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Fröhlichkeit und Traurigkeit

Der Mann kam gegen sechs Uhr vom Holzstehlen nach Haus, es war noch dunkel. Er brannte eine Laterne an und zerkleinerte die Stammabschnitte, damit der Landjäger, falls er doch einmal auf die Suche nach den Holzdieben ging, nichts zu beanstanden fand. Während er arbeitete, hörte er auch die andern in den Nachbarlauben sägen und hacken: Sie gingen immer zu vier oder fünf Mann los, alles Arbeitslose, damit der Förster sich nicht an sie traute.

Als der Mann mit seiner Arbeit fertig war, ging er in die Laube. Es war nun sieben Uhr und fing an, hell zu werden. Die Frau schlief noch, aber das Kind war wach, es saß in seinem Bett und sagte immerzu: »Pepp-Pepp« und »Memm-Memm«. Der Mann legte seiner Frau sacht die Hand auf die Schulter und sagte: »Sieben Uhr, Elise.« Sie wurde schwer wach, sie hatte gestern den ganzen Tag gewaschen. Heute würde sie wieder gehen.

»Darf ich das Kind noch ein Weilchen zu dir setzen, Elise?« fragte er, und sie murmelte etwas Verschlafenes. Das Kind war sehr fröhlich und lachte, als der Vater es auf den Arm nahm und neben die Mutter setzte. Dann sah es den Wecker und rief »Tick-Tick« und griff nach der Uhr. Der Vater gab sie dem Kind. Es spielte neben der Frau, der Mann machte im Herd Feuer, setzte den Kaffee auf und wärmte die Milch für das Kind.

Nach einer Weile saßen sie beim Frühstück, das Kind aß schlecht. »Wir müssen sehen«, sagte der Mann, »daß wir wieder etwas gute Butter für den Jungen kaufen.«

Die Frau sagte: »Zwei Tage wasche ich noch diese Woche, das bringt zwanzig Mark.«

»Und fünfundzwanzig kriege ich heute Stempelgeld. Ich werde ein halbes Pfund Butter mitbringen.«

»Ja«, sagte die Frau, »das ist besser für ihn als die Margarine. Vielleicht kriegt er dann auch die Zähne leichter.«

»Wir müssen aber auch die Miete für die Laube zahlen.«

»Ja, tu es gleich, wenn du heute in der Stadt bist.«

»Tu ich«, sagte der Mann.

Das Kind war fröhlich, es saß auf der Erde und zerriß eine Zeitung in kleine Stücke, wozu es »Bi« sagte, was Bild und dann alles Gedruckte hieß. Kurz vor acht machte die Frau sich zum Fortgehen fertig.

»Wird es heute spät?« fragte er. »Weil ich zum Stempeln muß. Ich bin nicht vor sechs wieder hier.«

»Ich will sehen, daß ich um fünf hier sein kann«, sagte die Frau. »Vielleicht schläft er solange.«

»Hoffentlich«, sagte der Mann. »Es ist immer ein ungemütliches Gefühl, wenn er so lange hier allein ist.«

»Ja«, sagte die Frau. »Aber was soll man machen?« Dann ging sie.

Der Mann räumte das Zimmer auf und legte die Betten zum Lüften ins Fenster. Er wusch das Geschirr ab und schälte schon die Kartoffeln und schabte die Mohrrüben zum Mittagessen. Das Kind lief im Zimmer hin und her und drückte seinen Kopf in die herunterhängenden Enden der Betten. Dann sagte der Mann: »Noni ist weg. Noni ist ganz weg«, und das Kind sah wieder hoch und jubelte. Es lief gegen den Vater und drückte seinen Kopf gegen die Beine des Vaters. Nach einer Weile sagte der Mann dann: »Es ist gut, Noni. Es ist gut, mein kleiner Freund.« Und das Kind lief wieder an sein Spiel.

Als die Hausarbeit getan war, zog der Mann das Kind zum Ausgehen an, er setzte ihm einen weißen Pudel auf und zog ihm ein Mäntelchen und Schuhe an. Dann stieg das Kind in seinen kleinen weißen Karren, und die beiden gingen los. Im Garten war nichts mehr zu tun, es war Vorwinter, das Land war umgegraben und die Erdbeeren schon mit Stroh zugedeckt. Sie fuhren zwischen den Parzellen hin. Nur die wenigsten waren noch bewohnt, wer irgend die Miete aufbringen konnte, wohnte jetzt zum Winter in der Stadt. Nach einer Weile kamen sie auf eine schöne glatte Zementstraße, der Mann hielt das Wägelchen an, schnallte den Halteriemen los und sagte: »Nun steig aus, Noni, und schieb.« Das Kind sah den Vater fröhlich lächelnd an, dann streckte es ein Bein aus der Karre, blinzelte und zog das Bein wieder zurück. »Steig jetzt aus, Noni«, mahnte der Vater. Das Kind streckte wieder das Bein aus und zog es wieder zurück. Es war das ein Spiel, das es mit dem Vater trieb, eine kleine Neckerei, die es sich ausgedacht hatte. »Dann geh ich allein«, sagte der Vater und ging fort, ließ Wagen und Kind allein stehen. Sofort stieg das Kind aus und rief aufgeregt »Pepp-Pepp!« Der Mann drehte sich um, das Kind zeigte auf den Halteriemen, es hatte Ordnungssinn, es war unordentlich, daß der Halteriemen herunterhing, der Vater mußte ihn festmachen.

Nun schob das Kind die Karre, es ging manchmal rasch, manchmal lief es sogar, und dann blieb es wieder stehen und sah einen Hund an, zu dem es »Wau-Wau« sagte. Immer mußte der Vater dann auch »Wau-Wau« sagen, das Kind wiederholte das Wort so lange, bis der Vater es bestätigt hatte. Wenn es Hühner sah, sagte das Kind »Piep-Piep«, und der Vater sagte: »Ja, Noni, das sind die Putten und die Tücken.« Auch dann war das Kind zufrieden, obgleich es diese Wörter nicht wiederholen konnte, es war erst anderthalb Jahre.

Das Kind entdeckte den Spanndraht eines Telegrafenmastes, der aus fünf oder sechs Einzeldrähten bestand, die etwas auseinanderstanden. Das Kind konnte zwischen den einzelnen Drähten sehr gut einen Finger durchstecken, es tat das viele Male. Der Vater rief häufig und kam immer weiter voraus, aber Noni konnte sich von seinem Draht noch nicht trennen. Da versteckte sich der Vater hinter einer Ecke, und als das Kind merkte, der Vater war fort, lief es die Straße hinunter, um ihn zu finden. Da steckte der Vater den Kopf hinter seiner Ecke hervor, und als das Kind sah, daß der Vater noch da war, machte es rasch wieder kehrt und lief zu seinem Draht zurück.

Als es nun genug hatte an diesem Spiel, war der Vater noch viel weiter gegangen, er war sehr weit ab, dem Kind schien es viel zu weit. Das Kind lief ein Stück, aber der Vater kümmerte sich nicht mehr um das Kind und ging langsam immer weiter. Das Kind blieb stehen, es sah den Weg entlang, es rief laut »Pepp-Pepp!«, dann griff es an den Rand seines Pudels und zog die Mütze mit einem Ruck über das ganze Gesicht bis zu dem Kinn. Der Vater hatte sich umgedreht, als er das Kind rufen hörte, da stand sein kleiner Junge mit der Mütze über dem ganzen Gesicht, vollkommen blind. Er taperte ein bißchen auf seinen Beinen, hierhin und dorthin, nahe am Fallen. Der Vater lief und lief, daß er schnell genug hinkam, sein Herz klopfte sehr, er dachte: Anderthalb Jahre, und nun ist er von allein daraufgekommen. Macht sich blind, daß ich ihn holen muß. – Er zog dem Kind die Mütze aus dem Gesicht, der Junge strahlte ihn an. »Was bist du für ein Schalksnarr, Noni, was für ein Schalksnarr!« Der Vater sagte es immer wieder, er hatte Tränen der Rührung in den Augen.

Eine Weile nach zwölf hatte der Vater das Kind gewaschen und ausgezogen, er hatte ihm sein Essen gegeben, selbst etwas gegessen und es dann zu Bett gelegt. »Gute Nacht, Noni, gute Nacht«, sagte der Vater und trat in den Schatten des Schrankes, daß das Kind ihn nicht mehr sah. Nun kam es darauf an, daß Noni schnell einschlief, denn um drei mußte der Mann auf dem Amt sein, um seine Unterstützung zu erheben. Der Mann wartete regungslos, das Kind papelte noch ein Weilchen, dann rief es und lockte ihn: »Pepp-Pepp«, aber der Vater rührte sich nicht. Dann schlief Noni ein.

Der Mann schloß die Laube ab, versteckte den Schlüssel für die Frau und machte sich auf seinen Weg. Er hatte gut zwei Stunden zum Arbeitsamt zu gehen, offiziell wohnten sie noch in der Stadt, ihm war nicht genehmigt worden, dort draußen in einer andern Gemeinde zu wohnen. Es war immer eine Angst, das Kind solange allein zu lassen, aber daran war nichts zu ändern. Der Mann ging sehr rasch, er wiederholte sich oft, daß er Butter kaufen mußte und Bananen, die der Junge »Niä« nannte und die in der Stadt auf den Wagen nur fünf Pfennig kosteten, während man draußen den Räubern fünfzehn Pfennig zahlen mußte. Dann war die Miete zu bezahlen, fünfzehn Mark, aber die Frau würde zwanzig Mark verdienen, sie kamen also diese Woche sehr gut durch. Immerhin war es schwer für sie, vor einem Vierteljahr hatten sie noch über dreihundert Mark im Monat verdient, ehe der Mann abgebaut worden war.

Er behob sein Geld und ging dann zu jenem Angestellten, von dem er die Laube gemietet hatte. Aber der war nicht zu Haus, er würde erst gegen sieben kommen. Der Mann beschloß, dann noch einmal vorzusprechen, und ging wieder auf die Straße hinunter. Er erledigte seine Einkäufe, und weil er in der Nähe der Friedrichstraße war, ging er dorthin, um sich einmal wieder die Läden und den Betrieb anzusehen. Er ging langsam hin und her, früher hatte er viel hier verkehrt, als er noch Junggeselle war. Damals hatten nicht soviel Mädchen hier an den Ecken gestanden. Er besah sich, die jetzt dastanden, manche sahen wirklich gut aus, aber die meisten waren ganz aussichtslos. Öfters wurde er angesprochen. Dann kniff er die Augen etwas ein und bewegte lächelnd den Kopf von rechts nach links.

Es wurde dunkel, die Laternen brannten, die Schaufenster wurden so hell. In den Cafés war überall Musik. Der Mann war sehr traurig, es wurde ihm immer schwerer, den Kopf verneinend zu bewegen, wenn er aufgefordert wurde. Was ist denn mit mir? fragte er sich unruhig. Ist es darum, weil ich so ganz draußen bin, weil alles so hoffnungslos ist, daß ich so traurig bin? Er lief immer die Friedrichstraße auf und ab, von der Leipziger bis zum Bahnhof, es wurde spät. Einmal lief er einer mit einem grünen Hut sehr lange nach, aber sie achtete nicht auf ihn oder wollte nicht, weil er ein so angstvoll böses Gesicht machte. Schließlich machte er sich mit einem Ruck frei und ging in ein Café hinauf. Das Café war trostlos leer, er setzte sich hin und bestellte ein Bier und einen Kognak. Was will ich? fragte er sich. Will ich denn mit so einer schlafen? Nein, gar nicht. Also warum denn? Ich könnte längst zu Haus sein, und die Miete habe ich auch nicht bezahlt. Dazu ist es nun zu spät.

Es war nach neun Uhr. Der Mann bezahlte, es machte zwei Mark vierzig, er bekam einen großen Schreck. Der Alkohol wirkte sehr stark auf ihn; als er wegging, hatte er einen neuen Beschluß gefaßt: Werde ich bis zum Bahnhof von keiner angesprochen, fahre ich sofort nach Haus. Und wenn ich angesprochen werde ... Er wußte nicht, was dann.

Er wurde nicht angesprochen und stieg in den Zug. Auf dem Schlesischen Bahnhof mußte er umsteigen, zwischen den beiden Bahnsteigen ergriff ihn die Unruhe neu, er lief aus dem Bahnhof und in die nächste Straße. Ein Mädchen fragte: »Na, Kleiner?«

Er blieb stehen und sagte: »Du kannst mit mir mitkommen und einen Schnaps trinken, bis mein Zug geht.«

»Das kann ich nicht«, sagte sie. »Ich muß Geld verdienen, mein Kleiner.«

»Ich geb dir drei Mark, komm schon«, sagte er, und sie hängte sich bei ihm ein.

In der Wirtschaft saßen sie einander gegenüber und tranken einen Curaçao, der nach Sprit schmeckte. Er fragte das Mädchen: »Hast du ein Kind?«, aber sie sagte, sie hätte keines. Er war sehr enttäuscht, er hätte so gerne mit ihr von Kindern gesprochen. So sprachen sie von den schlechten Zeiten, sie hatte seit ein paar Wochen Schuhe zur Reparatur gegeben, sie sollten eine Mark achtzig kosten; immer, wenn sie dachte, sie hätte das Geld zusammen, ging es wieder weg für Essen und Miete. Er erzählte ihr von seiner früheren Stellung, wie gut sie gelebt hatten, dann von seiner Frau, dann doch von dem Kind.

Nach einer langen Zeit standen sie auf, um den letzten Zug zu erwischen, aber dann gingen sie doch wieder in ein anderes Lokal. Er mußte mit ihr zusammensein, ihr erzählen. Sie tranken ziemlich viel, er gab ihr drei Mark und dann noch drei Mark. Eine Weile nach Mitternacht war das Geld alle, sie gingen auf die Straße. »Nun kommst du mit mir nach Haus und trinkst Kaffee«, sagte er zu dem Mädchen.

»Dann haut mich deine Frau ja raus«, sagte sie.

»Sie haut dich nicht raus, sie gibt uns Kaffee. Und du kriegst noch einmal fünf Mark, wenn du mitkommst.«

Das Mädchen hängte sich wieder bei ihm ein, und sie gingen los. Er erzählte ihr immerzu, damit sie nicht merkte, wie weit der Weg war. Manchmal blieb sie stehen und wollte nicht weiter. Dann lockte er sie mit den fünf Mark. Er war geschwätzig und gut aufgelegt, dabei wuchs die Traurigkeit in ihm immer mehr.

Nach einer langen Zeit kamen sie in die Laubenkolonie. »Dort wohne ich«, zeigte er. »Laß mich lieber gehen«, meinte das Mädchen. »Deine Frau macht Krach. Gib mir die fünf Mark und laß mich gehen.«

»Ich hab das Geld ja drinnen«, antwortete er.

Sie klopften, Elise machte rasch auf. Sie trug ihren Bademantel, sie hatte rosige Backen vom Schlafen und sah sehr hübsch aus. Das Mädchen war ein Garnichts gegen sie. »Mach uns Kaffee«, sagte der Mann. »Sie hat mich rausgebracht.«

Die Frau gab dem Mädchen die Hand und sagte: »Setzen Sie sich. So ein Weg, das bringt nur er fertig, Sie hier rauszuschleppen.«

Das Mädchen sagte verlegen: »Ja, es ist ein weiter Weg.«

Die Frau machte Feuer und setzte Wasser auf. Sie räumte Tassen her und Zucker. »Die Milch muß aber für den Jungen bleiben«, sagte sie.

»Es ist gut, Elise, wir trinken auch ohne Milch«, antwortete er. »Gib dem Fräulein fünf Mark, ich habe sie ihr versprochen.«

Die Frau sah den Mann einen Augenblick an, er schloß die Augen und bewegte den Kopf langsam nach vorn, um ihr seine völlige Ergebenheit auszudrücken. Elise nahm aus ihrer Tasche fünf Mark und gab sie dem Mädchen. »Danke schön«, sagte das Mädchen. »Nun hole ich morgen meine Schuhe.«

Der Mann nahm das Mädchen bei der Hand und sagte: »Nun will ich dir noch meinen Jungen zeigen.« Sie gingen in den Winkel zum Bettchen. Das Kind schlief fest. Die blonden dünnen langen Haare waren ganz verstrubbelt, es hatte eine Faust gegen die roten Backen gestemmt, der Mund stand halb offen. »Nun kann ich es Ihnen auch sagen«, meinte das Mädchen. »Ich hab auch ein Kind, es heißt Gerda, es ist drei Jahre alt.«

»So«, sagte der Mann. »Der Junge ist anderthalb. Er ist sehr fröhlich.«

Nachdem sie Kaffee getrunken hatten, sagte das Mädchen: »Ich möchte jetzt nicht länger stören.«

»Wollen Sie nicht warten, bis es etwas heller geworden ist?« fragte die Frau.

»Wer soll mir was tun«, sagte das Mädchen. »Nein, jetzt gehe ich.« Der Mann brachte sie bis zur Gartentür.

Als er zurückkam, hatte die Frau das Geschirr schon abgeräumt und lag wieder im Bett. Der Mann zog sich schweigend aus. Nach einer Weile sagte er: »Wie wird es mit dem Geld?«

»Hast du die Miete bezahlt?« fragte sie dagegen.

»Nein«, antwortete er. Sie waren eine Weile still, dann sagte die Frau: »Es wird schon irgendwie gehen. Wir müssen uns die nächsten Wochen sehr einrichten.«

»Ja«, sagte der Mann. »Es war wie eine Krankheit, Elise. Ich konnte nicht dagegen an.«

»Nein«, sagte sie, »das weiß ich ja. Du mußt nur sehen, daß es nicht so schlimm wird. Du weißt doch: Noni.«

»Ja«, sagte er. »Natürlich. Es ist, glaube ich nur, weil alles so hoffnungslos ist.«

»Ich weiß alles«, sagte die Frau. »Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen. Und nun versuch noch ein bißchen zu schlafen. Du hast morgen wieder den ganzen Tag den Jungen. Ich muß waschen.«

»Ja«, sagte er. »Also dann gute Nacht.«

»Gute Nacht«, antwortete sie und machte das Licht aus.


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