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Der Ententeich

Es regnete, oh, wie es regnete!

Der Vater sagte am Frühstückstisch: »Einerseits ist dieser Regen für unsern Garten Gold wert, andererseits muß ich heute mindestens den halben Tag auf den Ämtern rumlaufen, ich werde naß wie eine Katze werden!«

Der vorlaute sechzehnjährige Uli meinte: »Aber, Papa, auf den Ämtern regnet es doch nicht durch! Die haben doch heile Dächer!«

Mißmutig antwortete der Vater: »Aber die Straßen zwischen den Ämtern haben keine Dächer, mein kluger Sohn! Da habe ich die schönste Gelegenheit, naß zu werden!«

Die Mutter unterbrach ein drohendes Wortgefecht und fragte besorgt: »Und was wirst du auf den Kopf setzen, Rudi? Du hast doch deine Mütze verloren ...«

»Nicht verloren!« widersprach der Vater heftig. »Sie ist mir gestohlen worden.« Die Mutter lächelte sanft. »Jedenfalls nehme ich das an; denn die Mütze ist weg«, fuhr der Vater fort. »Und was setze ich bei diesem Regen auf den Kopf?«

Er schwieg gedankenvoll. Alle schwiegen. Dann sagte die Tochter, die Mücke: »Du hast doch noch deinen Ententeich, Papa!«

Die Mutter rief erschrocken: »Du wirst doch das alte abscheuliche Ding nicht aufsetzen, Rudi!«

Aber es war schon zu spät. Der Vater hing wie die meisten Männer an den ältesten Sachen am meisten. »Natürlich habe ich noch den Ententeich! Klar, daß ich den aufsetze! Danke schön, Mückchen!«

Alle schauten sie zu, wie der Vater den Ententeich aufsetzte. Er stand im Regenmantel vor dem Spiegel und zog sich das Ding vorsichtig ziemlich bis auf die Ohren. Der Ententeich war ursprünglich ein durchaus normaler, ja fast vornehmer Hut gewesen. Aber vom ersten Anfang an hatte der Vater darauf bestanden, statt wie andere gesittete Männer einen Längskniff in den Hutkopf zu machen, diesen kreisförmig zu vertiefen, so daß eine Art rundes Becken entstand, das sich bei Regen mit Wasser füllte, irgendwann von irgendwem »Der Ententeich« benannt. Die Krempe hing nach allen Seiten herab, aber oben war das Bassin. Der Vater betrachtete sich zufrieden. »Was du nur immer gegen den Hut hast, Alma!« sagte er. »Viele wären froh, wenn sie so einen hätten!«

»Den stiehlt dir keiner!« stellte die Mutter fest. »Einfach abscheulich siehst du darin aus, Rudi!«

»Wie ein Handwerker!« sagte Uli, aber wohlwollend.

»Richtig!« stimmte der Vater erfreut zu. »Wie ein Tischlermeister. Aus Jever oder Oldenburg. Ich bin sehr zufrieden, sehr!« Damit warf er noch einen letzten Blick auf sein Spiegelbild und nahm Abschied von den Seinen. Er trat in den Regen hinaus, mit dem Ententeich.

Von den guten Wünschen seiner gesamten Familie geleitet, hatte der Vater Abschied genommen, ganz still und leise war er heimgekehrt. Er hatte sich das warmgestellte Essen aus der Küche geholt, die Mutter fand ihn hungrig löffelnd im Wohnzimmer. »Hier sitzt du!« rief sie erstaunt. »Warum meldest du dich denn nicht? War das Essen denn noch wirklich warm? Sicher hast du Ärger auf den Ämtern gehabt!«

»Och!« antwortete der Vater und löffelte weiter. Dann aber hob er doch den Blick. »Weißt du, Alma«, gestand er schuldbewußt, »ich habe da, glaube ich, einen ekelhaften Schwupper gemacht. Dieser Ententeich hat mich elend reingerissen!«

»Ich sage es ja!« rief die Mutter. »Nun gibst du mir aber auch die Erlaubnis, daß ich ihn mit einem von meinen Hüten gegen einen neuen eintausche!«

Aber ehe noch die Erlaubnis gegeben war, brachen die Kinder in das Zimmer ein. »Nun, Meister!« rief Uli. »Was macht das edle Tischlerhandwerk? Immer fleißig den Hobel ausgeblasen?«, und er griente den Vater an.

»Schweig mir stille von der Tischlerei«, rief der Vater ärgerlich, besann sich aber gleich und sagte ruhiger: »Setzt euch mal hin, Kinder. Ich wollte grade eurer Mutter von einem Fehler erzählen, den ich heute begangen habe. Hört mir zu! Das kann mir gar nicht schaden – und euch auch nicht!«

Sie setzten sich hin, gespannt horchend. Sicher hatte der Vater wieder was erlebt, meist erlebte er was, wenn er in die Stadt fuhr, und konnte dann herrlich davon erzählen.

»Also«, fing er an, »ihr erinnert euch doch, wie mich der Uli heute früh zum Tischlermeister gemacht hat. Natürlich habe ich den ganzen Tag nicht wieder daran gedacht, auch nicht, als ich wartend an der Haltestelle der 47 stand und einen Zettel las: ›Säge und Beil zu verkaufen‹. Ich dachte: Die Säge könnten wir gut gebrauchen. Ich will doch mal nachfragen. Sie wird ja schon weg sein, aber zum Essen komme ich doch nicht mehr rechtzeitig.

Ich ging hin, vier Treppen, das heißt eigentlich fünf, wenn man das Hochparterre mitrechnet; ein kleiner alter Mann, der mir aufmacht, wißt ihr, so ein Männchen wie aus zerknittertem Papier, zum Umpusten – man versteht nicht, wie solche den Krieg mit Bomben und Hungern überstanden haben. ›Ist die Säge noch da?‹ frage ich. Ja, die Säge ist da, sie steht hinter dem Schrank. Es ist keine Bügelsäge, wie ich sie gerne für unser Brennholz gehabt hätte, aber eine schöne große Tischlersäge, der Griff ganz poliert von den vielen Händen, die sie angefaßt haben. Ein gutes, breites Sägeblatt ...

Ich sehe mir also die Säge genau an, peile das Sägeblatt lang, ob auch kein Zahn fehlt, da sagt das Männlein zu mir: ›Sie sind wohl Tischlermeister?‹ In demselben Augenblick fällt mir ein, was der Uli am Morgen gesagt hat, und ich lüge munter: ›Jawohl, bin ich. Was soll denn die Säge kosten?‹ – ›Fünfundzwanzig Mark‹, antwortet das Männchen und bekommt gleich einen Schreck vor seinem eigenen Mut. ›Aber wenn es Ihnen zuviel ist?‹ – ›Wissen Sie was‹, sage ich nun, ›ich werde Ihnen zwanzig Mark geben, das ist die Säge mir heute wert ...‹

Er sieht mich an. Ich sehe ihn an, wir grinsen beide, und dann sagt er: ›Kommen Sie mal in meine Küche, da ist nämlich eine Granate reingegangen.‹ Na, in der Küche sah es nicht schön aus, sie hatten wohl ein Notdach gemacht, aber es regnete durch, und die Möbel waren auch ziemlich ramponiert. Die Küchenstühle saßen mit dem Sitz auf der Erde und hatten ihre Beine fein säuberlich hinter sich an die Wand gelehnt, und in dem Küchenbüfett waren von den Granatsplittern Löcher.

›Da müßte man Sperrholz drüber machen‹, sagte ich. – ›Ja‹, antwortete das Männlein ganz eifrig, ›das müßte man. Aber wer gibt mir ollem Mann Sperrholz? Haben Sie was?‹ – Du weißt, Uli, wir haben noch ein paar Sperrholzplatten in der Garage stehen, ich sagte also: ›Och, etwas habe ich noch. Was Sie hier brauchen, will ich Ihnen geben.‹ – ›Schön!‹ ruft er schnell. ›Das ist ein Wort, Meister! Und wann kommen Sie und machen mir meine Möbel?‹

Daran hatte ich nun nicht im Traume gedacht, und ich sagte verlegen, ich hätte soviel Arbeit, vorläufig könnte ich nichts versprechen ... ›Ach!‹ sagte das Männlein. ›So reden sie alle. Nun seien Sie mal nicht so, Meister, ich bin auch nicht so. Ich gebe Ihnen die Säge für zwanzig Emm, und Ihre Arbeit bezahle ich wie alle, nun machen Sie meiner Frau und mir auch die Küche heil!‹ – Na, Kinder, ihr könnt euch denken, ich habe ihm natürlich nichts versprochen. Konnte ich ja gar nicht, ich verstehe ja nichts von Tischlerarbeit, aber er denkt natürlich ...«

Der Vater brach ab und runzelte unmutig die Stirn. Dann sagte er in die erwartungsvolle Stille hinein: »Aber denkt doch, was für ein Zufall! Morgens sagt Uli Tischlermeister, nachmittags kaufe ich 'ne Tischlersäge und werde für 'nen Tischler gehalten und kriege einen Tischlerauftrag! Wenn das nicht ein komischer Zufall ist! Und alles wegen des Ententeiches ...«

Wieder schwieg der Vater, und auch die andern schwiegen und sahen ihn nur erwartungsvoll an, als müsse durchaus noch was kommen. Aber es kam nichts mehr.

Dann sagte die Mutter eilig, abschließend: »Gott sei Dank, daß du den Auftrag nicht angenommen hast, Rudi! Er weiß doch nicht unsere Adresse?«

»Nein, natürlich nicht!« rief der Vater, ganz erschrocken bei dem Gedanken.

Nach einer Weile sagte in die Stille hinein der Uli: »Aber die Säge hast du gekauft, Papa?«

»Ja, selbstverständlich. Sie hängt in der Feuerung. Kannst sie dir gleich ansehen. Ist 'ne gute Tischlersäge, Uli!«

»Und was hast du dafür bezahlt, Papa?« fragte der Sohn weiter. »Zwanzig oder fünfundzwanzig Mark?«

»Zwanzig Mark«, antwortete der Vater grämlich. »Er wollte doch nicht mehr nehmen, der Opa!«

»Ach, laß doch diese Fragerei, Uli!« sagte die Mutter vermittelnd. »Du siehst doch, du ärgerst bloß den Papa!«

»Wenn du nur zwanzig Mark gezahlt hast, Papa«, verkündete der Sohn unerschüttert, »dann mußt du auch dem Opa die Möbel flicken. Das geht einfach nicht anders.«

Der Vater wollte zornig werden, aber dann sagte er doch lächelnd: »Darum habe ich ja gesagt, ich habe einen Schwupper gemacht. Ich habe ein schlechtes Gewissen, ich gebe es zu, Söhner. Dieser verdammte Ententeich hat mich reingerissen ...«

»Gleich morgen tausche ich ihn um!« rief die Mutter eifrig.

»Aber«, fuhr der Vater, noch heiterer lächelnd, fort, »aber ich habe doch, fällt mir eben ein, einen recht geschickten Sohn, der ein bißchen mit Hammer und Stechbeitel und Hobel umzugehen weiß.« Der Vater wurde über den endlich entdeckten Ausweg immer vergnügter. »Überhaupt«, fuhr er fort, »macht der Meister solche Läpperreparaturen nie selbst, da schickt er seinen Gesellen oder auch nur den Lehrling. Wie ist das, Lehrling? Binzstraße 76, vier Treppen, eigentlich fünf, Lorenz heißt der Opa.«

»Das möchtest du, Papa!« rief der Sohn und war rot vor Ärger. »Jetzt soll ich deine Dummheiten ausbaden!«

»Nun«, sagte der Vater bedachtsam, »ich glaube, ich habe schon manchmal deine Dummheiten ausbaden müssen, Uli. Denke zum Beispiel an meinen letzten Besuch bei deinem Direktor. Vielleicht überlegst du dir die Sache noch bis zum Abend und gibst mir dann Bescheid.«

Damit wurde von der Sache erst einmal nicht geredet, aber es gab im Verlaufe des Nachmittags doch einige Heimlichkeiten: Der Sohn verschwand still in den Regen, und die Mutter suchte erfolglos nach dem Ententeich, den der Vater versteckt hatte – eigentlich war er doch noch ein sehr brauchbarer Hut!

Beim Abendessen sprach der Sohn heiter zum Vater: »Also, Papa, ich bin bei deinem komischen Opa gewesen, habe alles ausgemessen und mir notiert, was wir brauchen. Ich glaube, wir müssen dem Daddy helfen, und ich werde den Kram schon einigermaßen hinkriegen. Aber du mußt mitkommen, Papa, erstens einmal, weil der Opa gar kein Vertrauen zu Lehrlingen hat, sondern durchaus den Meister dabeihaben will, und zweitens brauche ich dich, daß du mir die Sperrholzplatten hältst beim Zuschneiden und Anmachen.«

»Das kann auch der Opa!« rief der Vater eilig. »Ich habe einen Haufen dringende Schreiberei für die Zeitung!«

»Der Opa kann das nicht, Papa!« widersprach der Sohn unerbittlich. »Hast du nicht gesehen, was für zitterige Hände er hat? Nein, du mußt unbedingt mitkommen, Papa, du wirst doch so 'nen ollen Mann nicht enttäuschen!«

»Na also, schön!« entschloß sich der Vater. »Schließlich ist's nur recht und billig, wenn ich für meine Dummheit büße. Aber das sage ich dir, Uli, helfen kann ich dir nichts, ich stehe da bloß rum. Der Opa wird mich für 'nen komischen Meister ansehen.«

»Ich werde dich schon anstellen, Papa!« verkündete der Sohn verheißungsvoll, und das tat er denn auch am nächsten Vormittag. »Meesta!« sagte er im schönsten Berlinerisch. »Wie soll ick det denn nu mit de Beene von die Stühle halten? Soll ick die valeimen oder schraub ick die feste?«

»Schraube sie an, Uli!« sagte der Meister, und der Opa nickte Beifall.

»Na ja, wie Se meenen, Meesta«, sagte der »Lehrling« mit einem tiefen Seufzer. »Ick meene man bloß: Leim, det is reelle Tischlerarbeet, aba Schrauben, det is eegentlich doch bloß Pfuscherei! Bloß, det ick een Wort sare, Meesta, ick tu allens, ick spucke die Beene ooch an!«

»Es ist ein Kreuz heute mit den Lehrlingen, Herr Lorenz«, sagte der Meister vernehmlich, »alle sind sie neunmalklug und ewig nichts wie Widerreden!«

Der Opa nickte, aber der Lehrling sagte: »Mit den Meestan is det heute manchmal ooch een Kreuz – nich bei uns natürlich, Meesta, nich bei uns! Sie packen an, Meesta! Sie arbeeten! – Würden Se mir mal den Hobel reichen, Meesta? Ich will hier noch mal 'ne Kante abstoßen!«

»Uli!« flüsterte der Vater zornig, als er dem Sohne den Hobel reichte. »Uli, wenn du weiter hier so angibst, klebe ich dir eine, richtig, wie ein Meister seinem Lehrling!«

»Aber jewiß doch, Meesta!« antwortete der Lehrling unerschüttert. »Jewiß kleben Se mir noch eene für mein Maulwerk. Det sagt schon meene Mutta imma, mit dem Maul schlage ick janz uff meenen Vata! Der ist nämlich ooch imma mit de Schnauze vornwech, Meesta, wissen Se, und nachher sitzt er ewig in de Tinte, vastehn Se, Meesta! – Mit det Sperrholz, wie ha'm Se sich det nu jedacht, Meesta?«

Und so ging es weiter, zwei Stunden Reparatur hindurch.

»Schurke!« sagte der Vater zu seinem Sohn auf dem Heimweg. »Du hast mich ganz schön für meine dummen Lügen braten lassen! Aber warte, das nächste Mal, wo du in der Klemme sitzt, werde ich mich rächen!«

»Bringst du ja gar nicht fertig, Papa!« antwortete munter der Sohn. »Bist du schon viel zu abgeklärt und edel dafür! Solche gemeinen Sachen fressen immer nur wir jungen Leute aus. – Wie ist es übrigens mit den fünf Mark, die du beim Opa kassiert hast? Die kriege doch ich für meine Arbeit!«

»Die sind für mein Sperrholz!« sagte der Vater rasch. »Und im übrigen kriegt sie die Mutter. Ich habe es mir noch einmal überlegt, ich werde den Ententeich doch umtauschen lassen, er bringt mich ständig in faule Situationen und in die Hände von Erpressern. Und bei dem Tausch muß die Mutter zuzahlen.«

»Ach, Papa!« sagte der Sohn, »umtauschen hilft doch auch nicht. Du kommst auch ohne Ententeich wieder in die Tinte. Du hast einmal zuviel Phantasie. Wenn dir einer sagt, du siehst aus wie ein Tischlermeister, dann spielst du auch gleich einen. Zuviel Phantasie, Meesta!«

»Gottlob!« rief der Vater. »Gottlob habe ich zuviel Phantasie – wovon lebten wir sonst?! – Im übrigen habe ich mich endgültig entschlossen: Ich behalte den Ententeich. Hier hast du die fünf Mark!«

»Wankelmütiges Alter!« sagte der Sohn und steckte das Geld ein. »Unentschlossener Greiser – außerdem: danke schön!«

Und friedlich marschierten die beiden nach Hause, Uli mit bloßem Kopf und dem Werkzeugrucksack auf dem Buckel, der Vater die Tischlersäge (rechtens nur mit zwanzig Mark bezahlt) über der Schulter und auf dem Kopf den Ententeich.


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