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VI. Frankreich und Russland

In den folgenden Seiten verliert der Autor zunächst, wie so oft, den Faden, sein unleugbares Temperament hüpft mit ihm davon, und mit dem vollkommenen Mangel an Gedankendisziplin, den er an jeder Stelle seines Buches verrät, erörtert er auf einmal die Frage, wofür Deutschland eigentlich kämpfe, schweift dann zu längerer, unendlich banaler Kritik der innern Zustände Deutschlands ab, versichert, dass Deutschland Frieden und freie Entwicklung auch ohne Krieg – natürlich durch die Annahme der so gut gemeinten englischen Vorschläge – hätte haben können und merkt gar nicht, dass er die Beweise erst noch erbringen muss, dass Deutschland im Sommer 1914 den Krieg gewollt hat, was er doch nach seinem eigenen Programm erst im zweiten Teil des Buches tun will. Denkerhaft wie dieser Kopf nun einmal veranlagt ist, stört ihn der circulus vituosus durchaus nicht, mit dem er hier, wie an vielen andern Stellen des ersten Teiles die Schuld von 1914 aus der bösen Absicht früherer Jahre und diese böse Absicht der früheren Jahre wieder durch die Schuld von 1914 erhärtet. Wir folgen ihm auf diesem Wege nicht: alle Fragen, die die tatsächliche Eröffnung des Weltkrieges im Sommer 1914 betreffen, werden dort, wo sie hingehören, bei der Besprechung der Ereignisse des Sommers 1914, erörtert werden. Hier im ersten Teil ist es nur meine Aufgabe, zu zeigen, dass der Autor bereits von der Vorgeschichte teils gar keine, teils ganz ungenügende Kenntnis hat und sie, wo es angeht, fälscht.

Er kommt zur Frage, ob Frankreich Deutschland angreifen wollte, und versichert gläubigen Lesern, dass die Revanche-Ideen sich in Frankreich in den letzten zwanzig Jahren «zu einem Schattenbild verflüchtigt hätten», dass überzeugte Friedensfreunde, wie Baron d'Estournelles de Constant und andere, immer mehr Einfluss auf die öffentliche Meinung gewannen usw. Und so beispiellos liederlich ist seine Schreiberei, dass er unter diesen Männern auch den bereits vor zwanzig Jahren im höchsten Greisenalter verstorbenen Jules Simon, – Mitglied der Nationalversammlung von 1848, zuletzt Minister unter Thiers und Mac-Mahon! – nennt; er erwähnt dann einige Reden von Jaurès und einige offizielle deutschfranzösische Freundlichkeiten, gibt allerdings zu, dass seit dem Beginn des Marokkostreites im Jahre 1905 wieder eine gereizte Stimmung gegen Deutschland sich zu zeigen begann. Aber an dieser Spannung ist Deutschland durch sein Verhalten im Marokkostreit schuld, weil es durch die Kaiserreise nach Tanger, durch die Entsendung des Panthers nach Agadir die empfindlichen Franzosen herausforderte. Wie es sich mit diesen «Herausforderungen» in Wirklichkeit verhielt, ist in dem vorhergehenden Abschnitt zur Genüge klargelegt worden.

In der Tat liegen die Dinge aber überhaupt anders. Wohl wird niemand, der Frankreich kennt, leugnen, dass der Revanchegedanke im Lauf der Jahrzehnte nach dem Krieg abzuflauen begonnen hatte. Völker können nicht in einem dauernden Paroxysmus von Hass und Wut leben: das ist psychologisch unmöglich. Je mehr die Generation, die den Krieg erlebt hatte, ausstarb oder älter wurde, desto mehr nahm die Rachgier ab und vernünftige Leute gewannen Einfluss. Dennoch war sie nie ganz verschwunden, dafür war der französische Nationalstolz zu gross, der Schmerz über die Niederlage zu tief und wirklich. «Pour un rapprochement vrai et durable», schreibt Baron Greindl am 1. Juli 1907, «il faudrait ne plus penser à la revanche et il n'y a pas un Français, même les plus sages et les plus pacifiques, qui n'en conserve l'espoir au fond du coeur». «Um eine wahre und dauernde Annäherung zu ermöglichen, müsste der Gedanke an die Revanche aufhören, und es gibt keinen Franzosen, und wären es die vernünftigsten und friedlichsten, der nicht diese Hoffnung im Grund seines Herzens bewahrte.» Das mag übertrieben sein. Aber auch der französische Historiker Albert Pimgaud spricht in seinem bereits erwähnten Werk vom Dreibund als einem Hindernis «für die Verwirklichung der teuersten Hoffnungen Frankreichs». Da ich durch eine Reihe von Jahren Mitglied des ›Comité pour le rapprochement intellectuel franco-allemand‹ war, so sind mir gerade diese Verhältnisse genau bekannt. Im Oktober 1912 nahm ich an einer Sitzung im Café de la Régence in Paris teil, in der die elsass-lothringische Frage erörtert wurde, und bei der sich zeigte, wie sehr diese Frage im Mittelpunkt stand, wie sie die Verständigung erschwerte und diesem Kreis friedlich, ja deutsch freundlich gesinnter Männer – es waren ihrer nicht allzuviele – die Propaganda im eigenen Lande kaum möglich machte. Als die erste Friedenskonferenz im Haag zusammentrat, erklärte die ganze Pariser Presse, dass zu einer wirklichen Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich erst eine Revision des Frankfurter Friedens stattfinden müsste. Und niemals ist in den letzten vierundzwanzig Jahren trotz allen Bemühungen der deutschen Regierung die Notierung deutscher Wertpapiere an der Pariser Börse gestattet worden.

Trotzdem ist nicht zu leugnen, dass die Heftigkeit der Revanchestimmung abnahm, und es kann keine Frage sein, dass der weitaus grössere Teil des französischen Volks, des Bürgertums wie der Landbevölkerung, mehr noch die Arbeiter, wie immer sie gegen Deutschland fühlen mochten, friedlich gesinnt waren und diesen Krieg nicht gewollt haben. Wer Frankreich in den letzten Jahren kannte, wird dies ebenso ehrlich zugeben, wie es Baron Beyens in seinem schon erwähnten Werk «L'Allemagne avant la guerre» vom deutschen Volk zugegeben hat.

Aber es ist auch keine Frage, dass der Revanchegedanke im Lauf des letzten Jahrzehnts wieder zu erwachen und zuzunehmen begann und von der herrschenden Schicht und den ihnen nahestehenden Blättern mit allen Mitteln geweckt und gereizt wurde, mit Schriften, mit Zeitungsartikeln, mit Armeefanfaren und Theaterstücken. Und wer, wie der Autor von sich selbst erzählt, in den letzten Jahren in Frankreich war und von diesen Dingen nichts wissen will, der ist entweder als ahnungsloser Tor dort gewesen, oder er fälscht. Und das tut der Autor, denn er verrät sein Wissen durch die Bemerkung, dass «gewisse chauvinistische Boulevardblätter, die durch die Hetze ihr tägliches Brot verdienen, mit Jaurès unzufrieden waren». Und er fälscht auch, indem er verschweigt, dass diese Blätter führende Zeitungen waren, wie der «Matin», der «Temps», das «Journal» und andere Blätter von ungeheuren Auflagen und ausserordentlichem Einfluss, die wieder und wieder von Hass und Hohn triefende Artikel brachten, und nicht bloss kleinere Hetzblätter, wie etwa «La Presse» oder «La Patrie», wie seine Bemerkung den Lesern vortäuschen will. Und er belügt die Leser wiederum, wenn er von ähnlichen deutschen Blättern spricht, die «durch die Hetze ihr tägliches Brot verdient hätten», denn während es in Frankreich die grössten und meistgelesenen Zeitungen waren, wird man in keinem der grossen deutschen Blätter im Jahr auch nur einen so wüsten Artikel gegen Frankreich finden können, wie deren in jenen grossen französischen Zeitungen so viele gegen Deutschland erschienen, – in den meisten deutschen Blättern überhaupt keinen. Im Gegenteil, man warb um Frankreichs Sympathie.

Gerade vom Ausgang der Dreyfussaffaire, die nach den Worten des Verfassers, die «Mächte der Finsternis», die «Begünstiger einer Kriegspolitik» beseitigt hätte, nahm diese Bewegung ihren Anfang. Denn gegen den Block der radikalen Parteien, der im Dreyfusskampf gesiegt hatte, erhob sich zunächst aus innerpolitischen Gründen, die hier zu weit führen würden, alsbald eine starke nationalistische Opposition, die von Jahr zu Jahr an Macht zunahm, und endlich im Jahr 1912 mit der Wahl Poincarés zur Herrschaft kam. Und es war die Begründung und die steigende Macht der Triple-Entente gewesen, die die Hoffnung auf die Revanche und auf die Wiedergewinnung Elsass-Lothringens neu belebt und dadurch den Nationalisten immer mehr Anhänger und zuletzt – zumeist durch neue Gruppierungen – den Sieg verschaffte. Jeder Mensch, der die politische Entwicklung in Frankreich verfolgt hat, weiss dies.

Als Herr Poincaré zum Präsidenten der Republik gewählt wurde, brachten Pariser Blätter in Riesenlettern auf ihrer ersten Seite den Satz: «Poincaré, c'est la guerre!» Das ist heute vergessen, aber darum ist es nicht weniger wahr. «M. Poincaré est Lorrain et ne manque aucune occasion de le rappeler; il fut le collaborateur et l'instigateur de la politique militariste de M. Millerand», «Herr Poincaré ist Lothringer, und er lässt keine Gelegenheit vorübergehen, daran zu erinnern; er ist der Mitarbeiter und der Urheber der militaristischen Politik Herrn Millerands gewesen», schreibt der belgische Gesandte in Paris, Baron Guillaume, in einer Note an den Minister des Aeussern, Herrn Davignon, vom 14. Februar 1913. «Die Anwesenheit Herrn Poincarés im Elysee ist eine Gefahr», schrieb er wenige Tage später. «Unter seiner Ministerpräsidentschaft sind die militaristischen und leicht chauvinistisch gefärbten Instinkte des französischen Volkes wiedererweckt worden.» Und am 17. April des gleichen Jahres: «Ich habe schon mehrfach die Ehre gehabt, es Ihnen zu sagen: die öffentliche Meinung in Frankreich wird immer chauvinistischer und unbesonnener. Man müsste Massregeln ergreifen, um dieser Strömung Einhalt zu gebieten, die die Regierung seit den Zwischenfällen von Agadir und seit der Bildung des Ministeriums Poincaré-Delcassé wirklich gefördert hat.» Deutlicher noch sind Stellen aus noch späterer, aus allerletzter Zeit, Depeschen, die ich um ihrer Wichtigkeit willen im Original anführe. So in der Note vom 16. Januar 1914 : «J'ai déjà eu l'honneur de vous dire que ce sont MM. Poincaré-Delcassé-Millerand et leurs amis qui ont inventé et poursuivi la politique nationaliste, cocardière et chauvine dont nous avons constaté la renaissance. C'est un danger pour l'Europe – et pour la Belgique. J'y vois le plus grand péril qui menace aujourd'hui la paix de l'Europe, non pas que j'aie le droit de supposer le Gouvernement de la République dispose de la troubler de propos délibéré – je crois plutôt le contraire – mais parce que l'attitude qu'a prise le cabinet Barthou est selon moi, la cause déterminante d'un surcroît de tendances militaristes en Allemagne.» «Ich hatte schon die Ehre, Ihnen zu sagen, dass es die Herren Poincaré, Delcassé, Millerand und deren Freunde sind, die die nationalistische, in Abzeichen schwelgende und chauvinistische Politik erfunden und verfolgt haben, deren Wiederauferstehen wir beobachtet haben. Diese Politik ist eine Gefahr für Europa, – und für Belgien. Ich sehe in ihr die grösste Gefahr, die heute den europäischen Frieden bedroht; nicht dass ich das Recht hätte, von der Regierung der Republik anzunehmen, dass sie diesen Frieden mit voller Absicht zu stören gedenkt – ich glaube eher das Gegenteil – sondern weil die Haltung des Kabinets Barthou meiner Ansicht nach der bestimmende Grund für eine Zunahme militaristischer Tendenzen in Deutschland ist.»

Ganz ähnlich hatte sich ein Jahr vorher der deutsche Botschafter in Paris, Herr von Schoen, ausgesprochen. Und in der Tat, soweit im Deutschen Reich in den letzten Jahren eine kriegsahnende und kriegsbereite Stimmung bestand, ist sie durch die wilde Hetze der französischen und englischen Presse hervorgerufen worden. Die drohende Einkreisung war nur wenigen bewusst; dazu war eine Kenntnis der Vorgänge der äussern Politik erforderlich, die sich in der Regel der Beobachtung entziehen, aber die Haltung der Pariser Presse wurde vielen bekannt. Gewiss, es war nur eine Schicht, die diesen Ton führte, aber sie führte ihn laut und drohend genug, dass jeder, der Ohren hatte, ihn hören konnte. Auch Baron Guillaume sagt in der gleichen Depesche, dass es nur eine kleine Zahl von Franzosen sei, die diesen Feldzug betreibe. Schon vor vielen Jahren hat John Stuart Mill in seinem Werk «On representative Government» – einem der besten politischen Bücher, das viel mehr gelesen werden sollte – dargelegt, dass politische Wandlungen nicht dadurch entstehen, dass ein Volk seine Anschauungen ändert, denn der grösste Teil eines Volkes verhält sich politisch passiv, sondern dadurch, dass eine neue Schicht oder Gruppe aktiv wird und durch die Energie ihrer Betätigung Einfluss gewinnt und die andern beherrscht oder mitreisst: durch die Presse, durch Redner wird eine neue Stimmung verbreitet, und in erregten Tagen kann eine Hand voll Menschen das ganze Volk in Bewegung setzen. Wer die Leute in Frankreich waren, hat der belgische Gesandte oft genug gesagt, und auch er führt ihr Emporkommen auf den Ausgang der Dreyfussaffaire zurück: «Wir haben auch in Frankreich», schreibt er am 20. Februar 1914, «seit der Dreifussaffaire eine nationalistische und eine Militärpartei, die von einer Annäherung an Deutschland um keinen Preis etwas wissen will, und die eine grosse Zahl von Blättern zu ihrem aggressiven Ton aufhetzt», («qui excite le ton aggressif d'un grand nombre de journaux»). Er kennt die Leute und er kennt ihre Mittel. Am 16. April 1913 schreibt er, Herr Pichon selbst habe ihm gegenüber bedauert, dass «die Hälfte der Pariser Theater nationalistische und chauvinistische Stücke spiele»; am folgenden Tag macht er den Minister auf einen Artikel des «Journal» von Victor Margueritte aufmerksam, dessen Titel genug sagt; er lautet: «A la frontière!» «An die Grenze!»

Man sieht, in welcher Aufregung diese Männer schreiben. Baron Guillaume wiederholt immer und immer wieder, – denn ich zitiere nur einige der immer gleichen Stellen – die selben Beobachtungen, die selben Besorgnisse. Er gibt zu – in der Note vom 20. Februar 1914 – dass «die grosse Mehrheit der Deutschen wie der Franzosen unbestreitbar im Frieden zu leben wünscht. Aber eine wichtige Minorität in beiden Ländern träumt nur von Schlachten, von Eroberungs- oder Rachekriegen». Der Unterschied war nur, dass in Deutschland, wie selbst der Verfasser zugibt, Kaiser und Kanzler zu dieser Minorität nicht gehörten, während in Frankreich der Präsident der Republik und der Ministerpräsident ihre Führer waren. «Poincaré c'est la guerre!» hatten Pariser Blätter am Wahltag geschrieben.

Wohl war bei den Neuwahlen im April 1914 die Opposition wieder stärker geworden, aber nicht stark genug, um das Gesetz zu diktieren: das Ministerium Viviani, das wenige Wochen vor Kriegsausbruch gebildet wurde, durfte es nicht nur nicht wagen, das verhasste Gesetz der dreijährigen Dienstpflicht abzuschaffen – es ging, als der Krieg ausbrach, freudig mit.

Dass in Fragen des militärischen und imperialistischen Ehrgeizes die Radikalen wenig anders handelten als ihre Gegner, das hatte schon das radikale Ministerium Monis bewiesen, als es im März 1911 unter allerlei Vorwänden den General Moinier mit 21,000 Mann zum Zuge nach Fez aussandte, was damals beinahe den Krieg herbeigeführt hätte, gerade wie. im Mai 1912 das nationalistische Ministerium Poincaré dem General Lyautey mit 43,000 Mann die «pénétration pacifique» von Marokko übertrug.

Viviani handelte, wie ein anderer Sozialist und sein späterer Kollege als Minister, Marcel Sembat, geschrieben hatte: «Wenn sich uns ein klare, einzige Gelegenheit bieten würde, die ein geschwächtes Deutschland unsern Schlägen aussetzt und uns den Sieg sicher erscheinen lässt, würden wir zögern, uns auf es zu stürzen? Wer von uns kann sagen, dass der Friedenswille die Oberhand behielte, dass nicht ein wilder Sturm des kriegerischen Patriotismus jeden Widerstand mit sich fortreissen würde?»

Noch am 8. Mai 1914, kaum drei Monate vor dem Ausbruch des Krieges, teilt Baron Guillaume seiner Regierung mit, dass man in Frankreich «in den letzten Monaten noch chauvinistischer und weit selbstvertrauender geworden» ist; er sagt, dass «die selben Leute, die noch vor zwei Jahren bei der blossen Erwähnung möglicher Schwierigkeiten zwischen Deutschland und Frankreich sehr lebhafte Befürchtungen äusserten, jetzt in einem andern Ton sprächen und sich des Sieges sicher halten»; und hier ist nicht nur von Prahlereien müssiger Kaffeehauspolitiker die Rede, sondern der Gesandte bemerkt ausdrücklich, es wären berufene und sachverständige Männer, «hommes autorisés et compétents», die so sprächen. Und er sagt aus den Stimmungen und Zuständen Frankreichs den Krieg als notwendig voraus, wenn keine Aenderung eintritt. Wörtlich sagt er in der gleichen Depesche: «das Land kann das Gesetz der dreijährigen Dienstpflicht, das die Militärpartei ihm leichtfertig auferlegt hat, nicht ertragen; ehe zwei Jahre um sind, wird man es wieder aufgeben oder Krieg führen müssen». «Elle – la loi de trois ans – a été imposé â la légère par le parti militaire, et le pays ne peut pas le supporter. Avant deux ans d'ici il faudra y renoncer ou faire la guerre «.

Der Grund dieser neuen Siegesgewissheit war vornehmlich der Ausgang des Balkankrieges. Da die Heere der Balkanstaaten französische Instruktoren gehabt hatten und die der Türkei deutsche, sah man mit jener Neigung der Menschen ihr Urteil auf zufällige Nebenerscheinungen zu gründen, die ihnen ins Credo passen, im Sieg des Balkanbundes einen Beweis für die Inferiorität des deutschen Heerwesens gegenüber dem französischen. Die französische Presse jener Tage ist voll wilden Hohnes und grober Beschimpfungen für den verstorbenen Marschall von der Goltz und die deutschen Offiziere in der Türkei; auch der Sieg Creusots über Krupp schien entschieden: man feierte «nos petits canons»; alles war des Jubels voll. War das die Ansicht der Menge, so berechneten die «berufenen und sachverständigen Leute» die wirkliche Zunahme der Wehrmacht der Entente durch die Truppen der Balkanstaaten; sie berechneten, dass Russland mit seinen Rüstungen weit vorgeschritten war – man hatte ihm ja Millionen genug dafür gegeben – und die Eingeweihten wussten, dass gerade während der letzten Balkankrise im November 1912 Sir Edward Grey in seinen Zusicherungen so weit gegangen war, als ein englischer Minister gehen konnte.

Die grosse Mehrzahl der Franzosen war friedlich gesinnt, aber viele, die früher von einem Krieg mit Deutschland eine Niederlage gefürchtet hatten, fürchteten dies nicht mehr; und die herrschende Schicht ging noch viel weiter. Die Verlogenheit in der Darstellung des Autors liegt darin, dass er verschweigt, dass im Jahre 1912 jene friedlicher gesinnten, einer Verständigung geneigteren Männer unterlegen waren, und dass im Elysée wie am Quai d'Orsay und in der Kammer mit Poincaré, Delcassé, Millerand und Barthou die kriegerisch und chauvinistisch gesinnte Partei die Führung hatte.

So war die Lage und so war die Stimmung in Frankreich. Dass die Krise so schnell kommen werde, konnte man in keinem Lande ahnen. Aber die führenden Männer in Frankreich waren kriegsbereit. Sie hatten sich darauf vorbereitet und glaubten vollständig gerüstet zu sein.

 

Der Autor wendet sich der Frage zu, «ob Russland uns angreifen wollte?». Die Frage ist bereits schief gestellt, denn ob Russland in früherer Zeit – denn es handelt sich ja um die «Vorgeschichte des Verbrechens» – Deutschland angreifen wollte oder nicht, wird schwerlich irgend jemand, am wenigsten der Autor, uns mit Sicherheit beantworten können, da solche Absichten, wenn sie unausgeführt bleiben, von den wenigen Wissenden nicht ausgesprochen werden. Richtig gestellt, müsste die Frage lauten, ob zwischen Deutschland und Russland Reibungsflächen und Spannungen bestanden, die eine deutsche Sorge vor einem möglichen Krieg mit Russland rechtfertigten. Dass die Möglichkeit eines solchen Krieges in der ganzen Welt in Zeitungen, Kammerdebatten, politischen Schriften ohne Zahl erwogen wurde, ist bekannt. Will man prüfen, ob diese Sorge gerechtfertigt war, und wer sie eigentlich verschuldete, so sind hiezu gründliche Kenntnisse und Untersuchungen der politischen Lage und der Beziehungen zwischen beiden Staaten nötig, und darauf lässt sich der Autor, wie wir bereits wissen, nicht ein. Im Gegenteil, er erklärt zunächst, «er lasse bei der Erörterung dieser Frage, die russisch-österreichische Spannung absichtlich beiseite». Da der russisch-deutsche Krieg und der ganze Weltkrieg mit ihm aus dieser Spannung und dem Bundesverhältnis Deutschlands zu Oesterreich hervorgegangen ist, so ist das Vorgehen des Autors ungefähr so klug, wie wenn er bei der Erörterung der Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich die elsass-lothringische Frage, oder in einer Besprechung der Ursachen des spanisch-amerikanischen Krieges die kubanische Frage «absichtlich» beiseite lassen würde.

Er begründet diese Albernheit damit, dass Deutschland am 1. August an Russland den Krieg erklärt hat, «unter dem Vorwand, dass Russland es überfallen wollte», während Oesterreich erst später (am 5. August) den Krieg an Russland erklärt hat, und damals noch mit Russland «aussichtsreiche Verhandlungen» geführt hätte. Diese letzte Bemerkung von den «aussichtsreichen Verhandlungen» ist nebenbei eine Unwahrheit, die, wie wir später sehen werden, auf bestimmte Fälschungen zurückzuführen ist (s. S. 190 bis 197). Aber wie dem auch sei, in jedem Fall gehören diese Fragen in den zweiten Teil, in die Geschichte der entscheidenden Juliwoche des Jahres 1914 und nicht in die Vorgeschichte. Wenn aber der Autor durchaus schon jetzt die Frage stellen will, warum Russland im Jahre 1914 Deutschland überfallen wollte, das heisst, warum Russland in den letzten Julitagen an den deutschen Grenzen mobilisierte –r denn das ist es ja doch, was Deutschland ihm vorgeworfen hat – so ist die Antwort einfach die: weil es in dem offenbar oder nur möglicherweise bevorstehenden Kriege sich den Sieg sichern wollte. Dass der Autor sich auf seine immer wiederholte Frage diese selbstverständliche Antwort nicht gibt, ist kennzeichnend für ihn.

Der Autor selbst fühlt hier irgendwie, dass er vorgegriffen hat und hüpft in seiner steten Verworrenheit von selbst wieder in die allgemeinen Beziehungen zwischen beiden Ländern vor dem Krieg zurück. Er ergeht sich in den gewohnten sinnlosen Fragen, wie «ob Russland etwa Deutschland slavisch machen wollte», was natürlich nie jemand behauptet hat; spricht von Tolstoi, vom Einfluss der russischen Kultur, vom «deutschen Geblüt der Romanow», kurz von allem, nur nicht von der entscheidenden Tatsache, dass Oesterreich-Ungarn Deutschlands einziger verlässlicher Bundesgenosse war und dass zwischen ihm und Russland seit vielen Jahrzehnten um der Balkangebiete, zunächst um des Balkaneinflusses willen, eine schwere Spannung bestand, die, wenn auch vorübergehend durch Vereinbarungen gemildert, in den letzten Jahrzehnten wiederholt beinahe zum Kriege geführt hätte. In diesem Krieg konnte Deutschland Oesterreich nicht im Stich lassen, nicht zerschmettern lassen, schon aus dem Grund der Selbsterhaltung, weil es sich dann ganz allein einer Welt triumphierender Feinde gegenüber gesehen hätte. Dies war oft ausgesprochen und, während der bosnischen Krise, der russischen Regierung feierlich mitgeteilt worden. Die russische Regierung hatte also – trotz Tolstoi – alle Gründe, in Deutschland einen Gegner, und zwar den gefährlichsten Gegner, zu sehen und seine Schwächung zu wünschen.

Wie diese Spannung sich in den letzten Tagen vor dem Krieg gestaltete, gehört wieder in den zweiten Teil. Die Logik des Autors ist immer die gleiche : er sagt, ich werde euch beweisen, dass Deutschland den Krieg begonnen hat, und zwar zunächst schon daraus, dass es ihn bereits in der vorhergehenden Zeit beginnen wollte, also aus der Vorgeschichte des Krieges, und dass es ihn bereits vorher beginnen wollte, das beweise ich daraus, dass es ihn später wirklich begonnen hat!

Aber ganz abgesehen von Oesterreich-Ungarn, bestand von jeher eine sehr starke antideutsche Strömung in Russland. Kein Staat, in dessen herrschenden Kreisen die Machtgier so entwickelt ist, dass er im Lauf eines halben Jahrhunderts Provinz auf Provinz sich angeeignet und darum Krieg auf Krieg geführt hat, sieht einen mächtigen Nachbarn gerne immer stärker werden. Diese Strömung, der bereits Zar Nikolaus I. in den auf Seite 39 erwähnten zum General Lamoricière gesprochenen Worten Ausdruck gegeben hatte, wurde von den Panslavisten mächtig gefördert. Der Autor schreibt hiezu den gescheiten Satz: «der Hinweis auf die panslavischen Bestrebungen sei nicht genügend», als ob jemand behauptet hätte, dass dieser Hinweis genügend sei, und stellt dann die dumme Frage, ob «Russland uns slavisch machen wollte?», als ob dies in Frage käme. Hier, wo es sich nur darum handelt, ob Russland mit seinen Riesenheeren und seiner unerschöpflichen Menschenreserve dem Deutschen Reich gefährlich werden konnte, genügt es, dass eine so mächtige und ungeheure politische Ziele verfolgende Schicht, wie die panslavistische Gesellschaft und alle ihre Anhänger, sich offen zur Feindschaft gegen deutsches Wesen im allgemeinen und zur Feindschaft gegen das Deutsche Reich im besondern bekannte. Oder was heisst es sonst, wenn das Organ des Gründers der Gesellschaft schon im Jahre 1887 schrieb, «wenn das Deutsche Reich mit Frankreich in Krieg geriete, würden die russischen Gewehre auch ohne Bündnis von selbst losgehen»? Das war 1887, wird man sagen. Seitdem aber war das Bündnis mit Frankreich, die Entente mit England geschlossen worden. Gegen wen diese Bündnisse sich richteten, ist in dem Abschnitt über die Einkreisungspolitik gezeigt worden. Und nur zwei Jahre vor dem Krieg, am 24. Oktober 1912: schrieb der gegenwärtige belgische Minister des Aeussern, Baron Beyens, damals Gesandter in Berlin: «Man meint wahrlich mit gutem Grunde, dass die panslavistischen Gefühle des russischen Volkes nicht noch gereizt zu werden brauchen.» – «On pense en effet avec raison que les sentiments panslavistes du peuple russe n'ont pas besoin d'être excités», und am 14. April 1913 schreibt derselbe Mann: «Herr von Ssasonoff weiss, dass sein Einfluss auf den Zaren durch die Hofpartei und die Panslavisten untergraben wird», «sent son influence battue en brèche par le parti de la cour et par les Panslavistes». Von den russischen Diplomaten sagte der französische Botschafter, Herr Cambon, zu Baron Beyens: «Sie sind fast alle glühende Panslavisten und ihnen fällt zum grössten Teil die Verantwortlichkeit für die gegenwärtige Ereignisse zu». Es handelte sich um die Balkanereignisse. Baron Beyens ist damals der Ansicht gewesen, dass Ssasonoff einen Krieg nicht wünschte, aber er fügt gleich hinzu: «man könnte ruhig in die Zukunft sehen, wenn die panslavistischen Gefühle nicht wären und jene, die sie schüren», «on devrait envisager l'avenir prochain avec assez de tranquillité, n'étaient les sentiments panslavistes et ceux qui les attisent».

Natürlich dachten die Panslavisten nicht daran, «Deutschland slavisch zu machen», aber es gab bekanntlich slavische und andere Gebiete auf dem Balkan, die man unter die segenverheissende russische Herrschaft bringen wollte.

Bei alledem stand das Deutsche Reich, das sowohl Oesterreich wie der Türkei verbündet oder befreundet war, den russischen Plänen im Wege.

Und nicht nur die Panslavisten als solche, auch die Regierungskreise selbst waren keineswegs deutschfreundlich. Man war in Russland deutsch- oder vielmehr preussenfreundlich gewesen, so lange man sich gleichsam als mächtigen Schutzstaat fühlen konnte. Ein starkes Deutschland hatte man nie gewünscht und konnte es angesichts der russischen Ziele nicht wünschen. Dass insbesondere seit dem Berliner Kongress die russischen Gefühle für das Deutsche Reich immer unfreundlicher wurde, ist wohlbekannt, ob man nun Deutschland wirklich die Schuld gab, dass man die Kriegsziele von Santo Stefano nicht erreicht hatte, oder ob man nur so tat. Die neue Gruppierung der Mächte sah die beiden Reiche bald in feindlichen Lagern.

Im Jahre 1908 hatte Russland wieder nachgeben müssen: völlig gerechter Weise, denn die bosnische Annexion ging Russland einfach nichts an, und überdies hätte es ihr von Anfang an zugestimmt; aber man war erbittert und zwar besonders auf Deutschland, weil seine Bundestreue dieses Nachgeben erzwungen hatte.

Und noch einmal, als zwischen dem ersten und zweiten Balkankrieg am 19. Januar 1913 der russische Botschafter in Konstantinopel erklärte, dass wenn der Friede mit Bulgarien nicht zustande käme, Russland nicht länger neutral bleiben könnte – es galt Konstantinopel zu besetzen, ehe die Bulgaren, wie man fürchtete, es nahmen – da trat wieder deutscher Einspruch hindernd dazwischen.

Deutschland schien das Hindernis für die Verwirklichung des grössten russischen Wunsches, der nach dem Besitz von Konstantinopel und den Meerengen ging, und es musste dies noch mehr sein, seitdem es die Bagdadbahn finanziert hatte. Denn, dass Deutschland, nachdem es so ungeheure Kapitalien dort investiert und die Bahn erbaut hatte, je zugeben würde, dass Russland sich der Meerengen und Konstantinopel bemächtige und damit Herr über die deutsche Riesenunternehmung werde, war nicht zu erwarten.

Das allein konnte für Russland Grund genug sein, die erste Gelegenheit zu benutzen, um einen Krieg zu führen, in dem es dank der ungeheuren Ueberlegenheit seines und der verbündeten Heere die Zerschmetterung, mindestens die dauernde Schwächung Deutschlands erwarten durfte. Denn inzwischen war ja das Bündnis mit Frankreich, die «Entente» mit England geschlossen worden, inzwischen waren ungezählte Millionen aus Frankreich nach Russland geflossen, und wenn die Panslavisten früher gemeint hatten, «gegen Deutschland würden die russischen Gewehre auch ohne Bündnis mit Frankreich losgehen», wie musste es jetzt sein?

Im Juni 1914 schrieb der russische Professor Mitrofanow in den «Preussischen Jahrbüchern»: «Die Missstimmung gegen die Deutschen ist in jedermanns Seele und Munde, und selten, dünkt mich, war die öffentliche Meinung einstimmiger. Diese Stimmung ist zwar nur in der letzten Zeit laut geworden, aber sie reifte schon längst heran ...

Wir fühlen uns von allen Seiten, von den Flanken in der Türkei, in Schweden, in Oesterreich durch den deutschen Drang eingeengt und eingesperrt, wir finden keine Anerkennung unserer jetzigen Lage, kein Rechnen mit unserer jetzigen Stärke, und wir sind entschlossen, die uns gebührende Stelle uns zu verschaffen.» Dies als Ausdruck der Stimmung in Russland unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges.

Auch Baron Beyens ist in der Zwischenzeit anderer Ansicht geworden, denn am 14. Juni 1914, drei Tage vor der Ermordung des Erzherzogs schreibt er, «dass Russlands politische Ziele dunkel sind, dass es den Zweibund ausschliesslich zum eigenen Vorteil leitet, und dass es seine Rüstungen in erschreckender Weise steigert, ohne von Deutschland bedroht zu sein», «la Russie, dont les desseins politiques restent impénétrables, la Russie qui dirige la Duplice à son profit exclusif, la Russie, qui accroît, eile aussi, dans une Proportion effrayante ses armements, sans qu'elle soit menacée par l'Allemagne».

Aber was für einen erfahrenen Diplomaten undurchdringliches Dunkel ist, das ist dem Autor ohne weiteres klar: er weiss alles, ihm und seinen gläubigen Lesern geht es wie den Meerkatzen in Faust's Hexenküche:

«Die hohe Kraft
Der Wissenschaft,
Der ganzen Welt verborgen,
Und wer nicht denkt,
Dem wird sie geschenkt,
Der hat sie ohne Sorgen.»

Was sich später in den entscheidenden Tagen des Jahres 1914 Russland gegenüber ereignet hat, wird an seiner Stelle erörtert werden.

 

Damit kommt der Verfasser zum Schluss seines ersten Teiles. Er wiederholt zunächst nochmals einige der Behauptungen, die er schon vorher ausgesprochen, geht dann kurz auf Giolittis Mitteilungen über frühere österreichische Pläne gegen Serbien ein. Da die serbische Frage als der Anlass – nicht als der Grund – des Weltkrieges im zweiten Teil besprochen werden soll, bleibt auch diese Erörterung dahin verschoben. Der Leser findet sie auf Seite

Den letzten Abschnitt widmet er dem angeblichen «Umschwung in Berlin» und dem Sieg der «Kriegspartei». Was er als Beweise vorbringt, sind Phantasien über eine Veränderung in der Seele des deutschen Kaisers, worüber – das wird jeder zugeben – der Autor doch wahrhaftig nichts wissen kann; soweit er irgend Anzeichen für diese angebliche Sinnesänderung Wilhelms II. anführt, fälscht er. Denn er behauptet, der Kaiser hätte in früheren Jahren friedlich gesprochen, während seine Reden in letzter Zeit immer kriegerischer geworden wären. Kaiser Wilhelm hat bekanntlich gerade in dem ersten Jahrzehnt seiner Regierung oft auffällig kriegerische Aeusserungen getan, hat aber auch damals und trotzdem stets den Frieden gewahrt. Seither sind solche Aeusserungen seltener und seltener geworden und haben den entgegengesetzten Raum gegeben. Der Autor weiss denn auch als einzige Stelle die Worte aus einer Rede vom 18. Juni 1913 anzuführen, in der der Kaiser sagte, «Die Fahne dürfe nicht leichtsinnig aufgepflanzt werden, wo man nicht sicher sei, sie verteidigen zu können». Das ist alles – daraus die Folgerung, dass der Kaiser seine Ansichten geändert und den Krieg gewollt hat!! Der Mann weiss sogar, dass man in Berlin den Krieg schon etwas früher wollte, aber «wir waren noch nicht reif zum Losschlagen, das prinzipiell schon damals eine beschlossene Sache war». Die letzten Worte lässt er gesperrt drucken; damit wird im Leser der Eindruck geweckt, dass wenigstens dies bewiesen sei und unwiderruflich feststeht, während es doch in der Tat nur eine Annahme des Autors ist, für die er einen Beweis zu erbringen nicht einmal versucht. Dieser Mann ahnt alles: was im Kopf des Kaisers vorgeht, die Haltung des Kanzlers, des Kronprinzen; ihm bleibt nichts verborgen.

Für die angeblich in letzter Zeit in Berlin herrschenden Ansichten legt der Autor allerdings Dokumente vor, Dokumente, die dem amtlichen Gelbbuch der französischen Regierung entnommen sind. Und gerade damit beweist er nur, mit welch ahnungsloser Unfähigkeit er an seine Aufgabe ging. Dass es eine Quellenkritik gibt, dass Dokumente auch gefälscht sein können, dass die unwahren Berichte in den Archiven der Weltgeschichte nach tausenden zählen, ahnt er nicht. Und gerade das französische Gelbbuch ist an vielen seiner wesentlichsten Stellen der Ungenauigkeiten wie der Fälschungen voll. Ich habe dies in meiner erwähnten Schrift auf Seite 108 bis 121 ausführlich dargetan. Eben die Dokumente, die der Autor anführt, tragen die Zeichen der Unverlässlichkeit oder der direkten Fälschung so deutlich, dass nur ein so blutiger Laie, der sich mit ungeschickten und unsauberen Fingern ah geschichtliche Fragen wagt, darauf hineinfallen kann.

Zum Beispiel steht in einem Bericht Nr. 5 vom 30. Juli 1913 an den damaligen Minister des Aeussern, Herrn Pichon, wörtlich geschrieben: «Ueber die Persönlichkeit des Kaisers wird gesprochen, der Kanzler ist unbeliebt, aber Herr von Kiderlen-Wächter war der bestgehasste Mann in Deutschland im letzten Winter. Obschon noch in Misskredit, wird er doch jetzt nicht mehr so gehasst, denn er gibt zu verstehen, dass er bald seine Rache nehmen wird». Im Juli 1913 war Herr von Kiderlen-Wächter, der frühere Staatssekretär des Auswärtigen, seit einem halben Jahr tot und begraben!

Es ist natürlich ohne weiteres klar, dass der ganze sogenannte Bericht im Pariser Ministerium ausgearbeitet und zusammengestückt worden ist. Nun sind solche von argwöhnischen und feindseligen Beobachtern verfasste Stimmungsberichte an sich als Dokumente von geringem Wert – diese Art der Ausarbeitung entwertet sie vollends, und ihre Veröffentlichung hat nur den Zweck, kritiklosen Lesern eine bestimmte Anschauung zu suggerieren.

Diesem Aktenstück geht ein anderes voraus, das als Nummer 2 eingereiht und vom 2. April 1913 datiert ist, ein «offizieller amtlicher und geheimer Bericht über die Verstärkung des deutschen Heeres», den der damalige französische Kriegsminister Herr Etienne dem Minister des Auswärtigen, Herrn Jonnart, übersandte. Ueber die nicht ganz unwichtige Frage, für welches deutsche Amt dieser Geheimbericht bestimmt gewesen oder in welchem deutschen Amt er verfasst worden war, wird kein Wort verloren. In einer französischen Zeitung war zu lesen, dass der Bericht «irgendwo» in Deutschland in einem Eisenbahnabteil I. Klasse gefunden worden, wo ein hoher deutscher Offizier ihn vergessen hätte(!); andere Blätter versicherten, dass er für niemand Geringeren als den Kaiser selbst bestimmt gewesen; es könnte aber auch der erste Entwurf einer Rede sein, die der deutsche Reichskanzler halten wollte!

Jeder, der den trockenen Tatsachenstil amtlicher deutscher Dokumente kennt, erkennt auf den ersten Blick, dass der ganze Artikel, in dem von den «zähneknirschenden französischen Chauvinisten», von der Notwendigkeit, «die deutsche Macht über die ganze Welt auszubreiten» und ähnlichem die Rede ist, bestenfalls aus der Redaktionsstube irgendeiner kleinen alldeutschen Zeitschrift gestohlen sein kann. Der Artikel gipfelt in dem Satz, dass Deutschland die alte Grafschaft Burgund wieder erobern müsste, weil sie vor etwa fünfhundert Jahren ein Lehen des Heiligen Römischen Reiches gewesen! Es fehlte nur noch die Mitteilung, dass Oesterreich das Königreich Jerusalem wiederzuerobern beabsichtige, weil der Kaiser von Oesterreich den Titel eines Königs von Jerusalem führt.

Man fragt sich wieder nur, ob der Herr, der dieses grossartige Dokumente erwarb, der Aufgesessene war, oder die französischen Leser es sein sollten, die bereit sind, solchen Blödsinn in Deutschland für amtlich möglich zu halten.

Leider sind der Botschafter und sein Personal gleichfalls unfähig, zwischen Tatsachen und blossen Gerüchten zu unterscheiden, oder die wirkliche Bedeutung eines Ereignisses als Symptom der Zustände oder der öffentlichen Meinung in Deutschland zu beurteilen.

In einer Note, die der Marineattaché, Herr von Faramond, am 15. März 1913 an den Marineminister, Herrn Baudin, richtete (Gelbbuch Nr. 1, Beilage II), wird ein Gespräch zwischen einem Herrn der französischen Botschaft und dem Fürsten von Henckel-Donnersmarck berichtet, in welchem dieser unter anderem auch sagte: «Die Franzosen sind vollständig im Irrtum, wenn sie uns finstere Pläne zutrauen und glauben, dass wir einen Krieg wünschen. Aber wir können nicht vergessen, dass im Jahre 1870 die öffentliche Meinung in Frankreich die französische Regierung nötigte, uns in törichter Weise anzugreifen, ohne dafür gerüstet zu sein. Wer kann uns verbürgen, dass die öffentliche Meinung Frankreichs, die so erregbar ist und so leicht auflodert, nicht eines Tages die Regierung der Republik zwingen wird, uns zu bekriegen? Vor dieser Gefahr wollen wir geschützt sein, das ist alles.»

Dagegen berichtet Herr Jules Cambon in Nummer 3 des Gelbbuches am 6. Mai 1913 an Herrn Pichon, er habe gehört, dass der deutsche Generalstabschef von Moltke in militärischen Kreisen gesagt haben sollte: «Wir müssen all die trivialen Phrasen von der Verantwortlichkeit des Angreifers beiseite schieben... am Tage, an dem man neun zu eins annehmen kann, dass der Krieg ausbrechen werde, müssen wir unserm Hauptgegner zuvorkommen und ohne Zögern jeden Widerstand brutal niedertreten.» Selbst wenn er so gedacht haben sollte, würde der General dies niemals in dieser Weise geäussert haben, der man die zweckbewusste Entstellung im Worte «brutal» anmerkt; denn der mittlere Teil des Satzes ist etwas militärisch Selbstverständliches, während Anfang und Ende etwas ganz anderes sagen und deutlich in gehässiger Weise zurecht gemacht sind. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass die vernünftigen und authentischen Worte des Fürsten Donnersmarck dem französischen Diplomaten gar keinen Eindruck machen, während ein Ausspruch, den er eingestandenermassen nur vom Hörensagen kennt, der Ihm vielleicht aus vierter, fünfter Hand zugetragen worden, für ihn entscheidend ist.

Nr. 6 enthält ähnliche Aeusserungen, die dem General von Moltke und dem Kaiser zugeschrieben werden, welche sie in einer Unterredung mit dem König von Belgien im November 1913 getan haben sollen. Herrn Cambons Quelle scheint der belgische König selbst, oder was wahrscheinlicher ist, irgendeine Person zu sein, der der König seine Eindrücke mitteilte. Herr Cambon sagt nur, dass seine Informationen aus «absolut sicherer Quelle» stammen. Die deutsche Regierung hat seither in der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» festgestellt, dass solch eine Unterredung zu dreien niemals stattgefunden, sondern dass der König von Belgien, der natürlich mit dem Deutschen Kaiser gesprochen hatte, auch eine Unterredung mit Herrn von Moltke hatte, bei der niemand sonst anwesend war. Dies wäre an sich nicht wichtig; es zeigt nur, wie ungenau die Berichte sind. Wir können nur schliessen, dass auf dem Wege durch mehrere Köpfe und über ebensoviele Zungen alles, die redenden Personen wie ihre Worte, sich unvermeidlich mehr und mehr veränderten, bis jener Text erreicht wurde, der zu Herrn Cambons Ansichten am besten passte.

So sind die Dokumente beschaffen, die der Verfasser als Beweise für die wichtigsten und geheimsten Entschliessungen der deutschen Regierung anführt!

Und doch will ich ihm hier geringe Vorwürfe machen – mit diesen und ähnlichen Fälschungen oder durch nichts bewiesenen Behauptungen ist im Herbst 1914 die ganze Welt getäuscht worden.

 

Damit sind wir mit dem ersten Teil seines Buches zu Ende. Ich glaube, hinlänglich nachgewiesen zu haben, dass der Autor weder Kenntnisse noch Urteil besitzt, dass er fast auf jeder Seite unrichtige Behauptungen aufstellt, auch vor bewusster Unwahrheit keineswegs zurückschreckt, in der Regel aber leichtfertig darauf los schwätzt. Das ungeheuerliche ist nur, dass solch ein unwissender, törichter und verlogener Schwätzer in einem so grossen Augenblick aufstehen und ein solches Buch schreiben durfte und damit einen Welterfolg haben konnte. Allerdings, da die Mehrzahl der Leser aus Halbgebildeten und Halbwissern besteht, so musste dieses mit fertigen Phrasen arbeitende Buch eines Halbgebildeten auf sie wirken. Es scheint mir aber auch nachgewiesen, dass Menschen, die sich auf dieses Buch einmal berufen und es ernst genommen haben, ihrerseits das Recht verwirkt haben, in politischen und historischen Dingen ernst genommen zu werden. Man kann ein Gegner Deutschlands und Oesterreichs und ihrer Politik sein, man kann ihren Regierungen die Schuld am Weltkrieg aufbürden... wer sich aber dabei auf dieses Gemisch von Geschwätz und Lüge beruft, wer dieses Machwerk lesen konnte, ohne seine Art und die Geistigkeit des Verfassers zu erkennen, der hat bewiesen, dass ihm die Vorkenntnisse wie die Urteilsfähigkeit fehlen.


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