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IV. Die Haager Konferenzen

Weitere zehn Seiten widmet der Verfasser den Verdiensten der liberalen englischen Regierung und den Friedenskonferenzen im Haag. Sein Gedankengang ist im wesentlichen der : die wichtigsten Ergebnisse, die im Haag hätten erreicht werden können, vor allem die Rüstungsbeschränkungen, für welche die Regierungen des Dreiverbandes, also die russische, die französische, vornehmlich aber die liberale englische Regierung sehr ernstlich eintraten, wurden durch den Widerspruch der österreichischen und der deutschen Regierung zum Scheitern gebracht. Daraus zieht der Verfasser den Schluss, dass die Regierungen der Entente, da sie für die Rüstungsbeschränkungen eintraten, auch den Frieden wollten, während Deutschland und Oesterreich zweifellos bewiesen hätten, dass sie den Krieg vorbereiteten.

Dies ist immerhin ein Argument und eine ernste Frage. Während bisher die Unkenntnis, die verkehrte Auffassung oder unwahre Darstellung der Dinge durch den Verfasser klar zu Tage lag, liegen die Tatsachen hier so, dass auch klügere und gewissenhaftere Leute als er getäuscht werden konnten und getäuscht worden sind. Der Schein spricht hier durchaus gegen die Zentralmächte. Es ist ihm zwar bereits nachgewiesen worden, In Kurt Grelling's Schrift «Anti-J'accuse», Zürich, Orell Füssli 1916. dass er sich auch in diesen Ausführungen zum mindesten grober Unkenntnis und Flüchtigkeit schuldig macht: zum Beispiel stellt er die Ereignisse so dar, als wäre auf dem ersten Friedenskongress der russische Vorschlag, das Militärbudget und die Friedensstärke des Heeres in allen Staaten durch fünf Jahre, die der Flotten durch drei Jahre, nicht zu erhöhen, durch Deutschland zum Fall gebracht worden, während dieser Vorschlag in der Tat einstimmig von allen Mächten abgelehnt wurde.

Aber um solche Einzelheiten handelt es sich zunächst nicht. Um die Vorgänge auf den beiden Friedenskongressen richtig zu beurteilen, muss die Tragweite der dort gemachten Vorschläge, ihre politische Bedeutung für die einzelnen beteiligten Staaten im Zusammenhang mit der internationalen Lage in Betracht gezogen werden.

Ich bin der letzte, der die Bestrebungen der Friedensfreunde unterschätzen oder gar ihnen entgegentreten wollte, weil ich etwa in manchem nicht ihrer Ansicht bin. Auch haben, glaube ich, diejenigen Unrecht, die sie einfach damit abtun wollen, dass sie ihre Ziele für «unerreichbar» und für «utopisch» erklären. Dass etwas in der Gegenwart unmöglich oder unerreichbar scheint, ist kein Grund, nicht darnach zu streben. Sehr vieles, was heute verwirklicht ist, erschien unmöglich, als die ersten, die das Ferne und Künftige zu erfassen imstande waren, dafür eintraten. Ein Teil wenigstens der Bestrebungen der Friedensfreunde und zwar ihr nächstes Ziel darf einfach nicht unerreichbar sein. Dass, so sonderbar es angesichts des noch rasenden Krieges tönen mag, eine zwischenstaatliche Organisation der Kulturvölker Europas erreicht werden muss, dass Europa verurteilt ist, gegenüber Asien und Europa zur Bedeutungslosigkeit und zu einem Museum der Vergangenheit herabzusinken, wenn dies nicht gelingt, wenn die extremen Nationalisten in den verschiedenen Ländern die Führung behalten oder erhalten, das kann keinem Denkenden zweifelhaft sein. Und ob man nun glaubt oder nicht glaubt, dass bei den gegenwärtigen Rasseneigenschaffen und dem Kulturzustand der Menschheit Schiedsgerichte in absehbarer Zeit den Krieg beseitigen können, – nach jener zwischenstaatlichen Organisation müssen alle streben, denen an der Erhaltung der europäischen Kultur gelegen ist.

Das aber hat nichts mit der Kritik historischer Ereignisse, wie es die Haager Konferenzen waren, zu tun, und kann uns nicht hindern, auf Grund dieser Kritik zur Erkenntnis zu kommen und sie auszusprechen, dass die Haager Konferenzen, wenn sie einerseits ein bedeutsames Zeichen der Zeit und sicherlich ein Schritt auf dem Wege künftiger Entwicklung waren, gleichzeitig auch eine der sonderbarsten und bittersten historischen Komödien gewesen sind.

Dieser Widerspruch braucht niemanden zu verwundern. Um solch einen Kongress vorzubereiten, ihn zu beschicken, auf ihm zu arbeiten, dazu müssen sehr viele Personen und Faktoren mitwirken und zur Mitwirkung bewogen werden, für die die verschiedensten Gründe massgebend sein können. Nicht alle diese Gründe werden eingestanden oder können eingestanden werden. Wie alle öffentlichen Veranstaltungen, haben die Kongresse eine lange Vorgeschichte, mit Beratungen, Versuchen, geheimen Besprechungen, Streitigkeiten und Intrigen; und mannigfache Interessen und Strömungen kommen in Frage, Nebenzwecke persönlicher wie politischer Natur werden verfolgt. Die Welt sieht nur das grosse Schauspiel; was hinter den Kulissen vorging, wird erst viel später klar. Eines aber ist schon heute gewiss, weil es nach der Natur der Sache nicht anders sein konnte: Idealisten haben die Kongresse vorbereitet, Politiker haben sie gemacht und beschickt. Und noch nie hat es eine grosse Reformbewegung in der Welt gegeben, in der die Idealisten nicht von den Politikern missbraucht worden wären. Dass die Idealisten dies in der Regel zunächst nicht erkennen oder es nicht Wort haben wollen, das ändert an der Tatsache nichts.

Es musste die Führer der Friedensbewegung bereits bedenklich stimmen, dass es gerade der russische Zar war, der die Sache in seinen mächtigen Schutz nahm. Ich weiss nichts vom russischen Hof; der umlaufenden Gerüchte sind so viele, dass man vorläufig keinem Glauben schenken kann: es wäre also immerhin möglich, dass es dem Zaren selbst damit ernst war. Aber das würde nur beweisen, wie wenig es auf ihn ankam. Entscheidend ist der Wille der russischen Regierung, oder jener Personen, die, wer sie immer seien, die russische Politik bestimmen. Dass die Regierung, die in jenen Jahren die furchtbarsten Greuel im eigenen Lande verübte, die die meisten und rücksichtlosesten Eroberungskriege geführt hat, die es tausendmal zu verstehen gegeben, dass sie die Dardanellen haben will und muss, dass diese Regierung es mit dem Weltfrieden ernst meinte, das können die Friedensfreunde selbst keinen Augenblick geglaubt haben. Es war, als ob der Tiger erklärt hätte, er werde von nun an dafür sorgen, dass das gegenseitige Auffressen im Tierreich ein Ende nehme. Die Herren werden selbst nicht sagen wollen, dass sie an die Besserung des Tigers ernstlich geglaubt haben. Daran kann kein Vernünftiger zweifeln, dass, was immer man dem Zaren gesagt haben mag, niemand die Haager Ideen im Innersten mehr verhöhnt und belächelt hat, als die schlauen und gewalttätigen Verächter aller Rechte, die die Petersburger Politik leiteten.

Zugegeben werden muss freilich, dass die Friedensfreunde kaum anders handeln konnten, als sie taten. Wenn eine Grossmacht sich überhaupt bereit fand, für ihre Sache einzutreten, so mussten sie es annehmen, ohne sich den ehrlichen Spender allzu genau anzusehen. Sie mussten sich sagen: auch die Kraft, die das Böse will, kann das Gute schaffen; zum mindesten kommt es zu öffentlichen Kundgebungen, zu Erörterungen, und die Sache wird irgendwie gefördert. Sie konnten schwerlich erklären, dass sie mit dem Friedensmanifest des Zaren nichts zu tun haben wollten, konnten, was die Einsichtsvollen unter ihnen auch denken mochten, die verdächtige Unterstützung nicht ablehnen; ja, sie waren genötigt, sie mit allen Freudenbezeichnungen anzunehmen.

Indem sie das taten, öffneten sie aber auch dem, was an der ganzen Veranstaltung politische Komödie war, alle Türen. Man macht keine Kompromisse, ohne etwas aufzugeben.

Der wesentliche Vorgang war nun der folgende: drei Grossmächte, Russland, Frankreich und England, oder richtiger gesprochen, eine Reihe ihrer Minister und offiziellen Vertreter, troffen von Friedensbeteuerungen, und dafür werden sie vom Verfasser des Buches «J'accuse» reichlich belobt. Dieselben Grossmächte sandten auch nach dem Haag Vertreter, die warm für Rüstungsbeschränkungen und Schiedsgerichte eintraten.

Zwei andere Grossmächte, das Deutsche Reich und die österreichisch-ungarische Monarchie zeigten sich weniger begeistert und liessen sich durch Delegierte vertreten, die in so und so vielen Punkten scharf widersprachen.

Dies ist der Vorgang auf der Bühne des Kongresses.

Sieht man sich die Sachlage genauer an, so zeigt sich etwas höchst Eigentümliches; gerade diejenigen Mächte, die von Friedensliebe troffen, wie warm gesalbte Athleten von Oel, die haben in den letzten vierundvierzig Jahren Krieg auf Krieg geführt und ungeheure Ländergebiete erobert, Verträge gebrochen, Völker niedergetreten – ja, zwei davon, England und Russland, haben ihre grössten mörderischesten Eroberungskriege gerade zwischen den beiden Friedenskongressen geführt; die dritte Macht, Frankreich, hat sogar während des einen Kongresses einen Eroberungsfeldzug nicht unterbrochen!!

In den letzen vierundvierzig Jahren, also seit der Gründung des Deutschen Reiches, hat Russland zwei grosse und eine ganze Reihe blutiger kleinerer Kriege geführt, hat einen Teil der europäischen, ein riesiges Stück der asiatischen Türkei, fast ganz Zentralasien, grosse Stücke von China weggenommen, all dies unter Gräueln ohne Ende, bis es zwischen den beiden Haager Konferenzen zum letzten blutigsten Krieg, dem mit Japan kam. In derselben Zeit hat Frankreich ein ungeheures Reich in Nordafrika und Zentralafrika erobert, weiter Tonking, Annam und Madagascar, fast immer unter furchtbarem Blutvergiessen. Man lese das Buch eines Mannes, der daran teilgenommen: «La gloire du sabre» von Paul Vigné d'Octon.

England hat in dieser Zeit schwere Kriege gegen Afghanistan geführt, Aegypten und den Sudan in sehr ernsten Feldzügen erobert, Birma und grosse Gebiete in Südafrika besetzt und zwischen zwei Haager Konferenzen die Burenstaaten unterjocht.

In diesem Sinn schrieb Baron Greindl am 30. Mai 1908 an den belgischen Minister des Aeussern, Herrn Davignon: «Les déclarations pacifistes obligées signifient bien peu de chose émanant de trois puissances qui comme la Russie et l'Angleterre viennent, avec des succès divers, d'entreprendre sans autre raison que le desir de s'agrandir et même sans prétexte plausible, les guerres de conquête de la Mandchourie et du Transvaal, ou qui comme la France procède en ce moment même à l'envahissement du Maroc au mépris de promesse solennelles et sans autre titre que la cession des droits de l'Angleterre qui n'en possédait aucun. Ce sont les mêmes puissances qui en compagnie des Etats-Unis sortant à peine de la guerre de spoliation contre l'Espagne, se sont montrées ultra-pacifistes à la Haye.»

Wörtlich: «Die obligaten friedensfreundlichen Erklärungen wollen recht wenig bedeuten, wenn sie von drei Mächten ausgehen, die, wie Russland und England, soeben mit allerdings ungleichem Erfolg, aber ohne jeden andern Grund als den Wunsch nach Gebietsvergrösserung und sogar ohne jeden annehmbaren Vorwand die Eroberungskriege in Transvaal und in der Mandschurei geführt haben, oder wie Frankreich im gleichen Augenblick unter Missachtung feierlicher Versprechungen in Marokko eindringen, ohne jeden andern Rechtsgrund, als dass England ihm dort Rechte abgetreten, die es gar nicht besass. Das sind dieselben Mächte, die sich in Gesellschaft der Vereinigten Staaten, die ihrerseits frisch vom Raubkrieg gegen Spanien kamen, im Haag ultra-pazifistisch gezeigt haben.»

Man müsste über die ungeheure Dummheit und Blindheit der Welt, der sogenannten öffentlichen Meinung, erstaunen, die immer nur auf die schönen, auf der Bühne gesprochenen Worte hört und sich um die allein beweisenden Taten nicht kümmert, hätte nicht ein allzugrosser Teil dieser Welt ein so starkes Interesse daran, so zu tun und die andern zu täuschen.

Im gleichen Zeitraum hat das Deutsche Reich überhaupt keinen Krieg geführt, sondern durch vierundvierzig Jahre Frieden gehalten, hatte die Kolonien, die es in dieser Zeit erwarb, durch friedlichen Vertrag erworben, und infolgedessen auch im Vergleich zu den drei andern Grossmächten ausserordentlich wenig erhalten, da Bismarck einen Kampf um einer Kolonie willen ein für allemal nicht wollte. Oesterreich-Ungarn hatte nur die Besetzung von Bosnien und der Herzegowina durchgeführt und dies mit ausdrücklicher Zustimmung aller Mächte: und auch das lag im Jahre 1914 schon um sechsunddreissig Jahre zurück. Im ganzen Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts hatte Deutschland, das gegenwärtige Deutsche Reich, überhaupt nur zwei Gebiete durch Eroberung gewonnen, die beide durch Jahrhunderte zu Deutschland gehört hatten, und von denen das eine Elsass-Lothringen zu 85% deutsch (und kaum 15% französisch) ist, das andere Schleswig-Holstein zu 92% deutsch (und zu 8% dänisch) ist. Dies für die Vertreter des Nationalitätenprinzips. Denn die inneren Kriege Deutschlands sowie der Krieg zwischen Deutschland und Oesterreich, die damals noch in einem Staatsgebilde vereint waren, sind nicht Eroberungskriege, sondern genau in gleicher Weise Einigungskriege gewesen, wie die Frankreichs und Englands in früheren, die Italiens im neunzehnten Jahrhundert waren, bei denen gleichfalls die Gebiete von Teilkönigen und Feudalfürsten weggenommen werden mussten, um die nationale Einigung zu erzielen.

Und dennoch sind sie die Störenfriede gewesen und alle, die nicht denken, oder nicht denken wollen, zeigen heute mit den Fingern auf sie und sagen: da konnte man sehen, wer es mit dem Frieden aufrichtig meinte! Denn aufrichtig ist für die Leute immer der, der das spricht, was sie gerne hören, wenn er auch gleichzeitig das Entgegengesetzte tut.

Ob es politisch klug war, auf dem Kongress so aufzutreten, ist eine ganz andere Frage. Schlauere Leute hätten genau wie die andern von Frieden und Freiheit und Fortschritt gesprochen. Das kostet so wenig und macht so beliebt! Und es gibt so viele Wege, einen unangenehmen und schädlichen Vorschlag zu Fall zu bringen, während man scheinbar begeistert zustimmt. Zwar liegt das dem deutschen Wesen nicht: man ist eher brutal aufrichtig als fein verlogen.

Ich möchte hier nicht missverstanden werden. Auch an der Ehrlichkeit der andern Kongressvertreter, zum mindesten ihrer grossen Mehrzahl, ist gar nicht zu zweifeln. Wozu gäbe es eine Arbeitsteilung? Wer eine Lüge in der Welt verbreiten will, der kann gar nicht zweckmässiger handeln, als sie durch jemanden verkünden zu lassen, der selbst daran glaubt. Es handelt sich nur um die Regierungen, die hinter den Delegierten standen.

Und da lag die Sache so: nicht nur dass ihre Taten ihren Worten vollkommen widersprachen und sie zum hohlen und verlogenen Schein machten: diese Regierungen hatten vor allem ein ausserordentliches Interesse an gewissen Rüstungsbeschränkungen, nur dass dieses Interesse durchaus kein Friedensinteresse, sondern im Gegenteil ein Kriegsinteresse war! Die Rüstungen des Dreiverbandes waren denen der Zentralmächte zu Lande und mehr noch zu Wasser ungeheuer überlegen. Je weiter indessen die Einkreisung Deutschlands vorschritt, desto mehr musste es sich der Gefahr bewusst werden, und bei der Energie, der Organisation, dem raschen Emporwachsen deutscher Machtentfaltung, musste man fürchten, dass bei allseitig steigenden Rüstungen, die quantitativen Vorteile des Dreiverbandes auf der andern Seite zwar nie ganz, aber doch in mancher Hinsicht ausgeglichen würden.

Noch im Jahre 1914, als die Entwicklung ohne Rüstungsbeschränkung fortgeschritten war, betrug die Stärke der europäischen Heere (nach Hauptmann Rottmanns «Heere und Flotten aller Staaten der Erde» (XIII. Jahrgang):

Deutsche Armee: Friedensstand 781,000 Mann Kriegsstärke 4,500,000
Oest.-Ung. " 414,000 " "
mit Landsturm
3,720,000
    ________     ________
  Zusammen 1,195,000 " Kriegsstärke 8,220,000
           
Französ. Friedensstand 760,000 " Kriegsstärke 4,600,000
Englische " 285,000 " " 730,000
Russische " 1,850,000 " " 7,400,000
    ________     ________
Gesamtstärke der
Armeen
der Triple-Entente
Friedensstand 2,895,000 " 12,730,000

Bei der deutschen Kriegsstärke ist die höhere, beim französischen Friedensstand die geringere Angabe der Hübnerschen statistischen Tabellen eingesetzt. Bei der Kriegsstärke ist der Landsturm (Territorialmiliz, Reichswehr) durchweg mitberücksichtigt. Die Kriegsstärke der englischen Armee wird in den Hübnerschen Tabellen mit 1,072,000 angegeben.

 

Aus dieser Tabelle geht klar hervor, dass die Kriegsmacht der Entente um mehr als 4 Millionen stärker war als die Deutschlands und Oesterreichs-Ungarns. Italien brauchen wir angesichts der Kriegsergebnisse nicht in Betracht zu ziehen. Italien. Armee: Friedensstand 250,000, Kriegsstärke (mit der fragwürdigen Territorialmiliz) 3,400,000.

Die auffälligste Tatsache, die sich aus diesen Ziffern ergibt, ist die, dass der Friedensstand der Triple-Entente, also der Teil der Kriegsmacht, der den Kern jedes stehenden Heeres und den beständigen und kostspieligsten Teil der Kriegsrüstung bildet, beinahe dreimal so stark war als der der beiden Zentralmächte, Deutschland und Oesterreich-Ungarn.

Genau das gleiche gilt von den Kosten der Rüstungen.

Die Gesamtausgaben Frankreichs für Heereszwecke von 1873 bis 1912 berechnete der Berichterstatter der französischen Kammer, der Deputierte Tissier, auf 38 Milliarden und hob rühmend hervor, dass sie die vom Deutschen Reich in derselben Zeit gemachten Aufwendungen um 4 Milliarden überstiegen. Dass die russischen Ausgaben die Oesterreich-Ungarns um ein Vielfaches übertrafen, braucht nicht erst belegt zu werden.

Das Verhältnis der Flottenstärke war:

Im Jahr: 1899 1906 1914 Die niedrigeren Zahlen dieses Jahres erklären sich daraus, dass Weyers «Taschenbuch der Kriegsflotten», dem die Angaben entnommen sind, für dieses Jahr nur die Einheiten zum Vergleich heranzieht, die jünger als zwanzig Jahre sind.
  Einheiten Einheiten Einheiten
England 138 162 127
Frankreich 64 86 47
Russland 44 27 14
  _______ _______ _______
  246 285 188
       
Deutsches Reich 28 56 63
Österreich-Ungarn 12 20 18
  _______ _______ _______
  40 76 81
       
Italien Italiens Flotte ist nicht mitgezählt, weil es im Fall eines Krieges mit England, erst kraft einer ausdrücklichen Klausel im Dreibundvertrag und später wegen seiner politischen Wendung zur Entente, nicht mehr in Frage kam. S. darüber auch die auf der folgenden Seite angeführten Äusserungen Sir William White's. 20 36 23

Im Jahre 1899, zur Zeit des ersten Kongresses, waren die Kriegsflotten Deutschlands und Oesterreich-Ungarns noch so gering, dass sie neben denen Englands und Frankreichs kaum ernstlich in Betracht kamen.

Man sieht ohne weiteres, welch ausserordentliches Interesse die Mächte der Entente an Rüstungsbeschränkungen hatten, durch die ihre Uebermacht dauernd erhalten worden wäre, ohne dass sie gezwungen waren, weitere Ausgaben dafür zu machen. Selbst wenn man Italien beim Dreibund mitzählt, blieb diese Uebermacht eine ungeheure; sie betrug dann zu Lande noch immer über eine Million, für die Flotte mindesten 84 Einheiten. Dass indessen auf Italien kaum oder nur in ganz besonderen, nicht wahrscheinlichen Fällen zu rechnen war, das wussten nicht nur die Eingeweihten in Oesterreich und Deutschland – das wusste man auf der andern Seite, in England, Frankreich und Russland noch viel besser. «Depuis bien longtemps on ne se fait plus aucune illusion à Berlin ni à Vienne sur le concours éventuel de l'Italie», schrieb der Gesandte am Berliner Hof, Baron Greindl, bereits am 17. April 1909 – und im Juliheft des Jahrganges 1911 der «Nineteenth Century and After», spricht der frühere englische Schiffbaudirektor, Sir William H. White in einem Artikel «The Naval Outlook» seine feste Ueberzeugung aus, «dass die italienische Marine niemals gegen die englische Marine kämpfen wird», und bittet den Leser «im Auge zu behalten, dass, wenn er die italienische Flotte in einer hypothetischen antienglischen Kombination mitgezählt hat, dies lediglich aus statistischen Gründen geschehen ist».

Nur nebenbei sei hier bemerkt, dass der Verfasser auf Seite 31 angesichts dieser Ziffern mit seiner gewohnten frivolen Leichtfertigkeit schreibt, dass «unsere (die deutschen) Rüstungen grösser und umfassender waren als in irgend einem Lande der Welt!»

Und angesichts dieser Ziffern wird jetzt in allen Blättern der Entente unaufhörlich die Lüge wiederholt, Deutschland habe während der vierundvierzig Jahre seines Bestandes sich mit nichts anderem beschäftigt, als dass es heimlich und planvoll den Krieg vorbereitete!

Es musste eben etwas geschehen, die neben den nicht endenden Kriegen der Entente schwer ins Gewicht fallenden vierundvierzig deutschen Friedensjahren um ihre überzeugende Wirkung zu bringen.

Die deutsche Armee und Flotte, der deutsche Generalstab, das deutsche Offizierskorps waren besser organisiert und vorgebildet, weil man in Deutschland eben alles besser und gewissenhafter organisierte und durchführte. Auch der deutsche Handel, der Unterricht, der Verkehr, das Postwesen, die Hygiene in Deutschland waren besser organisiert, so dass man aus der Vortrefflichkeit all dieser friedlichen Einrichtungen ebenso gut schliessen könnte, Deutschland habe den Weltfrieden vorbereitet wie aus der Vorzüglichkeit der kriegerischen Einrichtungen die Vorbereitung des Weltkriegs. Selbst die gewaltige artilleristische Vorbereitung der deutschen Heere, die ihnen gleich zu Beginn des Krieges eine ausserordentliche Überlegenheit gab, beruhte nicht auf besonderen kriegerischen Absichten, sondern nur auf besserer theoretischer Erkenntnis. Gabriel Hanotaux erinnert in seiner Geschichte des Krieges daran, dass einer der ersten französischen Fachmänner, der General Langlois noch im Jahre 1908 die schweren Geschütze für eine überflüssige Belastung des Feldheeres erklärte und für die gesamte Artillerie lediglich eine einzige Art leichter Schnellfeuerkanonen von einheitlichem Kaliber forderte. Er meinte, Frankreich würde dadurch «um ein Drittel weniger Kanonen brauchen als Deutschland, weil dieses noch an den langsam schiessenden schweren Geschützen festhalte.»
Wohl war auch in Frankreich ein anderer Militärschriftsteller, der Oberst Colin, für schwere Feldgeschütze und vor allem für unendliche Munitionsmengen eingetreten. Man hatte jedoch nicht auf ihn gehört, nicht weil man aus Friedensliebe weniger rüsten wollte, sondern weil man eine falsche Theorie hatte.
Auch dass die Heere des Dreiverbands trotz ihrer ungeheuren zahlenmässigen Ueberlegenheit, die bereits 1914 bestand, immer wieder geschlagen wurden, der Wunsch solch unbegreifliche Niederlagen zu beschönigen, mochte zur Verbreitung der Weltlüge von der Vorbereitung des Weltkrieges durch die Deutschen, die die andern Völker in ihrer friedlichen Nichtrüstung überfallen wollten, beigetragen haben.
Alle Grossmächte rüsteten nach Kräften und die der Entente weit stärker als die der Zentralmächte. Könnte man also aus Rüstungen überhaupt auf die Absichten schliessen, so müsste man daraus auf die stärkeren kriegerischen Absichten der Dreiverbandsgruppe schliessen, nicht aber umgekehrt.

In Deutschland und Oesterreich aber wäre man angesichts dieser Sachlage und dieser Politik, angesichts der unendlich gefährdeten geographischen Lage wahnsinnig gewesen, wenn man auf die Abrüstungsvorschläge eingegangen wäre. Gewiss, niemand konnte sagen, dass es zum Kriege kommen musste, niemand konnte bestimmt behaupten, dass die englische Regierungspolitik, die die Einkreisung vollzog, nicht einer andern Politik weichen konnte, falls der Krieg nicht dazwischen kam; aber so lange diese Politik andauerte, so lange die Länder auf der andern Seite eine so furchtbare Uebermacht darstellten, hätten Staatsmänner, die nicht nach Kräften gerüstet hätten, vor einen Gerichtshof gehört.

Man braucht ja nur die Karte anzusehen, man braucht nur einen statistischen Atlas zu befragen:

England, Russland und Frankreich verfügten über den grössten Teil der Erde, über eine Menschenzahl von 653 Millionen, dazu kamen noch Japan und Serbien, sowie Montenegro mit 63 Millionen, Italien war zweifelhaft. Deutschland und Oesterreich zählten 123 Millionen Menschen und konnten mit einiger Sicherheit nur auf die 15 Millionen Menschen zählende Türkei rechnen; ihr kleines Gebiet lag mit grösstenteils ungeschützten Grenzen in der Mitte dieser kolossalen Mächte, die sie erdrücken konnten, ihre Heere waren um fast 5 Millionen kleiner, ihre Flotten betrugen zusammen kaum ein Viertel der andern, ihre Menschenreserve nicht einmal so viel – sie wären verloren gewesen, wenn sie nicht aufs äusserste gerüstet hätten!

Das alles haben auch auf der Gegenseite Vernünftige eingesehen, wenigstens vor dem Krieg. Wenige Monate vor seinem Ausbruch schrieb Marcel Sembat: «Die Deutschen fühlen, dass wir auf der Lauer liegen, um die Gelegenheit zu benützen, die uns den Sieg verspricht. Haben sie wirklich ganz Unrecht? frage ich jeden Franzosen, der aufrichtig ist. Wagt ihr zu sagen, dass sie Unrecht haben?... Und dann? Begreift ihr, dass diese Möglichkeit allein Grund genug für Deutschland ist, sich nicht selber zu schwächen? Und daraus entsteht jener Krieg im Frieden, jener Rüstungskampf, der die unvermeidliche Folge des gegenwärtigen europäischen Bündnissystems ist.»

Das Gleiche, was von den Rüstungsbeschränkungen gilt, gilt auch von der Frage der Schiedsgerichte. Es kann an sich keinen schöneren Gedanken geben. Nur mussten die Zentralmächte nach der politischen Lage und nach dem Verhalten der Ententemächte unbedingt annehmen, dass die Sache – wiederum nicht von den Delegierten, aber von den Regierungen! – unehrlich gemeint war und nur, wenn die Gelegenheit kam, gegen sie ausgespielt werden sollte. Der Beweis kam noch im selben Jahr. Der – von der russischen Regierung – gestellte Antrag war, dass eine obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit eingeführt werden, aber all jene Fälle, in denen es sich um «Lebens- und Ehrenfragen» handelte, davon ausgeschlossen bleiben sollten. Angenommen wurde die fakultative Schiedsgerichtsbarkeit.

Der Kongress war noch kaum recht zu Ende – er wurde am 29. Juli 1899 geschlossen – da begann der Transvaalstreit: Nun, am 9. Oktober 1899, forderte der Präsident Paul Krüger, dass England die Streitigkeiten einem Schiedsgericht unterstelle, und am 17. Oktober 1899 lehnte das englische Parlament mit 322 gegen 54 Stimmen in dieser Frage, die zwar eine wichtige Herrschafts- und Eroberungsfrage, aber wahrhaftig keine Lebens- und Ehrenfrage für England war, das Schiedsgericht ab und beschloss den Krieg!

Wenige Jahre später, im Januar 1904, als der russischjapanische Streit drohend wurde, da versuchte der japanische Minister des Aeussern, Marquis Ito, ihn durch französische Vermittlung zu schlichten. « Revue hebdomadaire» vom 27. April 1907. Er hatte keinen Erfolg. Man hat auch nichts davon gehört, dass Russland in dieser Frage, die noch viel weniger eine Lebens- und Ehrenfrage war, ein Schiedsgericht angerufen hatte. Der Krieg hätte, – wie man weiss, sehr zum Heile Russlands, – vermieden werden können. Warum machte denn weder die englische noch die russische Regierung von der, von ihr selbst beantragten und auf dem Kongress beschlossenen, fakultativen Schiedsgerichtsbarkeit Gebrauch, wenn sie es ehrlich gemeint hatten?

Und warum verschweigt der kenntnisreiche und loyale Autor all dies?

Wie recht die Vertreter der Zentralmächte hatten, dass die Anträge nur gestellt wurden, um sie gegebenen Falls gegen sie auszuspielen, während keine der Ententeregierungen auch nur entfernt daran dachte, sich selbst daran zu halten, das beweisen diese beiden Fälle, verbunden mit den Vorgängen im Sommer 1914.

Das Deutsche Reich, das schon 1885 seinen Streit mit Spanien über den Besitz der Karolinen freiwillig dem Schiedsspruch des Papstes unterworfen hatte, hat auch seither für Fragen, die nicht Lebensfragen sind, eine Reihe von Schiedsverträgen abgeschlossen. Dass es jene, in keiner Weise ernst gemeinten Anträge nicht annahm, war einfache Vorsicht.


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