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II. Guglielmo Ferrero

Die Schrift Professor Ferrero's «Le Origini della Guerra presente», «Die Entstehung des gegenwärtigen Krieges», ist eine knappe, – für das grosse Thema viel zu knappe, – Schrift von 32 Seiten in kleinem Oktav. Aber es ist die Schrift eines bedeutenden Historikers, dem man gewiss nicht Mangel an Vorbereitung zum Vorwurf machen kann. Wenn ich seine Ausführungen bekämpfe, so stelle ich Tatsachen gegen Tatsachen, Schlüsse gegen Schlüsse. Ich bin dem Autor persönlich nahe gekommen; ich war sein Gast; wir haben in einer grossen Sache gemeinsam gearbeitet, und er hat gerade in dieser Sache als erster der öffentlichen Meinung entgegen die Wahrheit bekannt, hat sie mit gewissenhafter Mühe erforscht und ist männlich und mutvoll für sie eingetreten.

Diesmal ging er mit der grossen Strömung, aus vollster Ueberzeugung ohne Zweifel; meine Pflicht ist es, aus gleicher Ueberzeugung auf das, was mir in seiner Arbeit unhaltbar scheint, hinzuweisen.

Es scheint mir zunächst unmöglich, dem Leser von der Entstehung des Krieges ein einigermassen richtiges Bild zu geben, und er wird die österreichische Note und das Spannungsverhältnis Oesterreich-Serbien-Russland niemals richtig beurteilen können, wenn man ihn nicht mit der Vorgeschichte der Note bekannt macht.

Ferrero kann erwidern, er beschränke sich hier auf die Beurteilung der Akten: aber wie will jemand das erste entscheidende Aktenstück, aus dem alle folgenden entsprangen, beurteilen, wie will er wissen, ob und inwieweit es berechtigt war, wenn er nicht weiss, welche Tatsachen zu ihm führten? In der Tat lässt sich Ferrero auf eine Kritik des Ultimatums nicht ein, sondern zitiert nur die Kritik Sir Edward Greys, der in der Sache Partei war. Selbstverständlich fanden die Staatsmänner der Triple-Entente das Ultimatum, das Oesterreich an Serbien richtete, «unerhört», während sie an dem unerhörten Ultimatum, das Italien drei Jahre vorher an die Türkei gerichtet hatte, nichts auszusetzen hatten ... war es doch auf Grund der mit ihnen getroffenen Abmachungen erfolgt! Ebenso fanden sie die serbische Antwort vollkommen genügend; selbstverständlich, denn je weniger sie wirklich bot, desto mehr war das Interesse der russischen Politik gewahrt. Sie aber «uninteressierte Zuschauer» zu nennen, wie Ferrero auf Seite 13 seiner Schrift tut, scheint mir für einen Historiker ein starkes Stück: angesichts der bestehenden Weltspannung konnte man die Angehörigen keiner Mächtegruppe «uninteressiert» nennen. Wohl hatten England und Frankreich wie Italien keine direkten Interessen in Serbien, aber alle drei hatten durch weitgehende Verabredungen Russlands Interesse mehr oder minder zu dem ihren gemacht; und sie taten das umsomehr und heftiger, je weiter die Krise vorschritt und je mehr Russland seinen Kriegswillen an den Tag legte und aussprach.

Ferrero bezweifelt die Behauptung der deutschen Regierung, dass sie die österreichische Note nicht vorher gekannt, wenn er auch zugibt, dass das Gegenteil nicht bewiesen sei. Er findet es seltsam, dass die deutsche Regierung trotzdem fast gleichzeitig eine Note an die Mächte richtete, in der die österreichische Note unterstützt wurde. Die Aufklärung ist einfach.

Dass nach der Ermordung des Thronfolgers und allem vorausgegangenen eine entschiedene Aktion Oesterreichs gegen Serbien bevorstand, das wusste die ganze politische und diplomatische Welt; es war daher selbstverständlich, dass die verbündete deutsche Regierung das österreichische Vorgehen unterstützte, weil sie die Lage kannte. Ob sie die Note im Wortlaut und in allen Einzelheiten vorher kannte oder nicht, war unwesentlich; ein Teil der österreichischen Forderungen wurde ja bereits seit Anfang Juli vermutet (s. S. 347/48).

Man sieht, wie unentbehrlich die Vorgeschichte für das Urteil ist.

Dass ein grosser Teil der englischen Presse zunächst den gleichen Standpunkt einnahm, das ist auf Seite 131/32 gezeigt worden. Oesterreich, das schwer herausgefordert war, bedrohte jetzt Serbien: die ganze Welt sah die Gefahr, dass Russland zugunsten Serbiens eingreifen konnte; dann war Deutschland verpflichtet für Oesterreich einzutreten und der Weltkrieg unvermeidlich. Das war der Inhalt der Mitteilung, die der deutsche Botschafter von Schoen am 24. Juli Herrn Bienvenu-Martin machte (Weissbuch Nr. 1, Gelbbuch Nr. 28). Der Friede war nur zu erhalten, wenn der Konflikt lokalisiert blieb.

Die französische Regierung und eine offenbar inspirierte Presse beliebten in dieser Mitteilung eine «verschleierte Drohung» zu sehen.

Vielleicht hätte die Note in der Form glücklicher abgefasst, mit einer Reihe von Liebenswürdigkeiten verbrämt sein können: in der Sache enthielt sie die reine ehrliche Wahrheit über die Lage. Wer darin sofort eine Drohung sah, der wollte die Spannung verschärfen, jedenfalls nicht sie vermindern: wir erinnern uns an die «Provocation» von Agadir (s. S. 91). Wenn Frankreich wirklich ein «uninteressierter Zuschauer» gewesen wäre, so hätte es sich sofort den sachlichen Gründen der deutschen Regierung anschliessen, mindestens sie sehr ernst erwägen müssen. Umso unbegreiflicher ist, dass Ferrero sich die französische Fiktion von der deutschen Drohung, die wohl künftige tendenziöse Auffassungen vorbereiten sollte, ohne weiteres zu eigen macht.

Dass er nun daraufhin die Haltung der deutschen Regierung am 25. Juli verändert, versöhnlicher findet, ist ebenso willkürlich: wenn Herr von Jagow sagte, Deutschland wolle keinen Krieg, und das Vorgehen Oesterreichs müsse nicht zu einem allgemeinen Kriege führen, so war das selbstverständlich und als Aenderung der Haltung nur dann auszulegen, wenn man in den Mitteilungen Herrn von Schoens durchaus eine «Drohung» sehen wollte. In dem einzig wesentlichen Punkt, in dem Eintreten Deutschlands für Oesterreich und der Billigung seines Vorgehens hatte sich am 25. nicht das geringste geändert. Noch weniger aber ist, wie Herr Ferrero behauptet, das Vorgehen Oesterreichs am selben Tage härter geworden. Das Ultimatum war, meine ich, wenn auch vollkommen berechtigt, so doch gerade hart genug gewesen; dass es andererseits keine Gebietserwerbung auf Kosten Serbiens beabsichtigte, das hat Oesterreich am ersten wie am letzten Tage erklärt; und die Ablehnung der Fristverlängerung war nur Konsequenz. Der russische Geschäftsträger hatte diese Ablehnung vorhergesehen, und die deutsche Regierung hatte sich geweigert, die Bitte um Fristverlängerung zu unterstützen: der Gegensatz zwischen der Haltung Oesterreichs und Deutschlands ist also eine ganz willkürliche Konstruktion Ferreros, der solche Antithesen liebt; aber in den Tatsachen ist sie in keiner Weise begründet.

Am sonderbarsten aber ist, dass er – wie übrigens auch Herr Menni – sonderbar findet, dass Graf Berchtold in diesen Tagen «es gut fand, sich von Wien zu entfernen und nach Ischl zu reisen». Selbstverständlich musste Graf Berchtold dem Kaiser Bericht erstatten, wie Ssasonoff dem Zaren, und selbstverständlich musste er zu diesem Zweck zu dem dreiundachtzigjährigen Herrn nach dem nur sechs Stunden entfernten Ischl – dem Sommersitz des österreichischen Hofes – fahren und nicht der alte Kaiser zu ihm.

Ferrero zitiert nun die im Verlauf dieser Schrift oft erwähnte und erörterte Note Nr. 25 des Orangebuches, in welcher Herr Ssasonoff alle wesentlichen Forderungen Oesterreichs für Serbien unannehmbar findet: wenn Ssasonoff in derselben Note die Meinung ausspricht, durch längere Verhandlungen könnte man vielleicht eine Formel finden, die Oesterreichs Forderungen «in der Sache befriedigte und für Serbien annehmbar wäre», so war das nach dem Vorausgegangenen nicht nur unehrlich, sondern auch unsinnig: das was er wollte, war das gerade Gegenteil: Nichtbefriedigung der österreichischen Forderungen in der Sache, bei einer für Oesterreich möglichst entgegenkommenden Form: eben das, was in der serbischen Antwort vom gleichen Tage, die zweifellos nicht ohne seine Einflussnahme zustande kam, bereits geschehen war.

Wenn aber Ferrero aus solcher Erklärung den Schluss zieht, dass Russland den Frieden wünschte, so finde ich darin nicht nur das erstaunlich, dass er den Widerspruch in Ssasonoffs Erklärungen nicht sieht, sondern noch viel erstaunlicher, dass er die am selben Tag erfolgten Aeusserungen Ssasonoffs zu Sir G. Buchanan (Blaubuch Nr. 17), dass Oesterreichs Aktion gegen Russland gerichtet sei, dass Russland mit Frankreichs Hilfe zum Krieg entschlossen sei, wenn Oesterreich nicht nachgebe und er, Buchanan, die Lage als verzweifelt ansehen könne», offenbar übersehen hat. Denn dann hätte er einen Friedenswillen Russlands nicht feststellen können.

Ferrero aber fährt in seiner seltsamen und willkürlichen Geschichtskonstruktion fort. Die deutsche Regierung verlangt nach wie vor, dass Russland sich in den österreichisch-serbischen Streitfall nicht einmische; insbesondere, nachdem Oesterreich erklärt hat, dass es eine Gebietvergrösserung auf Kosten Serbiens nicht beabsichtige. Nach dieser Auffassung meint Ferrero, wäre die ganze Verantwortung für den Weltbrand auf Russland gefallen. Gewiss, und ich wenigstens kann nicht begreifen, wie man die Sache anders auffassen kann. «Was Deutschland sehr naiv verlangte», fährt Ferrero fort, «wäre die totale Kapitulation Russlands gewesen: Russland hätte, wie schon im Jahr 1909, die ganzen Kosten des Friedens bezahlt».

Was hat Russland im Jahr 1909 bezahlt oder auch nur aufgegeben, ausser dem Anspruch einer vollkommen unberechtigten Einmischung in Angelegenheiten, die es nichts angingen? Gehörte Bosnien und die Herzegowina ihm? oder hatten sie ihm je gehört? Oesterreich-Ungarn hatte einen seit 40 Jahren bestehenden faktischen Zustand in einen dauernden verwandelt; ein Vorgang, der staatsrechtlich wie völkerrechtlich Russland nicht das geringste anging, und zu dem es überdies in geheimen Abmachungen seine Zustimmung längst gegeben hatte; die ganze Sache berührte nicht einmal seine Grenzen. Russlands Einmischung war eine rechtlich, wie politisch durch nichts berechtigte Anmassung, und als Deutschlands sehr freundliche, aber bestimmte Erklärung es zwang, den Frieden zu wahren, hatte es nicht einen Mann, nicht eine Kopeke, nicht einen Fuss breit Landes eingebüsst. Oesterreich hingegen hatte um des Friedens mit der Türkei willen Land und Geld hergeben müssen. Es wäre wirklich der Neugier wert, zu erfahren, wie der Historiker Ferrero seinen Ausspruch begründen will.

Nicht viel anders war die Sachlage im Jahr 1914. Oesterreich-Ungarn hätte kapituliert, wenn es sich nach der jahrelangen Agitation, den Unruhestiftungen, den Morden, mit der Scheinbeantwortung seines Ultimatums begnügt hätte, es hätte kläglich und lächerlich kapituliert; die Krankheit und Gefahr im Südosten wäre ins Riesengrosse gewachsen, und der Krieg, auf den Serbien rechnete und hoffte, zu dem alle seine Handlungen trieben, den seine Aspirationen zu ihrer Verwirklichung brauchten, wäre früher oder später erst recht ausgebrochen.

Von Seite Russlands, dem niemand etwas getan, das niemand geschädigt hatte, wäre es lediglich eine Nichtintervention gewesen, die nur seinen Ausdehnungsgelüsten, nicht aber seinem Bestand Schaden gebracht hätte.

In diesen Erwägungen wird stets der Kern der Frage liegen.

Es gab daher in diesem Augenblick nur ein Mittel, den Frieden zu erhalten: die Nichtintervention Russlands, und die von Grey vorgeschlagene Vermittelung der Mächte in Wien und Petersburg nur dann, wenn sie dazu führte.

Wiederum konstruiert Ferrero – willkürlich oder aus Mangel an Aufmerksamkeit? – einen Widerspruch in der Haltung des Auswärtigen Amtes. Er konstatiert, dass der deutsche Gesandte am 27. Juli Sir Edward Grey mitteilte, die deutsche Regierung sei mit dieser Vermittelung einverstanden (Gr. Blaubuch Nr. 46), während nach Nr. 43 der Staatssekretär am selben Tag die Viermächtekonferenz ablehnte. Beides war etwas ganz verschiedenes: mit einer Vermittelung, also einer Einwirkung der Ententemächte in Petersburg und der Dreibundmächte in Wien, war die deutsche Regierung nicht nur einverstanden, sie hat auch das ihre redlich getan, wie auf Seite 166 ff. gezeigt worden ist. Dagegen war eine Entscheidung der Frage durch die Viermächtekonferenz etwas ganz anderes und nicht annehmbar. Die Konferenz war, wie auf Seite 211 ff. hinlänglich klargelegt ist, ein sicheres Mittel, Serbien und Russland zum diplomatischen Sieg zu verhelfen; darum hat Russland sie auch immer wieder, zuletzt mit wahrhaft verzweifelten Mitteln, durchzusetzen versucht. Es ist also durchaus nicht «schwer, diese Widersprüche aufzuklären», wie Ferrero behauptet: sie bestehen nur in seiner Schrift, nicht in der Wirklichkeit, und man kann nur annehmen, dass er die Akten nicht aufmerksam genug gelesen hat. Die Mitteilung des deutschen Botschafters, dass Deutschland eine «Vermittlung im Prinzip» annehme, erfolgte nach der Ablehnung der Konferenz, und ist im englischen Blaubuch nach ihr veröffentlicht. Warum erwähnt Ferrero sie vorher? um den «Widerspruch» zu konstruieren? Ist das ganz loyal und seiner würdig? Eine passive Resistenz der deutschen Regierung fand durchaus nicht statt. Was sie abwies, war immer das gleiche: Oesterreich zu einem schädlichen und zwecklosen Aufgeben seiner Forderungen zu bestimmen. Gewiss, das ist ohne weiteres zuzugeben: es bestand ein vollkommener Gegensatz zwischen den Anschauungen der Regierungen in Berlin und Wien und derer in Petersburg, Paris und London: die einen hielten eine Einmischung Russlands für gänzlich unberechtigt, die letzteren nicht. Ferrero schliesst sich den Ententemächten an: er gibt auch einen Grund an: «Russland hatte von Anfang der Krise erklärt, dass es sich einmischen werde». Einen andern und besseren habe ich in seiner Schrift nicht gefunden.

Am 28. Juli entdeckt er einen neuen Widerspruch in der Haltung der deutschen Regierung: sie gibt ihre passive Resistenz auf, sie erklärt nochmals, eine Konferenz nicht, eine Vermittlung wohl annehmen zu können, also in der Tat genau das gleiche, wie vorher und bisher. Der Kaiser schreibt an den Zaren, um ihn zur Anerkennung der österreichischen Forderungen zu bewegen, dann will er eine befriedigende Verständigung mit Russland befürworten. Warum lässt Ferrero den ersten Teil der Kaiserdepesche weg, umsomehr, als der Kaiser in seiner nächsten Depesche nochmals betont, wie vollkommen er das österreichische Vorgehen billigt? Nur um einen Widerspruch konstruieren zu können? Diese historische Methode, die Tatsachen nach im Hirn geborenen Antithesen umzudrehen, scheint mir nicht empfehlenswert.

Ferrero konstruiert hier noch einen Gegensatz; nach einer Note des französischen Gesandten Cambon (Gelbbuch Nr. 67), hätte Herr von Jagow auf die Frage, ob Deutschland bereits seinerseits mobilisieren würde, wenn Russland nur an der österreichischen Grenze mobilisierte, mit «nein» geantwortet, und den Botschafter formell ermächtigt, «diese Beschränkung» seiner Regierung bekannt zu geben. Nun hat ja Deutschland auch daraufhin noch nicht mobilisiert, sondern Russland nur beschwören lassen, die Mobilisierung einzustellen. Herr von Jagow hatte ausdrücklich hinzugefügt, um die Beschränkung nicht missverstehen zu lassen, «wenn Russland Oesterreich angreife, müsse Deutschland Russland angreifen». Die Beschränkung war also eine sehr umschriebene, dagegen die Frage des französischen Botschafters eine recht verfängliche.

Am 29. Juli verschlimmert sich die Lage: denn Russland mobilisiert in den vier an Oesterreich grenzenden Militärbezirken. Ssasonoff rechtfertigt das damit, dass Oesterreich den grössten Teil seines Heeres mobilisiert hätte. Dies war eine Lüge. Ferrero druckt sie ohne jede Kritik, ohne jeden Zweifel ab, obschon ihr hinreichend widersprochen worden ist. Oesterreich hatte nur gegen Serbien und nur 16 von 60 Divisionen mobilisiert. Auf dies bedrohliche Vorgehen Russlands hin folgt die Beratung von Potsdam, folgt die Frage des Reichskanzlers an den englischen Botschafter, ob England neutral bleiben werde, wenn es zum Kriege kommen sollte, und unter welchen Bedingungen.

Und nun kommt das Erstaunliche, dass auch der Historiker Ferrero gleich den andern «Anklägern» nicht in der drohenden Tat Russlands, sondern in der Beratung von Potsdam und in der Frage des Reichskanzlers, – die doch beides Folgen der russischen Tat waren, – die Verschärfung der Situation sieht!

Von Anfang an hatte Ssasonoff sich zum Kriege entschlossen erklärt, falls Oesterreich gegen Serbien vorgehen würde; nun hatte er gegen Oesterreich mobilisiert: darauf fragt Deutschland, das durch sein Bündnis gezwungen ist, Oesterreich im Kriegsfalle beizustehen, bei England an, ob es in dem von Russland angekündigten und so deutlich drohenden Kriege neutral bleiben werde und unter welchen Bedingungen? und mit dieser Frage wird der Schuldbeweis gegen Deutschland geführt! Heisst das nicht die Tatsachen und ihre logische Folge auf den Kopf stellen?

Gleichzeitig wird noch ein «dunkler Punkt» im Hintergrund angedeutet, die Beratung von Potsdam, über deren Inhalt man genau sowenig weiss wie über die Unterredungen und Beratungen der Staatsoberhäupter mit den politischen und militärischen Chefs in allen andern Ländern, die in diesen Tagen und am gleichen Tage stattfanden.

Vielleicht erinnert der Jurist Ferrero den Historiker Ferrero daran, dass bei allen Justizmorden so vorgegangen wird; dass insbesondere in dem schweren Justizverbrechen, an dessen Aufklärung wir beide gearbeitet haben, der Schluss gezogen wurde: da für die Verabredung der Angeklagten kein Beweis vorliegt, so ist klar, dass sie die Tat bei jener Unterredung beschlossen haben, von deren Inhalt nichts bekannt ist! Vielleicht erinnert er sich dieses verwerflichen Vorgehens der Richter, die wir beide bekämpft haben?

Worin nun unterscheidet sich sein Vorgehen als Geschichtskritiker von dem des Staatsanwalts in Turin?

Sein Vorgehen ist um so bedenklicher, als er, um die abermalige Veränderung der deutschen Haltung zu belegen, die zweite Kaiserdepesche anführt, zum Beweise, dass sie eine viel schärfere Tonart anschlage, – ohne zu sagen, dass inzwischen eine Depesche des Zaren eingelaufen war, in der Oesterreichs Vorgehen als «schmählich» bezeichnet wurde, ohne zu sagen, dass er von der ersten Kaiserdepesche nur den versöhnlichen Schluss mitgeteilt, den energischen ersten Teil weggelassen hatte. So lassen sich Gegensätze allerdings sehr leicht konstruieren. Nur scheint mir das nicht das Verfahren eines objektiven Historikers.

Noch sonderbarer ist, dass Ferrero als weiteren Beweis des verhängnisvollen Umschwungs von Potsdam, den in der darauf folgenden Nacht unternommenen Schritt des deutschen Botschafters in Petersburg, Grafen Pourtalès, anführt, als dieser Ssasonoff weinend beschwor, von der verhängnisvollen Mobilisierung abzustehen, Deutschland wolle selbst die Garantie übernehmen, dass Serbiens Integrität gewahrt werden sollte! Zeigt das nicht aufs deutlichste, dass Deutschland wohl das österreichische Vorgehen gegen Serbien billigte, aber keineswegs den Ausbruch des Weltkrieges wünschte?

Die ganze Beurteilung der Vorgänge, die zum Ausbruch des Weltkrieges führten – nicht der Weltspannung, an der hauptsächlich England arbeitete – liegt in der Beantwortung der zwei Fragen:

Hatte Oesterreich nach unendlichen Herausforderungen und Morden, sowie nach der Ermordung seines künftigen Kaisers, das Recht, von Serbien weitgehende Garantien zu verlangen und sie eventuell mit den Waffen zu erzwingen?

Hatte Russland, um die Bedrohung und Schwächung eines seiner Aussenposten, den es gegen Oesterreich hetzte, zu verhüten, das Recht, den Weltkrieg herbeizuführen?

Wer die erste dieser beiden Fragen verneint und die zweite bejaht, mit dem kann man allerdings nicht diskutiren.

An der gleichen Stelle erklärt Ferrero das russische Vorgehen damit, dass Russland das «schroffe» Eingreifen Deutschland im bosnischen Konflikt von 1909 und die «brutale» Weise, in der Deutschland im entscheidenden Moment aus seiner Zurückhaltung herausgetreten war, nicht vergessen konnte. Leider beruht diese Erklärung lediglich auf Zeitungslügen. Dass Russland damals noch weniger Recht zum Eingreifen hatte als im Jahr 1914, ist bereits oben gezeigt worden: Deutschland hatte den Frieden erhalten, indem es auf die unabweisliche Gefahr dieses Eingreifens hinwies; dies aber war weder in schroffer, noch in brutaler Weise geschehen, sondern in der denkbar freundlichsten und behutsamsten Form. Herr von Kiderlen-Wächter hat am 16. April 1911 selbst erzählt (im Gespräch mit Professor G. Egelhaaf, siehe dessen «Geschichte der Neuesten Zeit», Stuttgart 1917, S. 607), dass er zwei Tage an dieser Note gearbeitet habe, um die sachliche Entschiedenheit in möglichst milder Form zum Ausdruck zu bringen, und die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung» hat dies schon damals den Behauptungen uniformierter und feindseliger Blätter gegenüber festgestellt.

«Am 30.», sagt Ferrero, «beschleunigten beide Reiche ihre militärischen Vorbereitungen: Russland, weil es nunmehr allen Grund hatte, den Absichten Deutschlands zu misstrauen: Deutschland, weil es zum Kriege entschlossen war.»

Alles in diesen Sätzen Gesagte ist irreführend und unlogisch. Zwischen den Vorkehrungen beider Länder war der ungeheure Unterschied, dass Russland bereits mobilisierte, während Deutschland nur hiezu Vorbereitungen traf. Wenn Ferrero aber sagt, Deutschland tat dies, weil es den Krieg wollte, so ist das lediglich seine Vermutung, und eine durch nichts begründete Vermutung; meinte er aber damit nur, dass es zum Kriege entschlossen war, falls Russland gegen Oesterreich vorging, so war dies nichts Neues, sondern folgte, wie alle Welt wusste, aus dem Dreibundvertrag, dessen wesentlichen Inhalt diese Verpflichtung bildete, und war am ersten Tag der Krise gesagt worden.

Was Graf Pourtalès in der Nacht des 29. Ssasonoff mitgeteilt hatte, war im Grunde dasselbe, was am 24. Herr von Schœn und die andern Botschafter in Paris, London und Petersburg erklärt, war nicht wesentlich verschieden von dem, was am Tage darauf der englische Botschafter vorausgesagt hatte. Russland wusste seit langem, dass ein Angriff auf Oesterreich Deutschland in den Krieg zwingen musste, und es hatte «nunmehr» genau dieselben Gründe, Deutschland zu misstrauen, wie am ersten Tage der Krise; es konnte dieser Wirkung von Anfang an ganz gewiss sein.

Es folgt eine Reihe mehr oder minder grober Irrtümer: wie fast alle andern Autoren, fällt auch Ferrero auf die Fälschung hinein, dass Oesterreich im letzten Augenblick bereit gewesen wäre, den Inhalt des Ultimatums mit den Grossmächten zu erörtern: ein Beweis höchst ungenügender und oberflächlichen Quellenstudiums, denn bei schärferer Prüfung hätte der Historiker Ferrero gefunden, dass Oesterreich den Inhalt des Ultimatums nicht diskutieren, insbesondere von den Forderungen nichts ablassen wollte, noch weniger aber mit den Grossmächten verhandeln wollte, sondern lediglich bereit war, der russischen Regierung, – nicht den Mächten! – zu dem infolge des mit Serbien begonnenen Krieges nicht mehr aktuellen Ultimatum erläuternde Bemerkungen zu geben, die vermutlich wieder gesagt hätten, dass Oesterreich keine Gebietserwerbung, keine Abhängigkeit Serbiens erstrebe.

Dagegen weiss er nichts von dem Vermittlungsvorschlag Greys, den sein Landsmann Luzzatti als die einzig mögliche Lösung gepriesen, den Deutschland unterstützte und Oesterreich annahm, sondern schreibt die vollkommen falsche Behauptung hin, Deutschland habe alle englischen Vermittlungsvorschläge durch seinen «passiven Widerstand» zum Scheitern gebracht.

Man sieht, so kurz und ungenügend die Darstellung ist, die Ferrero merkwürdigerweise eine «lange Analyse» nennt, so ist sie doch an Irrtümern und Fehlern reich genug.

In einem Schlussabsatz, «die Verantwortlichen», fasst er gleichsam all seine Irrtümer zusammen:

Er sagt, Russland sei vom ersten Tag an «deutlich» gewesen. Das meinen wir auch, aber was das anders denn eine Drohung bedeuten soll, verstehe ich nicht. Die «schwankende Haltung» der deutschen Regierung ist Ferrero's konstruktivem Erfindungsgeist entsprungen; noch verkehrter ist die Behauptung, die österreichische Regierung sei im Gegenteil zur deutschen immer nachgiebiger geworden – Oesterreich, das am 23. das Ultimatum stellte, am 25. den Gesandten abberief und militärische Vorbereitungen begann, am 28. den Krieg erklärte und sofort durch seine Monitore Belgrad beschiessen liess, am 29., auf die Kunde von der russischen Mobilisierung, auch im Norden zu mobilisieren begann, am 31. die allgemeine Mobilisierung beschloss! Wenn das steigende Nachgiebigkeit heisst!

Man sieht, welcher logischer Trapezkunststücke, welcher ungeheuerlichen Verdrehungen die Ankläger der Zentralmächte bedürfen, um ihre Auffassungen durchzuführen.

Worin Oesterreich nachgiebig war, war es das vom ersten Tag an, nämlich immer bereit, mit Russland direkt zu verhandeln, und ihm die Wahrung des serbischen Gebietes und anderes zuzusagen, falls seine Forderungen anerkannt wurden; am 31. Juli erklärte es sich auch bereit, die Konferenz anzunehmen, wenn man ihm gestattete, Belgrad als Pfand zu besetzen, wie Grey am 29. vorgeschlagen hatte. Aber gerade diese Nachgiebigkeit wird ja von Ferrero, wie von allen andern, verschwiegen, – ich bin indessen überzeugt, er hätte es gewiss nicht getan, wenn er die Quellen weniger flüchtig gelesen hätte.

Schwankend war, zum mindesten dem Anschein nach, die Haltung nur eines Staates: Englands. Das ist bei der Besprechung der englischen Politik im zweiten Teil dieser Schrift gezeigt worden.

Gleich dem Autor des Buches «J'accuse», sieht auch Ferrero noch einen weiteren Widerspruch darin, dass Oesterreich die russische Mobilisierung noch nicht als feindselige Handlung auffassen wollte, während Deutschland ihre Einstellung forderte.

Für den, der die Sachlage nur einigermassen kennt, gibt es keinen einfacher zu lösenden Widerspruch:

Oesterreich war entschlossen, gegen Serbien vorzugehen, seit dem 27. auch mit Waffengewalt, und wünschte einen Krieg mit Russland, der alles in Frage stellen musste, zu vermeiden. Es konnte immerhin hoffen, dass Russland durch eine entschiedene deutsche Erklärung zur Besinnung und zum Nachgeben gebracht werden könnte, und es verlangte diese Erklärung von Deutschland in zwei Noten Nr. 42 und 48 des Rotbuches vom 28. und 29. Juli. Als Russland an der österreichischen Grenze mobilisierte, wurde Belgrad bereits beschossen; Oesterreich, das im Vertrauen auf Russlands Zurückweichen mehr Truppen im Süden stehen hatte, als im Kriegsfall im Norden entbehrlich waren (s. S. 173), hatte allen Grund, den Kriegsanfang mit Russland möglichst hinauszuschieben.

Deutschland musste, wenn es nicht in den Krieg hineingezogen werden wollte, Russland zur Einstellung seiner Mobilisierung bewegen, sonst musste es sich bereit machen, dem in Serbien bereits engagierten Oesterreich zu Hilfe zu kommen. Es tat dies zunächst auf diplomatischem Weg, durch die mit Tränen vorgebrachte Bitte des Grafen Pourtalès, von der Mobilisierung abzulassen. Als Russland darauf nicht einging, sondern, Deutschlands Bundesentschlossenheit erkennend, auch gegen Deutschland zu mobilisieren begann, kam das Ultimatum.

Klarer kann ein Vorgehen gar nicht sein, es wäre denn für Beurteiler, die nicht klar sehen wollen, und solche, die sich gröblich täuschen lassen.

Was Ferrero über die Vorgänge in Deutschland sagt, die zum Kriege führten, scheint mir für einen Mann, der seit Jahren kaum oder gar nicht in Deutschland war, der die deutsche Sprache nicht oder nur in ganz ungenügendem Mass beherrscht, verwegen : er sagt allerdings selbst, dass er diese Kenntnis den «kostbaren und klaren Dokumenten» verdankt, die die Einleitung zum Gelbbuch bilden. Armer Historiker!

Leider hat Ferrero seither in italienischen Blättern noch ganz andere Dinge geschrieben, die er nie wird verantworten können. Ich fürchte, der Politiker Ferrero hat den Historiker völlig verdorben.


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