gegen Deutschland militärische Massnahmen trifft, so werde es ihm unmöglich, ruhig zu bleiben. Er wünsche mir mitzuteilen, dass es sehr möglich sei, dass in ganz kurzer Zeit, vielleicht noch heute, die deutsche Regierung einen sehr ernsten Schritt tun werde; in der Tat begebe er sich soeben zum Kaiser zur Audienz.» (Blaubuch Nr. 108.)

Aber wenn der Autor dem Leser erklärt, was er nicht weiss – und nicht wissen kann – «dass man am 29. Juli in Potsdam den Krieg beschloss», so verschweigt er dafür, was er weiss – oder wenigstens wissen müsste – dass am selben 29. Juli der russische Minister des Aeussern an Herrn Isvolsky schrieb : «Da wir den Wunsch Deutschlands nicht erfüllen können, so bleibt uns nichts übrig, als unsere eigenen Rüstungen zu beschleunigen und mit der wahrscheinlichen Unvermeidlichkeit des Krieges zu rechnen. Benachrichtigen Sie die französische Regierung hievon und drücken Sie ihr gleichzeitig unsere aufrichtige Dankbarkeit für die Erklärung aus, die mir der französische Botschafter in ihrem Namen machte, dass wir auf die Unterstützung des verbündeten Frankreich vollkommen zählen können.» Orangebuch Nr. 58.) Hier ist nicht nur ausgesprochen, dass man in Russland am 29. Juli zum Krieg bereits vollkommen entschlossen war, nicht nur, dass Frankreich an diesem Tage bereits erklärt hatte, mit Russland den Krieg zu wollen, falls Russland Oesterreich Serbiens wegen angreifen sollte, sondern hier ist auch gesagt, dass Russland anstatt abzumobilisieren, wie Deutschland verlangte – und mit vollem Recht, denn abmobilisieren war der einzige Weg, der zum Frieden führte, wie die Mobilisierung der sichere Weg zum Krieg war – vielmehr seine Rüstungen beschleunigen werde. Dies bedeutet die vollkommene Rechtfertigung der deutschen Besorgnis und des deutschen Vorgehens.

Dass der deutsche Reichskanzler an diesem Tage den englischen Botschafter fragte, ob und unter welchen Bedingungen England in einem europäischen Krieg neutral bleiben werde, darin sieht der kluge Autor einen weiteren unwiderleglichen Beweis dafür, dass der Krieg an diesem Tage in Berlin schon beschlossene Sache war; eine andere Erklärung gäbe es dafür nicht. Es ist immer der gleiche Versuch, den Leser durch eine logische Verdrehung zu beschwindeln; denn das Interesse Deutschlands an der englischen Neutralität war natürlich genau ebenso gross, wenn man angegriffen wurde, als wenn man selber angriff. Der Angegriffene genau wie der Angreifer, hat den Wunsch, die Ueberzahl der Feinde zu mindern. Die Frage des Reichskanzlers bewies nur, dass man den Krieg fürchtete, keineswegs, dass man ihn wollte. Mit der Unschuld des Narren fragt der Autor: «Was war denn bis zu diesem Zeitpunkt geschehen, um diese dringende Befürchtung eines europäischen Krieges in Herrn Bethmann-Hollweg zu erwecken?» Nichts, gar nichts, nur dass ganz Europa in atemloser Beklemmung der Ereignisse harrte, dass Oesterreich an Serbien bereits den Krieg erklärt, dass Russland, wie der Autor selbst zu wiederholen nicht müde wird, dies seinerseits als Kriegsfall bezeichnet hatte, was wieder für Deutschland den Bündnisfall bedeutete, dass Russland den Krieg als unvermeidlich ansah und im Süden bereits mobilisierte. Preisfrage: kann ein Mensch dümmere Fragen stellen als der Autor?

Der Reichskanzler wusste, dass England zur feindlichen Mächtegruppe gehörte, wusste von den Generalstabsbesprechungen, den Marineabkommen, und wenn er nach der Geschichte der letzten zehn Jahre auch nicht allzuviel Hoffnung haben konnte, den Versuch, sich wenigstens einen Gegner vom Leibe zu halten, musste er machen; anders zu handeln wäre Torheit und Verbrechen gewesen.

Der Autor aber zitiert, im Gegensatz zu diesem Schritt der Sorge des deutschen Reichskanzlers, ebenso schöne als nichtssagende und vollkommen unverbindliche Worte Sir Edward Greys in einer Depesche vom 30. Juli: wie lieb und gut man in Zukunft sein wolle und wie es hinfort «das ganze Bestreben Englands sein sollte, ein Arrangement zustande zu bringen, in das auch Deutschland eintreten könne» usw. Ob Grey dies selbst glaubte, als er es schrieb, ob er nur glaubte, den deutschen Reichskanzler, dessen Wunsch nach einem guten Verhältnis zu England seine Politik beherrscht hatte, damit für Russlands Wünsche gefügig zu machen, ist natürlich nicht zu entscheiden. Dass Sir Edward Grey selbst die Hohlheit seiner Worte empfand, geht aus der Stelle hervor, in der er sagt: dieser Gedanke sei bisher zu utopisch gewesen, um bestimmte Vorschläge zu machen, aber in Zukunft wolle er hoffen, usw. Also leerstes Gerede. Wahrscheinlich wäre Deutschland noch einmal der Vorschlag gemacht worden, sich zur See wehrlos zu machen. Nebenbei bemerkt, fälscht der Autor bei der Uebersetzung dieser Worte, indem er Sir Edward Grey sagen lässt: » Meine Idee ist zu utopisch erschienen,» während Grey sie als wirklich utopisch bezeichnete. Neben den vielen schweren Fälschungen des Autors kommt eine so kleine Fälschung allerdings kaum in Betracht.

Die englische Politik in diesen Tagen wird in dem nächsten England gewidmeten Abschnitt erörtert werden.

Der Autor setzt sein erstaunliches Geschwätz fort, ein Gemisch von Unsinn und Lüge, wie man es selten gesehen hat. Er sagt: «Graf Berchtold hatte am 30. Juli dem russischen Botschafter Schebeko in freundschaftlichem Tone seine Bereitwilligkeit erklärt, die unterbrochenen Verhandlungen zwischen Oesterreich und Russland in Petersburg wieder aufnehmen zu lassen.» Wie gezeigt worden, sind die Verhandlungen an keinem Tage unterbrochen, an keinem wieder aufgenommen worden. Wieder werden Greys schöne Worte gelobt: er «will Oesterreich volle Befriedigung schaffen» – er, der soeben auf Russlands Widerstand hin den einzigen ernstlichen Vermittlungsvorschlag, der Oesterreich ein Pfand gab, fallen gelassen!

Der Autor wiederholt, dass die russische Mobilisierung «berechtigt» war, und dass nicht bewiesen sei, dass sie «aggressiven Charakter hatte», als ob eine Mobilisierung eines nicht angegriffenen Staats einen andern Charakter haben könnte! Abgesehen davon, hatte Ssasonoff selbst bei der Ankündigung der Teilmobilisierung nur erklärt, dass sie keine aggressiven Absichten gegen Deutschland enthalte! (Blaubuch Nr. 936.) Ssasonoff gab also aggressive Absichten gegen Oesterreich zu; diese bedeuteten aber nach dem Bündnisvertrag für Deutschland den Kriegsfall!

Er wiederholt – noch zweimal – die Lüge, dass die österreichische allgemeine Mobilisierung spätestens um 1 Uhr morgens des 31. Juli, vielleicht aber schon am 28. Juli, angeordnet worden sei, während sie in der Tat am 31., um 1 Uhr morgens, nur beschlossen wurde (s. S. 188).

Dass Deutschland schon vorher heimlich mobilisiert hatte, beweist er aus dem französischen Gelbbuch Nr. 106. Die Verlässlichkeit des Gelbbuchs ist schon in mehreren Beispielen dargetan worden; die ausserordentlich merkwürdige Geschichte dieser Note Nr. 106 und ihre Glaubwürdigkeit wird uns noch beschäftigen (s. S. 285 ff.). Es ist übrigens zweifellos, dass alle Staaten gewisse eilige Schutzmassnahmen trafen, was angesichts der gespannten Lage begreiflich und pflichtgemässe Vorsicht war, aber von einer Mobilisierung unendlich weit entfernt ist. Wer die Mobilisierung in Deutschland mitgemacht hat, und weiss, wie am 31. Juli und 1. August die letzten Züge für Zivilisten von Berlin abgingen und wie dann durch viele Tage die endlosen Militärzüge nach Westen rollten, der weiss, wie verschieden alle früheren Vorkehrungen von einer Mobilisierung waren, und das gleiche berichten alle Personen, die zur Zeit in Frankreich oder Oesterreich waren.

Das vom Autor besonders beliebte System, törichte Fragen, auf die die Antwort sich von selbst ergibt, so zu stellen, als ob sie unbeanwortbar wären, wendet er auch hier an. So fragt er, «mit welchem Recht Deutschland für Oesterreich die Forderung stellte, dass Russland auch gegen Oesterreich demobilisiere», während doch der Grund klar ist: weil schon der Angriff auf Oesterreich Deutschland in den Krieg verwickeln musste, und zweitens, weil Oesterreich, in den Noten Nr. 42 und 48, ausdrücklich darum gebeten hatte. Er fragt, ob «eine Mobilisierung denn überhaupt ein bedrohlicher Akt sei, gegen den ein Nachbarstaat vorzugehen berechtigt sei?» Seit Jahrhunderten haben Kriege damit begonnen, dass ein Teil bedrohliche Truppenansammlungen und Kriegsvorbereitungen im Nachbarlande bemerkte und deren Einstellung verlangte – ich nenne nur den österreichisch-italienischen Krieg von 1859 und den Transvaalkrieg – aber wenn es noch nie geschehen wäre, so war der Fall jetzt durch die Lage Deutschlands gegeben.

Selbstverständlich muss die Mobilisierung nicht immer den Krieg bedeuten, wenn sie auch immer eine Kriegsdrohung ist. Wenn jemand das Gewehr auf mich anlegt, so muss. er darum noch nicht schiessen, aber ich habe das Recht, mich bedroht zu fühlen, und das Recht, zu verlangen, dass das Gewehr gesenkt werde, widrigenfalls ich schiessen würde. Darum ist es wieder nur ein Spielen mit Worten, wenn der Autor sich darauf beruft, dass nicht nur der Sektionschef im österreichischen Ministerium des Aeussern in Wien, Graf Forgach, dem englischen Botschafter erklärte, die Mobilisierung müsste noch nicht notwendig Feindseligkeiten bedeuten, ja, dass Kaiser Wilhelm selbst sich gegenüber Frankreich bereit erklärte, 48 Stunden mit dem Vormarsch zu warten, damit England Frankreichs Neutralität vermitteln und verbürgen könne.

Oesterreich hoffte, dass Russland sich besinnen würde, wenn es Deutschlands Ernst erkannte; an der französischen Grenze hatte Deutschland eine gewisse Uebermacht, und die Neutralität Frankreichs, von England verbürgt, war ein zweitägiges Zuwarten wert; aber an der russisch-deutschen Grenze stand es anders, da lag ein schwacher Grenzschutz, und es konnte nicht gewartet werden, bis die russischen Riesenheere zum Eindringen bereit standen. Da gab es nur die Wahl: Russland stellte die bedrohlichen Bewegungen ein, oder es kam alles darauf an, als erster loszuschlagen.

Hier wäre auch die vom Autor – wie von vielen andern Leuten – erhobene Beschuldigung zu erörtern, Deutschland führe einen Präventivkrieg. Ein Präventivkrieg liegt vor, wenn ein Staat, weil er voraussieht oder annimmt, dass es mit einem anderen Staat früher oder später zum Krieg kommen werde, den Krieg schon selber zu einem ihm günstig scheinenden Zeitpunkt beginnt. Bismarck hatte sich, wie bekannt, gegen Präventivkriege ausgesprochen.

Einen solchen Präventivkrieg hat Italien im Jahre 1915 begonnen. Wenigstens wird dies von italienischer Seite immer wieder behauptet. In unzähligen Reden und Artikeln wurde und wird versichert, dass die siegreichen Zentralmächte Italien seinen Abfall nie verziehen und sich nach ihrem Siege auf es gestürzt hätten, daher habe Italien Krieg führen müssen, um diesen Sieg zu verhindern. Ohne auf die Frage einzugehen, ob diese Annahme berechtigt, noch auf die wichtigere Frage, ob dies der wahre Grund für Italiens Eintritt in den Krieg war – immerhin liegt darin das Zugeständnis oder vielmehr die Behauptung, dass man einen Präventivkrieg führe.

Aber einen Krieg, wie Deutschland tat, erklären, weil die Heere des Gegners bereits an der Grenze aufmarschieren, das ist so wenig ein Präventivkrieg, als mein Schiessen ein Angriff ist, wenn ich dem, der bereits das Gewehr auf mich angelegt hat, durch meinen Schuss zuvorkomme.

Der Autor hat aber noch ein Argument auf Lager: wie wenig eine Mobilisierung bedeutet, sagt er, kann man daraus erkennen, dass sowohl Oesterreich als Russland seit dem 31. Juli mobilisiert hatten «und doch ist erst am 6. August durch die Kriegserklärung Oesterreichs der Krieg zwischen ihnen ausgebrochen». Nichts könnte für den jammerhaften Schwätzer kennzeichnender sein, als diese Entdeckung! Er, der eben die Mobilisierung des russischen Millionenheeres für eine «formelle» Angelegenheit erklärt hat, macht dafür die Kriegserklärung, die wirklich eine Formalität ist, die – vielleicht aus den auf Seite 330 angedeuteten Gründen – erst sechs Tage später erfolgte, zum tatsächlichen Kriegsausbruch! Im russisch-japanischen Krieg ist eine Kriegserklärung überhaupt nicht erfolgt; für den Autor ist also der russisch-japanische Krieg bis heute nicht ausgebrochen!!

Mit ähnlichem Scharfsinn kommt er auf Seite 176 aus dem Schlussatz der erwähnten Depesche Kaiser Wilhelms an König Georg vom 1. August: «Ich hoffe, Frankreich wird nicht nervös werden. Die Truppen an meiner Grenze werden gerade telegraphisch und telephonisch abgehalten, die französische Grenze zu überschreiten», zur genialen Erkenntnis, die er als besondere Anklage gegen Deutschland gesperrt druckt: «dass die deutschen Truppen am 1. August, also zwei Tage vor der Kriegserklärung die französische Grenze überschritten hätten, wenn sie nicht telegraphisch und telephonisch davon abgehalten worden wären. Diese Abhaltung war veranlasst durch die Verhandlungen der letzten Stunde mit England. Ohne diese Verhandlungen also wären die deutschen Truppen en masse 48 Stunden vor der Kriegserklärung in Frankreich eingedrungen».

Welch ein gedoppelter Blödsinn in diesen Sätzen liegt, wird sofort klar. Erstens war mit dem Ablauf der in dem Ultimatum an Frankreich gesetzten Frist der Kriegsfall gegeben, ob die Erklärung sofort erfolgte oder nicht. Selbstverständlich wäre sie, wie an Russland, auch an Frankreich sofort erfolgt, wenn nicht jene merkwürdige englische Anfrage gekommen wäre, auf die die Kaiserdepesche die Antwort bildete, und die später von England für ein «Missverständnis» erklärt wurde. Daraufhin wurden Kriegserklärung und Vormarsch um 48 Stunden verschoben. Der Autor aber tut, als wäre die Kriegserklärung am 1. August noch nicht möglich gewesen, sondern hätte naturnotwendig erst am 3. August erfolgen müssen, um auf Grund dieser sinnlosen Annahme den Vorwurf zu erheben, dass die deutschen Truppen schon vor der Kriegserklärung die Grenze überschritten hätten, wenn sie es eben getan hätten!

Es handelt sich ihm dabei um die Konstruierung von Grenzverletzungen, deren jeder Staat den andern beschuldigte. Dass in solchen übererregten Tagen Gerüchte ohne Ende sich verbreiten und oft nicht genug geprüft werden, dass wirkliche Grenzvorfälle, die ja im Frieden nicht selten sind, in solchen Zeiten vermutlich kaum vermeidbar werden, ist klar. Ich erinnere nur an die Sagen von den russischen Goldautomobilen in Deutschland, die eine Menge behördlicher Kundmachungen und Verfügungen hervorriefen, die Mobilisierungsmassregeln oft empfindlich störten und mehreren Menschen das Leben kosteten. Das Gerücht entstand, wie es scheint, dadurch, dass ein Automobil, das österreichisches Gold für eine Bankfiliale nach Paris brachte, in Stuttgart angehalten und telegraphisch zurückberufen wurde. Selbstverständlich sind auch die leitenden Staatsmänner in solchen Tagen überanstrengt und erregt. Die Wahrheit über die meisten dieser Vorfälle wird vermutlich nie mehr aufgeklärt werden können. Es kommt auch nicht darauf an. Sie haben die Entscheidung nicht herbeigeführt, auch wenn man sich bei den wirklich «formellen» Erklärungen auf den einen oder andern berief.

Entscheidend sind selbstverständlich nur die grossen Fragen der Situation, vor allem die Frage: ob Russland das Recht hatte, sich in den serbisch-österreichischen Konflikt in völlig einseitiger Weise zu mischen und damit den Krieg hervorzurufen. Wie dabei die Lage für Deutschland war, das stand von Anfang an durch den Bündnisvertrag fest; die politische, wie die militärische Zwangslage, in die Deutschland durch das Vorgehen Russlands geraten musste, war vom englischen Botschafter Buchanan von Anfang an erkannt und ausgesprochen, von den deutschen Botschaftern vom ersten bis zum letzten Tag der Krise in gleicher Weise deutlich erklärt worden. Vom ersten bis zum letzten Tag war durch den Kanzler, durch den Staatssekretär von Jagow, durch den Grafen Pourtalès den englischen wie den russischen Staatsmännern erklärt worden: wenn Russland mobilisiert, dann wird es zum Kriege kommen, sonst kann er vermieden werden. Dazu war weder der Umschwung nötig, von dem immer wieder gefaselt wird, noch war es ein in letzter Stunde gesuchter Vorwand, sondern es stand vom ersten Augenblick, es stand im Grunde von jeher fest. Wie wenig man es aber in Deutschland wünschte, das geht aus drei sehr wichtigen psychologischen Bemerkungen hervor, die sich im englischen Blaubuch finden: Sir E. Göschen berichtet, dass er am 29. Juli, als die Aussichten sich immer mehr verdüsterten, den deutschen Staatssekretär, Herrn von Jagow «sehr niedergeschlagen» fand (Blaubuch Nr. 76); und am nächsten Tag berichtet Sir G. Buchanan, dass der deutsche Botschafter in Petersburg, Graf Pourtalès, «vollkommen zusammenbrach, als er sah, dass der Krieg unvermeidlich wurde». (Blaubuch Nr. 97.)

Ueber die Aufregung des Reichskanzlers hat Sir Edward Göschen in Nr. 160 berichtet. Für jeden Vernünftigen genügen diese Zeichen. Wenn die Männer der deutschen Regierung den Krieg gewünscht hätten, wären sie nicht unglücklich gewesen, als sie ihn unvermeidlich sahen. Sie hätten sich über den Erfolg ihrer Staatskunst freuen müssen, wie Herr Ssasonoff, der lässig sagte: «er sei der beständigen Mühe, die er sich gebe, den Krieg zu vermeiden, vollkommen müde».

Die Verletzung der belgischen Neutralität

Der Autor wendet sich der Verletzung der belgischen Neutralität zu. Er wünscht zunächst die Rechtslage festzustellen und tut dies mit der Sachkunde und Wahrheitsliebe, die wir an ihm kennen. Er erklärt, dass «die Neutralität Belgiens durch den Londoner Vertrag vom Jahre 1839 festgestellt und durch England, Frankreich, Oesterreich, Preussen und Russland für alle Zeiten garantiert worden ist» und verschweigt, dass das Deutsche Reich aus der Zahl der Garantiemächte ausgeschieden war. Die Vertragspflicht Preussens ging auf den Norddeutschen Bund über, und am 26. August 1870 erneuerte sie Bismarck auf eine Anfrage der englischen Regierung, aber nicht mehr als immerwährende Verpflichtung sondern bis zum Ablauf eines Jahres nach dem Abschluss des Krieges. Seit dem 10. März 1872 gehörte das Deutsche Reich nicht, mehr zu den Garantiemächten. Deutschland war Belgien gegenüber in keiner andern Lage als England gegenüber den griechischen Inseln, die es ohne weiteres besetzt hat.

Trotzdem kann man heute fast jede Woche in Blättern der Ententeländer und auch in neutralen Blättern die Lüge lesen, dass das Deutsche Reich einen Vertragsbruch beging, als es die Neutralität Belgiens verletzte. Gegen diese Tatsache oder vielmehr gegen ihre Bedeutung sind verschiedene aber keineswegs stichhaltige Einwendungen vorgebracht worden. So behauptet Professor Munroe Smith in seiner Abhandlung «Das Gewicht der Imponderabilien» (in deutscher Sprache erschienen bei Payot, Lausanne, 1915), im Jahre 1870 wären nur «provisorische Uebereinkommen» abgeschlossen worden, durch die «besondere Verpflichtungen für die Dauer des Krieges vom Norddeutschen Bund angenommen wurden». Wie unrichtig und unexakt dies ist, ergibt sich bereits daraus, dass die Garantie nicht für Kriegsdauer sondern für die Zeit bis zum Ablauf eines Jahres nach dem Ende des Krieges erneuert wurde, so dass von einem etwa auf Kriegsrücksichten beruhenden und auf Kriegsdauer bemessenen Provisorium keine Rede sein kann. Noch unhaltbarer ist die Berufung auf die in den Anlagen zur Note Nr. 12 des belgischen Graubuchs mitgeteilten Aeusserungen des Staatssekretärs von Jagow und des Kriegsministers von Heeringen, «Deutschland denke nicht daran, die durch Verträge garantierte belgische Neutralität zu verletzen». Diese, unbequemen Interpellanten im Reichstag abgegebenen, Erklärungen haben, ob sie nun aufrichtig oder unaufrichtig gewesen sein mögen, mit einer völkerrechtlichen und zwischenstaatlichen Abmachung nichts gemein, sie können Meinungen erzeugen, aber Rechte weder begründen noch ändern. Selbstverständlich sind all dies nur formelle Fragen; zu verstehen und zu entscheiden ist der Vorgang nur aus der tatsächlichen Situation; aber da die Welt nun einmal immer wieder auf diese Fragen zurückkommt, so müssen sie richtiggestellt werden. Da der Verfasser, der sonst keine Gelegenheit, das Deutsche Reich zu schmähen, unbenutzt lässt, diesen Vorwurf nicht erhebt, so ist anzunehmen, dass ihm der Rücktritt des Deutschen Reiches vom Garantievertrag bekannt geworden ist. Soweit, dass er dies ausdrücklich erwähnt hätte, ist seine Loyalität nicht gegangen.

Weiter erklärt er: «Die erste und natürlichste Pflicht eines neutralen Staates ist, kriegführenden Staaten den Durchzug durch sein Land zu versagen.» Schon dieser Satz ist bestritten; es gibt sehr angesehene Völkerrechtslehrer, gleich dem Amerikaner Henry Wheaton, die der Ansicht sind, «der Durchmarsch kann erlaubt oder versagt werden, je nach dem Gutdünken des neutralen Staates», «The passage may be granted or withheld, at the discretion of the neutral State.» Ich bin indessen auch der Meinung, dass diese Anschauung der modernen Auffassung der Neutralität nicht mehr entspricht. Trotzdem bleibt das, was der Verfasser schreibt, – bewusste oder auf seiner Unwissenheit beruhende – Irreführung der Leser; denn wenn es die Pflicht des neutralen Staates ist, den Durchmarsch zu verbieten, so ist es keineswegs seine Pflicht, sich mit den Waffen zur Wehre zu setzen, wenn sein Verbot nicht beachtet wird. Diese Regel ist im natürlichen Interesse der kleinen neutralen Staaten, die bei einer Verteidigung ihrer Neutralität gegen übermächtige Nachbarn sich der Gefahr sofortiger Vernichtung aussetzen würden, selbstverständlich, und die grosse Mehrzahl der Völkerrechtslehrer ist dieser Ansicht. Niemandem wird es etwa einfallen, Luxemburg zur Verantwortung zu ziehen, weil es sich dem deutschen Durchmarsch nicht widersetzt hat. Für Belgien ist dies durch den Wortlaut des Garantievertrages von 1839 selbst festgestellt, dessen in Frage kommender Artikel – X – lautet: «Par une juste réciprocité la Belgique sera tenue d'observer cette même neutralité envers tous les autres Etats et de ne porter aucune atteinte à leur tranquillité intérieure ni extérieure, en conservant toujours le droit de se defendre contre toute aggression etrangre.» «Kraft gerechter Reziprozität ist Belgien verpflichtet, die gleiche Neutralität gegen alle andern Staaten zu wahren, sich keiner Störung, sei es ihrer äussern, sei es ihrer innern Ruhe, zu schulden kommen zu lassen, während ihm stets das Recht gewahrt bleibt, sich gegen jeden fremden Angriff zu verteidigen.» Es ist also ausdrücklich nur von einem Recht, nirgends von einer Pflicht die Rede, und alle Juristen, die über den Garantievertrag geschrieben haben, haben die gleiche Meinung geäussert. Aus der Art, wie der Verfasser schreibt, muss jeder Leser glauben, dass Belgien verpflichtet war, gegen Deutschland zu kämpfen, während dies nicht der Fall war. Und das ist für die Beurteilung der Frage sehr wichtig. Wenn der Autor sich hierüber weiter auf die Artikel der Haager Konvention von 1907 beruft, nach denen der Durchmarsch durch neutrales Gebiet verboten und erklärt wird, dass die Abwehr der Verletzung neutralen Gebiets nicht als feindlicher Akt angesehen werden kann, so täuscht er die Leser wieder, da er verschweigt, dass sowohl Deutschland als auch England diese Artikel nicht genehmigt haben.

` Also was er über die «Rechtslage» sagt, ist falsch und scheint zum Teil bewusste Irreführung zu sein.

Dass die Verletzung der belgischen Neutralität, wie immer die Rechtslage sein mochte, an sich unrechtmässig war, ist gar nicht zu bestreiten und ist auch von deutscher Seite zugegeben worden. Sie war an sich ein Unrecht, kein grösseres und kein geringeres, als später die Verletzung der griechischen Neutralität durch die Entente.

Bekanntlich sagte Herr von Bethmann-Hollweg in seiner Rede vom 4. August 1914, als er das Unrecht zugab: «Not kennt kein Gebot.» Daran knüpft der Verfasser eine Erörterung, die ihn wiederum als schlechten Juristen erweist. Er meint, dass hier von einer Notwehr die Rede sein soll, erklärt lang und breit, was Notwehr nach dem Strafgesetzbuch ist, in welchen Fällen von «Bestürzung, Furcht oder Schrecken die Ueberschreitung der Notwehr straflos bleibe, und dass die Notwehr die Verletzung der Rechte eines Dritten entschuldige». Die Folgerung des Verfassers ist: «Die Notwehr gegen Frankreich konnte nicht die Verletzung belgischer Rechte entschuldigen.»

Wenn man schon auf diese Mätzchen des Autors eingehen will – denn alle strafrechtlichen Begriffe und Bestimmungen können für völkerrechtliche Fragen und Vorgänge höchstens zum Vergleich herangezogen, nie aber direkt auf sie angewendet werden – so kann man nur sagen: es ist bereits juristisch falsch, diese Erörterungen hier anzubringen, tut man es dennoch, so mussten sie wenigstens strafrechtlich richtig sein!

Aber jedem Juristen ist sofort klar, dass hier nicht von «Notwehr», das ist «derjenigen Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen Angriff von sich oder andern abzuwehren», die Rede sein könnte, sondern nur vom Begriff des «Notstandes», das ist «derjenige Zustand, aus dem sich jemand nur durch einen Eingriff in das Recht eines andern retten kann».

Belgien hatte Deutschland nicht angegriffen, dagegen konnte Deutschland sich aus seiner gefährlichen Lage, wie gleich gezeigt werden wird, nur durch einen Eingriff in die Rechte Belgiens retten.

Während die Notwehr fremden Eingriff abwehrt, kommt der Strafausschliessungsgrund des Notstandes dem zu, der, um sich zu retten, einen Eingriff in fremde Rechtsphäre unternimmt. Dieses Recht machte der Reichskanzler geltend.

Soweit das Strafrecht, das der Autor infolge ungenügender juristischer Bildung hier heranzieht und überdies falsch anwendet. Im Völkerrecht gelten ganz andere Rechtsbegriffe und Regeln. Ueber die hier vorliegende Frage schreibt Alphonse Rivier, Professor des Völkerrechts in Brüssel und Lausanne: «Lorsqu'un conflit s'élève entre le droit de conservation d'un Etat et le devoir qu'a cet Etat de respecter le droit d'un autre, le droit de conservation prime ce devoir. Un homme peut être libre de se sacrifier. II n'est jamais permis à un gouvernement de sacrifier l'Etat dont les destinées lui sont confiées. Le gouvernement est donc autorisé et même en certaines circonstances obligé, pour le salut de son pays, de violer le droit d'un autre pays. C'est là l'excuse de la nécessité application de la raison d'Etat. C'est une excuse légitime. On l'appelle aussi le droit de nécessité» (Alphonse Rivier, Principes du droit des gens, I. 277). «Wenn zwischen dem Recht der Selbsterhaltung eines Staates und der Pflicht dieses Staates zur Beobachtung der Rechte eines andern ein Widerstreit entsteht, so geht das Recht der Selbsterhaltung vor. Ein Privatmann mag sich opfern. Einer Regierung ist es niemals gestattet, den Staat, dessen Schicksal ihr anvertraut ist, zu opfern. Sie ist daher berechtigt und in gewissen Fällen sogar verpflichtet, zum Heil des eigenen Staates, das Recht eines andern zu verletzen. Das ist die Entschuldigung der Not, die eine Anwendung der Staatsraison ist. Es ist eine gerechtfertigte Entschuldigung, die man auch das Recht der Not nennt.» Dieses Recht machte der Reichskanzler geltend. In der täglichen Sprache werden die beiden Ausdrücke Not und Notwehr oft gleich gesetzt; der Reichskanzler mochte in seiner Rede den ungenauen Ausdruck gebrauchen; der Autor, der die tatsächliche Lage juristisch zu untersuchen vorgibt, durfte es nicht. Er hatte die Sache richtig zu stellen. Ob er dies absichtlich oder unabsichtlich unterliess, lässt sich, da die Oberflächlichkeit seines Wissens seiner Unehrlichkeit die Wage hält, nicht entscheiden.

Mit der Beurteilung der historischen Vorgänge in dieser tragischesten Frage des Krieges hat seine juristische Spielerei nichts zu tun.

Ich habe die belgische Neutralität und die Fragen, die sich an ihre Verletzung knüpfen, in meiner Schrift: «Die Politik des Dreiverbandes und der Krieg», in den beiden Kapiteln «England und die belgische Frage», «Deutschland und die belgische Neutralität», ausführlich erörtert; der Leser, der loyal die Gründe jeder Seite hören will, kann sich dort informieren; hier soll nur das wichtigste soweit erwähnt werden, als es zur Widerlegung des Autors nötig erscheint.

In seiner Rede vom 4. August hat der deutsche Reichskanzler das Unrecht ehrlich zugegeben; er verschmähte es, das deutsche Vorgehen mit irgend einer Lüge zu verbrämen, etwa wie die Regierungen der Entente bei der Verletzung der griechischen Neutralität den armseligen Vorwand gebrauchten, dass sie «die griechische Verfassung schützen müssten».

Deutschlands Heere mussten nach zwei Fronten und gegen Uebermacht kämpfen. Man hatte Frankreich zweimal die Neutralität angeboten; es hatte sie nicht angenommen, sei es, dass man sich an Russlands Schicksal gebunden fühlte, sei es, dass man es für politisch unklug hielt, Deutschland über Russland siegen und dadurch zu mächtig werden zu lassen, sei es, weil der Krieg Poincaré und seinen Mitarbeitern willkommen war. Die französische Armee, ob an Zahl schwächer als die russische, war dennoch sowohl durch ihre Tüchtigkeit als durch eine unvergleichliche Grenzlage der weitaus gefährlichere Feind. Sie musste daher zuerst niedergeworfen, zum mindesten an einem Einfall in die im äussersten Westen Deutschlands gelegenen Industrie- und Kohlengebiete gehindert werden, ohne die der Krieg überhaupt nicht zu führen war.

Gerade dies aber war eine fast unlösbare Aufgabe. Die Vogesen sind von der französischen Seite in sanftem Anstieg leicht zugänglich, während sie gegen Deutschland steil abfallen; überdies durch eine Kette der stärksten Festungen der Welt gesichert, bilden sie einen natürlichen Schutzwall für Frankreich und zugleich ein strategisches Ausfalltor nach Deutschland.

Mit jener Einfalt, die ihn auf allen Wissensgebieten ziert und die ihm nur dann schwindet, wenn es die Wahrheit zu sagen gilt, schreibt der Autor: «Erforderlich war die Durchquerung Belgiens unter keinen Umständen, denn es stand dem deutschen Heere ja die ganze französische Ostgrenze von Verdun bis Belfort zur Verfügung.»

Einer der ersten englischen Militärschriftsteller, Hilaire Belloc, führte in einem im Mai 1912 im «London Magazine» veröffentlichten Aufsatz unter der Ueberschrift «In case of war», «Im Kriegsfall», aus, dass die französische Grenze unbezwinglich sei, dass an den Vogesen und aus der gewaltigen Festungskette hinter ihnen jede deutsche Offensive zerschellen müsste, oder doch nur unter schrecklichen Opfern und mit verhängnisvollem Zeitverlust durchbrechen könnte. Dagegen sei die französische Grenze gegen Belgien nur durch minderwertige Festungen gesichert, auch schwere natürliche Hindernisse sind dort nicht vorhanden. Dafür liegt das neutrale Belgien vor, das gerade an seiner deutschen Grenze mächtige Befestigungen errichtet hat. Wörtlich sagt Belloc: «Die strategische Grenze Frankreichs fällt im Norden nicht mit seiner politischen Grenze zusammen ... die strategische Grenze Frankreichs ist die Maas.»

Bei dieser Lage der Dinge, schliesst der Engländer, wird Deutschland im Kriegsfall den Versuch machen müssen, Frankreich auf dem Wege über Belgien anzugreifen. Er schreibt wörtlich: «Wir wollen es zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen machen, dass die Deutschen die Maas bei Lüttich übersetzen wollen und müssen.» «Let us take it as our starting-point that the Germans would and must try to get across the Meuse at Liège.»

Die weiteren Ausführungen Bellocs über den Verlauf, den nach seiner Ansicht der belgische Feldzug nehmen würde, kommen hier nicht in Betracht. Und dass er nebenbei bemerkt, dass solch ein Feldzug «verräterisch» wäre und «nicht zu befürchten stünde, wenn die deutsche Regierung die Verträge heilig hielte», beweist nur, dass auch ihm nicht bekannt ist, dass Deutschland längst nicht mehr durch Vertrag gebunden war, die belgische Neutralität zu achten. Die militärische Notwendigkeit für Deutschland durch Belgien zu marschieren bestreitet Belloc nicht, er bemüht sich vielmehr sie nachzuweisen.

Wie recht er hatte, zeigt der Gang des Krieges, in dem die Vogesen trotz allen deutschen Siegen noch immer unbezwungen sind. Wäre die deutsche Armee nur gegen diese Grenze gerückt, so hätten zum mindesten die russischen Heere inzwischen ganz Deutschland überflutet, – was dem «deutschen» Autor, der «J'accuse» schrieb, offenbar gleichgültig ist.

Man könnte jene Argumente allenfalls gelten lassen, wenn Deutschland den Krieg wirklich leichtfertig hervorgerufen hätte; es ist aber hinreichend dargelegt worden, dass dies nicht der Fall war, dass alles, was der Autor anführt, um diesen Glauben zu erzeugen oder zu erhalten, auf Unkenntnis und vielfach auf Fälschung beruht, dass Deutschland zum Kriege gezwungen worden ist.

Der Autor vergleicht, genau wie es Mr. Asquith im englischen Parlament tat, die korrekte Haltung Frankreichs gegenüber Belgien mit der Deutschlands. Bekanntlich antwortete Frankreich auf die englische Anfrage, wie es sich der belgischen Neutralität gegenüber verhalten werde, «es denke nicht daran, sie zu verletzen». Sehr tugendhaft! Frankreich, dem die Lage der Dinge den grössten Vorteil bot, dem die belgische Neutralität eine Armee und Festungen sparte, dessen «strategische Grenze an der Maas lag», konnte leicht versprechen, seinen eigenen Grenzschutz zu achten. Dass die Deutschen kein Versprechen abgeben konnten, da die Achtung der belgischen Neutralität für sie Selbstmord gewesen wäre, ist ebenso klar. In früheren Zeiten, als Frankreich noch kein Interesse an der belgischen Neutralität hatte, da haben auch die französischen Staatsmänner anders gesprochen.

Aber auch die englischen Staatsmänner dachten keineswegs immer wie im Jahr 1914.

Als im Jahr 1887, zur Zeit des Generals Boulanger, zwischen Deutschland und Frankreich Krieg auszubrechen drohte, da schrieb der «Standard», das Organ des damaligen Premiers Lord Salisbury: «Wenn die deutschen Armeen sich in ihrer Offensive durch die wundervolle Verteidigungslinie wirksam aufgehalten sähen, die Frankreich geschaffen hat, sollten der Fürst Bismarck und die höchstkommandierenden Generäle, die unter seiner Leitung vorgehen würden, geneigt sein, ihre Pläne scheitern zu sehen, wegen der durch einen europäischen Vertrag garantierten Unverletzlichkeit Belgiens? ... Es besteht ein ungeheurer Unterschied zwischen einer zeitweiligen Ausnützung des Durchzugsrechtes, auch wenn man zugibt, dass dieses Recht in gewissem Sinn ungesetzlich ist, und einer Besitzergreifung von dem Gebiet, auf das dieses Recht sich erstreckt. Wenn Deutschland – und das gleiche gilt natürlich von Frankreich – uns sagen würde: wir wollen die Unabhängigkeit Belgiens achten und geben euch die feierlichste und formellste Bürgschaft, dass das Land am Ende des Krieges frei und unabhängig bleiben wird wie vorher, dann kann nicht der geringste Zweifel darüber sein, welcher Weg für England der vernünftigste und praktischeste wäre, und welche Antwort die englische Regierung geben würde. England wünscht seinen wahren Pflichten sich nicht zu entziehen, aber Wahnsinn wäre es von unserer Seite, uns ohne stichhaltigen Grund in Verantwortlichkeiten zu stürzen und uns in einen schrecklichen Krieg verwickeln zu lassen.» So schrieb der konservative Standard am 4. Februar 1887; das gleiche schrieb W. T. Stead, damals Leiter der liberalen Pall Mall Gazette; und noch weiter ging der Liberale Sir Charles Dilke in der «Fortnightly Review» (s. S. 274).

Damals war England eben noch mit Deutschland befreundet, und an eine Einkreisung war noch nicht gedacht worden. In dem Garantievertrag sah weder die Regierung noch die Opposition irgend bindende Verpflichtungen; wenn also im Jahr 1914 die Sache anders angesehen wurde, so waren jetzt andere Interessen und Freundschaften ausschlaggebend, oder, wenn England Verpflichtungen hatte, dann müssen eben andere Abmachungen vorgelegen sein.

Bekanntlich haben die deutschen Behörden nachträglich in den Brüsseler Archiven Beweise dafür gefunden, dass die belgische Regierung sich keineswegs neutral und loyal verhalten hatte. Wenn der Autor mit Spitteler die selbstverständliche Veröffentlichung dieser Beweise, «einen Dokumentenfischzug in den Taschen des zuckenden Opfers» nennt, so wiederholt er nur, was schon vorher nichts als eine klingende Phrase war. Es handelt sich nicht um das belgische Volk, das jeder bedauern muss, sondern einzig und allein um Handlungen der belgischen Regierung. Nachdem fast die ganze Welt in unüberlegtester Weise auf Grund ungeprüfter Nachrichten und ganz ungründlicher Informationen aus der ersten Gemütswallung heraus gegen Deutschland Anklage erhoben und sofort Partei genommen hatte, sollte die deutsche Regierung nicht zeigen, wie unerhört sich die andern verhalten hatten? Die belgische, französische und englische Regierung hatten eine in ihren Folgen für Belgien selbst furchtbare Komödie aufgeführt – und die sollte die deutsche Regierung nicht aufdecken, sobald sie die Karten der unredlichen Spieler in der Hand hatte?

Die Tatsachen, auf die es mir wesentlich anzukommen scheint, sind die folgenden:

In dem wichtigsten Dokument, dessen Authentizität so wenig wie die der andern irgend zu bezweifeln ist – sonst hätte die belgische Regierung sich darüber geäussert – um so weniger, als auch Emile Waxweiler es in seinem bekannten Buch «La Belgique neutre et loyale» abdruckt, werden die englischen und belgischen Truppen vom belgischen Generalstab, General Ducarme, bereits im Jahre 1906 als «forces alliées», als «verbündete Truppen» bezeichnet. Von einer Reihe wichtigster Fragen, wie der des Landungsplatzes, der Truppenstärke und Gattungen, der zu benützenden Eisenbahnlinien und andern, heisst es in dem Bericht, dass sie »règlées» oder «arrètées», das heisst «erledigt» oder «abgemacht» sind. Dann heisst es weiter: «Andere Fragen zweiten Ranges wurden gleichfalls erledigt, vornehmlich was die vermittelnden Offiziere, die Uebersetzer, die Gendarmen, die Karten, die Albums der Uniformen, ins Englische übersetzte Separatabdrücke gewisser belgischer Reglements usw. betraf.» «D'autres questions secondaires furent également règlées, notamment en ce qui regarde les officiers intermédiaires, les gendarmes, les cartes, les albums des uniformes, les tirés à part, traduits en anglais, de certains règlements belges.» Und damit wir über den Sinn des Wortes «erledigt», «règlées» nicht im Zweifel bleiben können, folgt die Bemerkung, dass über eine andere Frage, die die Presse betraf, nichts «abgemacht», «arrêté» wurde.

Sowohl Waxweiler als Baron Beyens, in einer neuerlichen, im März 1917 publizierten Erklärung der belgischen Regierung reiten darauf herum, dass die Ueberschrift der fraglichen Akten die «Conversations», «Besprechungen» lautete, von der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung mit «Abmachungen» – was «Conventions» hiesse – übersetzt wurde.

Da bei der Unterredung eine Reihe von Fragen abgemacht, «règlées» und «arrêtées» wurden, der Inhalt also Abmachungen enthielt, was bedeutet daneben die Ueberschrift? Wo hören für einen neutralen und loyalen Minister die Besprechungen auf und wo fangen die «Abmachungen» an? Wenn die deutsche Uebersetzung kein Irrtum, sondern Absicht gewesen wäre, sie hätte doch nur dem Kinde den rechten Namen gegeben; sinngemäss war sie völlig richtig.

Da im Besitz gefangener oder gefallener englischer Offiziere ein auf Grund des gelieferten Materials verfasste vierbändiges Werk unter dem Titel «Belgium, Road and River Reports prepared by the General Staff, War Office, 1912–1914» gefunden wurde, versuchte Waxweiler die ungeschickte Erklärung: «warum soll die englische Regierung nicht auch ihre Spione in Belgien gehabt und sich die Karten und Instruktionen verschafft haben?»

Wem wollte er die Naivität zumuten, zu glauben, dass die Engländer sich in die Schwierigkeiten und Unkosten der Spionage gestürzt hätten, nachdem die Lieferung der Karten und Instruktionen ohnedies mit dem belgischen Generalstabschef abgemacht war?

Wenn darauf eingewendet wird, all dies sei nur für den Fall eines deutschen Angriffs abgemacht worden, so erwidern wir, dass wir ja eben darin den Neutralitätsbruch sehen, dass das «Bündnis» sich nur gegen Deutschland richtete, dass keinerlei Abmachungen mit Deutschland für den Fall einer englischen Landung getroffen wurden. Mit der Auslieferung des Materials wurde nicht bis zum Neutralitätsbruch gewartet – oder vielmehr mit dieser Lieferung, wie übrigens bereits mit diesen Abmachungen, war die Neutralität schon gebrochen, aber von Belgien! Dass es der deutschen Regierung geheim blieb, soll das eine Entschuldigung der belgischen Regierung sein? Was würde die öffentliche Meinung der Schweiz sagen, wenn der schweizerische Generalstab, weil er in einem möglichen Krieg die Verletzung der Schweizer Grenze fürchtet, er schon jetzt der andern Seite die Schweizer Geheiminstruktionen und Generalstabskarten ausliefern und mit ihr Abmachungen treffen würde?

Acht volle Jahre vor der Verletzung der Neutralität durch die deutschen Heere, im April 1906, wurden diese Abmachungen bereits getroffen! Welche Aenderungen der politischen Lage waren in dieser Zeit nicht alle möglich!

Waxweiler versucht noch einen armseligen Gegenbeweis: er sagt, dass eine belgische Generalstabsreise an der flandrischen Küste unternommen worden sei, um Massnahmen gegen eine angenommene englische Landung zu studieren! Und er fragt, ob England darin den Beweis für ein Einverständnis mit Deutschland hätte sehen können. Gewiss nicht! Die Nationalität einer imaginären Flotte ist eben schwer festzustellen. Auch wir hätten gegen Lieferung der Karten an einen imaginären Generalstab statt an den englischen nichts einzuwenden gehabt. Die Truppen, deren Landung, deren Transport, – unter Bestellung belgischer Offiziere als Führer, – deren Verpflegung und Verwendung der Oberst Barnardiston mit dem General Ducarme «besprach», waren nicht imaginärer Natur. Darin, dass Belgien mit England militärische Aktionen gegen Deutschland «besprach», während es sich England gegenüber mit einer fragwürdigen «Studienreise» begnügte, liegt ja eben der Bruch der Neutralität.

Die illoyale und unneutrale Handlungsweise der belgischen Regierung liegt darin, dass, als die englische Regierung einzumarschieren erklärte, um einem deutschen Neutralitätsbruch zuvorzukommen, man ihr ein Bündnis zusagte und ihr die Karten auslieferte, und als die deutsche Regierung am 2. August 1914 genau das gleiche erklärte, das Bündnis sofort in Aktion trat und man ihr mit den Waffen begegnete. Ueber dieses entgegengesetzte Vorgehen kommt keine Verteidigung hinweg!

Die Erklärung des Verhaltens der belgischen Regierung ist sehr einfach; sie durfte mit Deutschland keine Abmachungen treffen, wie eine loyale Neutralität es verlangt hätte, auch wenn sie gewollt hätte!

Man nehme an, die Sache wäre umgekehrt gewesen: die belgische Regierung hätte all diese Abmachungen mit Deutschland getroffen, sie hätte, wie es noch vor wenigen Jahrzehnten in der Tat der Fall gewesen war, französische Pläne, und zwar nicht nur den Durchmarsch fürchten müssen; man weiss, wie gerne Napoleon III. Belgien genommen hätte. Glaubt irgend jemand wirklich, dass England und Frankreich einverstanden gewesen und freudig erklärt hätten: «Sobald ihr hinzufügt, dass alles geschehe nur um der Neutralität willen und nur um künftigen Verletzungen vorzubeugen, dann waren eure Besprechungen, wie detailliert sie sein und den Einmarsch deutscher Truppen vorbereiten mochten, ganz in Ordnung und im Einklang mit den internationalen Verträgen.» Glaubt man wirklich, dass die englische und französische Regierung dies zugegeben hätten? Wenn nun noch die belgische Regierung überdies durch die deutsche zu starken militärischen Rüstungen und zu einer Befestigung der französischen Grenze gedrängt worden wäre, was hätten die englische und die französische wohl zu dem allem gesagt? Dass dies geschehen ist – nur in umgekehrter Weise, durch England und Frankreich gegen Deutschland – das ist durch den unverdächtigsten aller Zeugen, den belgischen Abgeordneten Louis de Brouckère festgestellt worden, der in der «Neuen Zeit» im Juli 1914 wörtlich schrieb:

«Schon wenige Tage nach den Wahlen (von 1912) gab man den dringenden Vorstellungen Frankreichs, Englands und zweifellos auch Russlands nach, und Herr de Brocqueville brachte einen Gesetzesentwurf ein, der die allgemeine Wehrpflicht einführte» ... «Unsere Feldarmee ist nach dem Befehl der Triple-Entente, die sich zur Beschützerin unserer Besitzungen aufgeworfen hat, auf die Stärke von 150,000 Mann gebracht worden» ... «Morgen wird uns vielleicht England, das nur bei sich den Militärdienst als lästig ansieht, wieder zur Erfüllung unserer Verpflichtungen auffordern» » ... «Wir müssen nach den Befehlen der Triple-Entente tanzen, tanzen bis zum Tode!»

Klarer könnte kaum gesagt werden, auf welcher Seite und in welchem Dienste die belgische Regierung rüstete. Und mit tragischer Voraussicht des kommenden Geschicks!

Man beachte und vereine alle Elemente: das Land war durch seine Lage eine Aufmarschsicherung für Frankreich und England: seine Festungen verteidigten ihre Grenzen; es bildete einen Teil ihrer strategischen Berechnungen. Seine Regierung hatte mit beiden Abmachungen getroffen, diese seine strategische Lage zu ihren Gunsten noch zu stärken. Abmachungen, die unbedingt und einseitig gegen Deutschland gerichtet waren (denn Abmachungen gegen einen etwaigen englischen oder französischen Durchmarsch waren nicht getroffen worden); es hatte auf den Wunsch dieser beiden Länder ausserordentliche, ebenso einseitig gegen Deutschland gerichtete Rüstungen vorgenommen; die Sympathien der Bevölkerung und der Presse waren auf französischer Seite – ja, was sollte und konnte denn gegen das Wesen und den Geist der belgischen Neutralität eigentlich noch mehr geschehen?

Was schreibt Professor Waxweiler auf Seite 59 seines Werkes? «Aussitôt qu'un état se place ou se laisse placer sous la protection d'un autre, aussitôt qu'il accepte ou ne refuse pas l'action systématique de l'autorité ou de l'influence d'un autre dans quelque domaine qu'elles se manifestent, il cesse de réunir les éléments essentiels de la neutralité.»

Damit hat er die ganze Frage entschieden und seine Ausführungen selbst widerlegt.

Wenn der Autor – wie viele andere vor ihm – hiezu bemerkt, dass das Unrecht, das Deutschland beging, hiedurch nicht gerechtfertigt werde, weil man am 2. und 4. August von alledem in Deutschland keine oder höchstens sehr unbestimmte Kunde hatte, so ist das wohl richtig. Aber auch die Schuld der belgischen Regierung wird nicht dadurch geringer, dass auch Deutschland eine beging, die durch seine Lage mehr oder minder gerechtfertigt wird. Es ist auch ohne weiteres zuzugeben, dass die Notlage Deutschlands von Belgien nicht berücksichtigt zu werden brauchte. Wenn die belgische Regierung sagte: «eure Lage ist uns gleichgültig, wir lassen euch nicht herein, und wenn ihr dennoch kommt, so vereinigen wir unsre Armee mit denen eurer Feinde», so war dies nicht freundschaftlich und nicht klug gehandelt, aber es war ihr gutes Recht; oder vielmehr, es wäre ihr Recht gewesen, wenn nicht die geschilderten Machenschaften die loyale Neutralität der belgischen Regierung in einem so trüben Licht erscheinen liesse, wenn die Vereinigung nicht schon viel früher Tatsache gewesen wäre. Der von der deutschen Regierung damals ausgesprochene Verdacht, dass, wenn Deutschland nicht durch Belgien ging, Frankreich oder England früher oder später durch Belgien marschiert wären, um dem vor den Vogesen kämpfenden deutschen Heer in die Flanke zu fallen, wird durch all dies aufs höchste gerechtfertigt, wenn nicht schon die ausdrückliche Ankündigung durch Lord Roberts und die an die holländische Regierung gestellten Ansinnen für diesen Verdacht genügt hätten. Wer wagt nach diesen Abmachungen zu verbürgen, dass die belgische Regierung gegen den Einmarsch der «forces alliées» mehr getan als Protest erhoben hätte, wie es Herr Venizelos tat? Und vor allem haben diese Abmachungen eine ausserordentliche Bedeutung für die richtige Beurteilung der englischen Politik und des Verhaltens der englischen Regierung, als diese wegen Belgiens den Krieg erklärte.

Auf die Ausführungen des Verfassers über den belgischen Volkskrieg und seine Unterdrückung durch die deutsche Heeresleitung gehe ich nicht ein. Oberflächliches und pathetisches Gerede gleich dem des Autors über so tragische Ereignisse widerstrebt mir durchaus. Es ist klar, dass man über diese Dinge nur auf Grund gewissenhaftester Prüfung der Tatbestände schreiben darf, und das heute vorliegende Material ist so umfangreich, dass die Erörterung einen eigenen Band füllen müsste. Um nur die wichtigsten Veröffentlichungen und was mir im Augenblick zur Hand ist zu nennen: das erste und zweite belgische Graubuch; das deutsche Weissbuch vom 10. Mai 1915 «Die völkerrechtswidrige Führung des belgischen Volkskrieges» (328 Seiten); das belgische Graubuch von 1916 «Réponse au livre blanc du 10 mai 1915» (507 Seiten); «Report of the Committee on alleged German Outrages» London 1915 und «Evidence and Documents laid before the Committee on alleged German Outrages» London 1915 (296 Seiten); Paul Rohrbach «Massenverhetzung und Volkskrieg in Belgien» mit zahlreichen Facsimiles aus der belgischen Presse, Berlin 1916; L. H. Grondijs «Les Allemands en Belgique» Paris 1915; Eugen Probst «Belgien, Eindrücke eines Neutralen» Zürich 1916; J. O'Donnell-Bennett «Open letter to Sir A. Conan Doyle» usw. Die Entscheidung bei Zeugnissen, die, wie es in erregten Zeiten häufig ist, einander aufs schärfste widersprechen, ist schwierig. Aber wer diese Dokumente gewissenhaft und mit juristischer Erfahrung prüft, wird zwar nicht zweifeln, dass in einigen Teilen Belgiens sich sehr traurige Dinge ereignet haben; er wird aber auch erkennen, dass in den Berichten darüber unglaublich gelogen und hundertfach übertrieben wurde. Furcht und Hass sind eben zu allen Zeiten die schlimmsten Lügner und die unverlässlichsten Zeugen gewesen. Und vor allem wird er erkennen, dass das Schlimme, was geschah, in furchtbarster Weise herausgefordert wurde. Was von der belgischen Regierung dagegen vorgebracht wurde, wird durch die gleichzeitigen Berichte geradezu aller belgischer und auch italienischer Zeitungen und durch die Erlasse belgischer Behörden Lügen gestraft. Damit wird aber ihre Glaubwürdigkeit auch in den andern Punkten erschüttert. Dies nur, um Stellung zu nehmen; der Leser begreift, dass ich auch meine Behauptungen beweisen müsste, und dass dies viel zu weit führen würde. Mit der Entstehung des Krieges und mit der Frage der Schuld am Kriege haben diese Dinge jedenfalls nichts zu tun.

Wenn der Autor hier den Einfall hat, an frühere Volkskriege zu erinnern, so schlägt er nur sich selbst; denn wie immer man über die kämpfenden Bevölkerung und ihre Behandlung denken mag, es beweist, dass die kämpfenden Heere in der gleichen Zwangslage sich immer nur durch das gleiche Verfahren zu helfen wussten, so die Franzosen in Tirol und Spanien, die Engländer im Transvaal.

 

Am Schluss des Abschnittes wiederholt der Autor sein Narrenspiel mit den Anklagepunkten und dem von ihm über Deutschland gefällten Schuldspruch. Da diese Anklagen nur Wiederholungen der hier erörterten Dinge sind, so erspare ich mir, auf sie besonders einzugehen.

Nur auf einen Punkt sei verwiesen, weil er wieder die vollkommene Gedankenlosigkeit, mit der der Autor schreibt, ins helle Licht setzt. Punkt 3 lautet: «Deutschland hat mit der Anregung der Lokalisierung des Krieges den Schein einer Friedensvermittlung erweckt, deren Aussichtslosigkeit ihm aus der historisch-diplomatischen Geschichte und noch zuletzt aus der Balkankrisis bekannt sein musste und nach den Zugeständnissen des Weissbuches tatsächlich bekannt war.» Abgesehen davon, dass die Lokalisierung, wenn der Entente am Weltfrieden irgendwie gelegen war, das Selbstverständlichste der Welt war, bewiesen ja gerade alle bisherigen Balkankrisen – denn welche der Autor meint, sagt er nicht – im Gegenteil, dass sie möglich war, denn sonst wäre der Weltkrieg ja schon früher ausgebrochen!


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