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Wie vor dreißig Jahren

Damals, als Gotthold sich in sie verliebte, war Tini ein junges dunkelblondes schlankes Mädchen. Sie war frisch aus Thüringen gekommen und bediente die Gäste am Mittagstisch ihrer Verwandten, irgendwo im Norden Berlins. Sie hatte »Schnecken« über den Ohren, lachte gern und war sogar zu Gotthold nett.

Gotthold war der Sohn eines ehrgeizigen Lehrers, aber trotz nachdrücklicher körperlicher und geistiger Nachhilfe hatte es nicht weiter als bis Obersekunda gereicht. So war er in ein Bankgeschäft abgeschoben worden. Bei seinem Vater in Ungnade, saß er vor dem Kontokorrent und dachte mit Bitterkeit an alle, die es weiterbrachten im Leben, die begabter waren und häufiger lachten.

Heute, da sie dreißig Jahre verheiratet sind, weiß Tini längst, daß Gotthold sie nie »richtig« geliebt hat. Er hat sie nur den andern wegnehmen, ihr Lachen, ihre Fröhlichkeit für sich haben wollen. Damals war er eine glänzende Partie für das arme Serviermädel, das nicht einmal richtig Deutsch konnte, heute ...

Heute ... Also, sie sind eigentlich, fünfzig und dreiundfünfzig, mit ihrem Leben durch. Die beiden Kinder, Sohn und Tochter, sind richtig gut verheiratet. Sein Ehrgeiz, Depositenkassenvorsteher zu werden, ist unerfüllt geblieben. Bei der letzten Rationalisierung haben sie Gotthold pensioniert. Da sitzen sie nun beide in einem kleinen Haus in der Vorstadt, mit ein wenig Gartenland ... Sie haben bis an ihr Lebensende ihre kleine sichere Pension ... Und was haben sie sonst?

Er ist gelb und knitterig geworden, der Gotthold. Mit seinem gelben kleinen armen Vogelkopf püttjert er den ganzen Tag im Hause und im Gärtchen herum. Hier wischt er was, dort nagelt er was, nun poliert er was.

»Wie kommt die Schramme ans Büfett, Tini?« quäkt er. »Gestern war noch keine Schramme da, heute ist eine da. Das hast du wieder gemacht!«

Er wischt, er holt Möbelpolitur und macht Wachs warm. Nie liest er ein Buch, aber er läuft hinter Tini hinterher. »Wo hast du die kleine rote Vase mit dem weißen Engel gelassen, die uns Hempels zur Hochzeit geschenkt haben? Heute nacht ist es mir eingefallen. Ich habe sie seit zehn Jahren nicht gesehen!«

»Längst kaputt«, sagt Tini. Oder sie sagt nichts. Sie ist dick geworden, ihre Beine sind unmöglich, aber sie versucht heute noch, nach dreißig Jahren, liebenswürdig zu sein. Sie versucht es immer wieder. Sie fegt durch ihren Haushalt wie ein eiliger Wind. Eigentlich hat sie kaum noch etwas zu besorgen; die Kinder sind fort, aber was sie besorgt, muß schnell gehen. »Rasch, Gotthold, rasch! Wredes haben schon ihre Erdbeerpflanzen gesetzt. Lauf in die Gärtnerei.«

»Aber wie komme ich denn dazu? Lauf du!«

»Die werden schön über uns lachen, wenn wir die letzten mit Erdbeerensetzen sind. Aber wie du willst.«

Er putzt an seiner Azalee herum, er zupft ein Blatt ab, das krank aussieht. Dann betrachtet er das Blatt, ob es auch wirklich krank war. »Sicher hast du wieder an meine Azalee gestoßen.« Keine Antwort. »Also sag mir wenigstens, wieviel Erdbeerpflanzen wir brauchen. Nie sagst du mir richtig Bescheid.«

Nun hat die Tochter geschrieben: Sie hat einen Pelzmantel gesehen ..., nur vierhundert Mark ..., sie hat ihn sich so lange gewünscht ..., ob die Mutter nicht helfen will? Es wäre sooo nett! Die Eltern haben dreihundert Mark Pension, der Schwiegersohn hat siebenhundert Mark Einkommen ... Aber natürlich hilft die Mutter. Solche Briefe kommen an die Adresse der Nachbarin. Der Mann darf sie nicht sehen, er darf überhaupt nichts merken. Wenn man eine tüchtige Hausfrau ist, kann man schon fünfzig Mark vom Haushaltsgeld einsparen, und der Mann merkt nichts. Man muß auch wieder zum Arzt, das Bein tut so weh ... Sicher ist eine Ader gerissen. Da freut er sich, da gibt er gerne vierzig Mark, sechzig Mark.

»Siehste«, sagt er. »Tut es weh? Ich hab's dir ja gesagt ... Du sollst nicht soviel rumlaufen. Tut es ganz richtig weh?«

Das ist sein Glück, wenn es ihr schlecht geht, wenn sie Kummer hat. Der Sohn hat nicht zu ihrem Geburtstag geschrieben? »Siehste! Ich hab's dir immer gesagt. Du hast den Bengel stets in Schutz genommen. Der achtet dich wie nichts. Recht hat er, wo er Amtsgerichtsrat ist, und du kannst nicht mal richtig Deutsch.«

Sein kleiner gelber Kopf tanzt auf den schmalen Schultern. Er lacht. »Weißt du noch, wie ich dem Bengel eine Ohrfeige geben wollte, Weihnachten 1909, und du hast dich vorgestellt, und ich habe dir eine geklebt? Siehste!«

Er lacht, dann schusselt er ab, ins Dorf. Heimlich geht er in ein Café, frißt sich an mit Kuchen und Torte. Das ist seine Leidenschaft, aber er verträgt's nicht: Die Galle schreit. Nachts steht sie, macht Umschläge. »Heißer!« brüllt er. »Noch heißer! Weil du nie was Richtiges kochst.«

»Sicher hast du wieder Kuchen gegessen, Gotthold!«

»Wie kannst du so etwas behaupten?!«

»Schrei nicht so, Gotthold, daß wenigstens nicht die Nachbarn ...«

»Grade schrei ich. Alle sollen sie wissen, was ich für 'ne Frau habe. So ein Weib, das nicht mal richtig Deutsch kann.«

Fünf Jahre, zehn Jahre, zwanzig Jahre, dreißig Jahre ... Wie viele Jahre noch? Dreißig Jahre vielleicht noch? Sein Vater ist uralt geworden. Manchmal verzweifelt sie, dann schließt sie sich ein zum Weinen. So ist sie wenigstens eine Weile sicher. Dann rüttelt er an der Tür. »Was schließt du dich ein? Seit wann schließt du dich ein vor mir? Hast du wieder Geheimnisse? Wer will Geld von dir? Diese Ausbeuter!«

»Nichts, Gotthold. Mir war ein bißchen schlecht.«

»War dir schlecht? Siehste, habe ich dir nicht gesagt, du sollst den Gurkensalat nicht abends essen? Mir bekommt so was nie.«

Ja, sie verzweifelt ..., aber sie verzweifelt zehn Minuten ..., wenn es hoch kommt, eine halbe Stunde. Ihr ist eben eingefallen, als sie das letztemal beisammen waren, hat die Schwiegertochter einen so häßlichen Jumper getragen, sie wird ihr einen hübschen Jumper stricken, rasch Wolle, rasch los, acht Tage acht Stunden gestrickt, die Augen tun ihr weh ...

»Tun sie dir auch richtig weh? Ich habe dir ja gesagt ...« Aber es muß rasch gehen. Sie freut sich schon auf die Freude der Schwiegertochter. Fertig, zur Post, abgesandt. Sie wartet drei Tage, eine Woche, drei Wochen, dann kommt eine Karte: »Herzlichste Grüße vom herrlichen Ostseestrand. Helga. Hans. P S. Der Jumper ist sehr nett.«

Aber sie hat längst etwas anderes. Ihr ist etwas eingefallen. Da haben sie nun das kleine halbe Zimmer für etwaige Besuche, aber nie kommt jemand zu Besuch. Sie wird Gottholds Bett da hineinstellen, sie wird ihr Schlafzimmer für sich haben. Seit dreißig Jahren hat sie keine Nacht allein geschlafen.

Natürlich wird er nie einwilligen. Nächtelang liegt sie, überlegt. Da ist ihre Schwester in Lüneburg. Sie muß Gotthold dringend auffordern, zu kommen. Eine Vermögensberatung. Er ist ja der Bankfachmann der Familie. Sie muß ihn zwei, drei Tage festhalten.

Unterdes wird sie mit einem Mann die Möbel umstellen. Sie wird sie so umstellen, daß er sie nicht allein zurückkriegt. Dazu ist er zu schwach. Er wird fluchen, schimpfen, brüllen, aber einen Mann nimmt er sich nicht zu Hilfe, dazu ist er zu geizig. Übrigens wird er gar nicht auf diese Idee kommen. Zuerst wird sie die Tür zwischen den beiden Zimmern auflassen, später anlehnen, dann einklinken, schließlich zusperren. O Gott, sie wird wieder allein schlafen, wie vor dreißig Jahren. Sie träumt, sie phantasiert. Wie vor dreißig Jahren. Lieber Gott, es kann alles noch gut werden, ziemlich gut. Sie kann wenigstens nachts allein sein, wie vor dreißig Jahren ...


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