Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wie Herr Tiedemann einem das Mausen abgewöhnte

Auf dem Lande hatte ich einmal einen Chef, dem saßen im Kopf mehr Grappen als einem durchschnittlichen Hofhund in seinem Fell Flöhe. Zu diesen seinen Grappen gehörte es auch, daß er auf seinem Hof keine Polizei sehen konnte. Nun ist ja auf dem Lande so einiges an Dieberei fällig: Da fehlt ein Sack Hafer, das Schrot schmilzt dahin wie Schnee im April, aber Hannes Tiedemann sagte: »Das erledige ich schon selbst. Dazu braucht mir kein Grüner auf den Hof zu kommen.«

Und er erledigte es selbst, der wackere Tiedemann, und wie er seine kleinen Hof-, Feld-, Wald- und Wiesendiebe erledigte! Das beste dabei war, daß auch die Herren von der langen Hand nach dem anfänglichen Ärger selbst grinsten. »Und sie gingen dahin und sündigten dergleichen nicht mehr.«

Oder sündigten auch wieder, Menschen bleiben Menschen, und ein Hofegänger, der eine Ziege hat, wird nicht einsehen, warum die im Winter hungern soll, wenn der Tiedemann den ganzen Boden voll Heu hat. Und dann wurden sie wieder erwischt, eines Tages wurden sie immer erwischt, und dann wurden sie darüber belehrt, daß Tiedemann schlauer war als sie – darauf liefen diese Belehrungen immer hinaus. Aber wie diese Belehrungen erfolgten, das waren die Grappen von Tiedemann, das burrte in seinem Kopf wie die Brummer in der Milchkammer, wenn das Fräulein Meieristin im Sommer das Fenster offengelassen hat.

Da wuchs uns auf unserm Hof ein junger sächsischer Knabe heran, Albin Fleischer hieß er, in den Zwanzigern, und seines Zeichens war er ein Schweizer, das heißt, er melkte die Kühe. Das heißt ganz genau, er melkte sie nur dann und wann, wenn ihm grade der Staat dafür Zeit ließ, der schon früh durch eine ausgedehnte Fürsorgeerziehung in Albin Fleischer den Grund zu mancherlei Kenntnissen und Fertigkeiten gelegt hatte. Und als die Betätigung dieser Fertigkeiten Albin wieder einmal eine längere staatliche Pension eingetragen hatte und als dann seine Zeit um war und er wieder hinausgelassen werden sollte, da sagten die im Zentralgefängnis Altholm: »Ja, wohin mit ihm? Lassen wir ihn so laufen, dann klaut er doch gleich wieder.« Und da Hannes Tiedemann großen Ruf im Lande Pommern genoß, so schrieben sie einfach auf den Entlassungsschein: »Arbeit als Stallschweizer bei Herrn Gutsbesitzer Johannes Tiedemann in Fern-Varnkewitz.«

Da stand er nun an einem gänzlich verregneten Tage triefend naß bei uns im Büro. Wir machten seine Bekanntschaft, und er erklärte uns im schönsten Sächsisch: »Heern Se, ich soll hier de Giehe mälgen.«

Tiedemann besah sich dieses Bündel Menschenwerk und sprach: »Da stripp du man de Käuh!«

Und von Stund an war Albin Fleischer bei uns Stallschweizer.

Eine Weile ging es auch ganz gut. Vor seiner letzten Strafe hatte er wirklich eine recht häßliche Dieberei gemacht: einem Arbeitskollegen das Fahrrad und den einzigen Sonntagsanzug geklaut und versoffen. Da hatten, ehe der Landjäger ihn mitnahm, seine Kollegen den Albin nach Strich und Faden vertrimmt, sie hatten ihm eine hübsche Wucht gegeben, abgerieben hatten sie ihn, der hatte Keile, Dresche und Senge, alles in einem, bezogen, und das saß ihm immer noch in den Knochen. Wie gesagt, eine ganze Weile ging es mit ihm bei uns gut, aber dann trat die Liebe dazu, zu einer Kätnertochter Mathilde im Dorf, und nun wurde es schlimm. Da sagte Hannes Tiedemann ...

Aber ich merke leider, mit Albin Fleischer habe ich das falsche Ende meiner Geschichte zu fassen bekommen, und ich muß gewissermaßen noch einmal von vorne anfangen.

Frau Tiedemann war eine kleine fixe Frau. Sie flitzte in der Meierei und im Geflügelstall herum wie ein Wiesel und war stolz auf ihren Kram. Sie kannte jedes Huhn und wußte, wann es dran war mit Eierlegen, und Eierverlegen in Scheunen oder hinter Steinhaufen oder gar, wie es auf manchen Höfen schon passiert sein soll, aufs Klo, das gab es bei ihr nicht. Aber ihr Stolz waren ihre Gänse, die Gans ist ja in Pommern, und zumal in Hinterpommern, noch so etwas wie ein heiliger Vogel, den Gänsen gehörte ihr ganzes Herz.

Und über diese Gänse wurde sie eines Tages schwermütig, denn es war Frühjahr, und sie mußten eigentlich Eier legen. Bei den Gänsen ist es ja nicht so wie bei den Hühnern, die Hühner legen immerzu, das ganze Jahr, mal ein bißchen mehr und mal ein bißchen weniger. Die Gans aber ist ein vornehmes Tier, der Besitzgier des Menschen macht sie keine Konzessionen, sie legt ihr Quantum im Frühjahr, grad genug zur Erhaltung der Art, die brütet sie aus, und Schluß damit.

Frau Tiedemann grübelte sich in einen tiefen Kummer hinein: Was war los mit ihren Gänsen? Sie legten und sie legten nicht. Die Ganter hatten ihre Schuldigkeit bei den Damen getan, das hatte Frau Tiedemann selber ein paarmal gesehen, und nun kamen keine Eier? Wieso kamen keine Eier? Lag es am Futter? Hatten sie zu wenig Kalk?

Und eines Tages sagte sie aufgeregt zu ihrem Hannes: »Du, Hannes, die Weiße mit dem grauen Stutz hat heute bestimmt gelegt. Ich hab's ihr gleich am frühen Morgen angesehen, die hat was. Richtig, sie geht in den Stall. Ich warte noch 'ne Weile, weil ich sie nicht stören will. Dann hör ich sie schimpfen, ich geh rein, sie hat gelegt, aber kein Ei ist da. Sie schimpft, einer hat es ihr geklaut, daß so ein armes Biest keine Sprache hat. Diese Räuber ...«

Und sie sah drohend über den Hof.

Tiedemann bemerkt: »Da bist du selbst dran schuld, meine Mäten. Hundertmal hab ich dir gesagt: Mach deinen Hühnerstall dicht. Aber da steht ja alles offen.«

»Alles ist dicht«, protestiert sie.

»Alles ist offen«, sagt Hannes Tiedemann. »Vergangenen Donnerstag, als die Klütensuppe angebrannt war, bin ich selber drin gewesen und hab vier Hühnereier ausgetrunken.«

»Du bist das gewesen!« schreit sie. Aber er ist schon weg.

Nun bekommt der Stellmacher zu tun, Drahtgeflecht wird gekauft, enges, engeres, ganz enges. »Die Hühner gehen in den Safe«, sagt Tiedemann nun.

Aber es hilft alles nichts, es bleibt Baisse in Gänseeiern. Frau Tiedemann lebt unter immer stärkerem Druck, sie schläft nicht mehr, als Nachtgespenst durchirrt sie den Hof, sie fängt an, vom Fleisch zu fallen. Eines Tages explodiert sie, sie bestellt den Landjäger. Sie bestellt ganz einfach den Landjäger, und sie sagt es Tiedemann.

Tiedemann ist baff. Aber er sammelt sich. »So ein Grüner kommt mir nicht auf meinen Hof. Den bestell man wieder ab.«

Sie protestiert: »Wo die andern schon alle ihre Gänse auf den Eiern sitzen haben! Und ich soll ... Was nimmst du ewig solch pollackisches Gesindel auf den Hof.«

»Pollacken sind augenblicklich grade nicht da. Alles gute Pommern«, sagt er und wird plötzlich nachdenksam und bricht ab. Nach einer Weile wieder: »Also, den Grünen bestellst du ab. Du kriegst deine Gänseeier wieder.«

»Aber ...«

Der langen Rede kurzer Sinn: sie bestellt ab.

Tiedemann geht über den Hof in den Geflügelstall, keine Schleichwege, kein Hühnereier-Austrinken, er hat ganz ordentlich die Schlüssel bei sich. Saubere Arbeit muß man sagen, der Stellmacher hat gut gewerkt, dicht ist das. Aber noch sauberer hat der andere gewirtschaftet, mit einer haarscharfen Zange das Drahtgeflecht durchgeknipst und so hübsch wieder hingebogen, da braucht man eine Lupe, um das zu sehen. Tiedemann pfeift tiefsinnig, als er die Schlüssel wieder abliefert. »Alles in Butter, Mutting«, sagt er.

»Aber ...«, sagt sie.

Aber Tiedemann ist schon weg.

Tiedemann zieht es in den Kuhstall, Tiedemann geht in den Kuhstall. Dort ist es vormittäglich still und friedlich. Die Schweizer sind nicht da, sind beim Futterholen, die Kühe stehen und liegen, wie es ihnen Spaß macht, sie käuen wieder, oder sie ziehen noch ein paar Halme durchs Maul. Sie sehen dabei einander an, immer zehn Stück reihauf, reihab schauen einander an, zwischen ihnen läuft der Futtergang. Der hinterste Futtergang an der Mauer ist nicht benutzt, der Stall ist nicht voll besetzt. Dort haben die Schweizer ein paar Ballen Streustroh liegen, alte Futterkrippen, der Rübenschneider steht dort, lauter Schurrmurr.

Tiedemann ist tiefsinnig. Er geht gangauf, gangab, manche Kühe sagen Muh, manche kauen nur, der Oberschweizer muß mal wieder gründlich durchputzen. Tiedemann geht weiter und kommt auf den leeren Futtergang. Er raschelt durch das Stroh, nun ist der Futtergang beinahe zu Ende, Tiedemanns Fuß stößt im Stroh an was. Er bückt sich, er wühlt das Stroh ein bißchen auseinander: ein etwas starker Osterhase, was? Elf Gänseeier. Da soll der Donner ...!

Tiedemann steht und denkt. Das Garn ist leicht aufzuheddern: Da ist einerseits Albin mit Vorkenntnissen, andererseits Mathilde, die Kätnertochter aus dem Dorf. Auch Kätner lieben Gänse, es ist dies kein Privileg der Gutsbesitzerklasse. Einfache Vorgeschichte, man könnte die Eier nehmen und zur Frau bringen ...

Aber wie der Tiedemann so dasteht und auf die Eier glotzt, da ist es, daß sich die Grappen in seinem Kopf rühren, die dicken Brummer brummen durch sein Gehirn. Sachte wühlt er das Stroh wieder zu. Elf Gänseeier bringt man nicht in der Hosentasche ins Dorf, dazu muß es Feierabend und dunkel sein. Alles hat seine Zeit, auch Gänseeier. Tiedemann geht über den Hof zurück zum Gutshaus.

Auf dem Hof trifft er mich. Ich bin so eine Art Mädchen für alles auf diesem Hof, ich führe die Bücher und schreibe die Briefe, ich löhne die Leute, gebe das Futter aus und nehme auch mal ein paar Pferde. Es ist kein anstrengender Dienst.

Tiedemann bleibt vor mir stehen und sieht mich glupsch an. »Sagen Sie mal, Fallada, Sie können ja wohl Englisch?«

»Na, was man so können nennt, grade nicht«, sage ich. »Erwarten Sie Engländer?«

»Laut lesen können Sie ja wohl Englisch?« fragt er mich. »So getragen und weihevoll wie ein Paster?«

»Das kann angehen, Herr Tiedemann«, sage ich.

»Und Sie haben was Englisches zum Vorlesen hier?« fragt er mich.

»Ja«, meine ich zögernd. »Eigentlich nicht. Nur so englische Verse von einem Omar Khayyam.«

»Omar? Ist das Englisch?«

»Das ist ein Perser«, sage ich. »Aber ein Engländer Fitzgerald ...«

»Hören Sie lieber auf«, winkt er ab. »Ich habe heute morgen noch keinen Kognak getrunken. Das Leben ist schon kompliziert genug. Fünf Minuten vor Feierabend gehen Sie mit Ihrem englischen Perser in den Kuhstall und langen sich den Albin. Mit dem kommen Sie dann zu mir auf meine Stube.«

»Wird gemacht, Herr Tiedemann«, sage ich, und er geht weiter, ins Gutshaus, zu seinem vormittäglichen Rührei mit Speck und einem Kognak.

Fünf Minuten vor sechs bin ich im Kuhstall.

»Albin, sollst zu Herrn Tiedemann kommen.«

»Nu, was denn? Jetzt ist doch gleich Feierabend. Was soll ich denn da noch?«

»Komm man«, sage ich, und wir schieben ab.

Um sechs Uhr abends im zeitigen Frühjahr muß man schon Licht brennen, auch Hannes Tiedemann brannte in seinem Zimmer Licht, aber wie sah es aus! Rot sah es aus, geheimnisvoll sah es aus, mystisch war das. Über alle Glühbirnen hatte Tiedemann rotes Papier gemacht, das Licht war trübe und schwer, es wehte einen an: Sprich leise hier!

Auf dem runden Eichentisch stand eine Extralampe mit der roten Glühbirne aus der Dunkelkammer, daneben stand der große Lehnstuhl.

»Setz dich hierhin, Albin«, sagt Tiedemann sacht und betrübt. »Setz dich hierhin, mein Jung.«

»Herr Tiedemann«, fängt Albin an.

Aber Tiedemann drückt ihn auf seinen Platz. »Nicht ganz hoch genug. Dein Kopf muß grade in der Höhe von der roten Birne sein. Warte mal ...« Und er schleppt ein dickes Buch an. »So, jetzt langt es.«

»Herr Tiedemann ...«, fängt der Junge wieder an.

»Psssst«, macht Tiedemann. »Kein Wort. Sonst geht es nicht.«

Der Junge ist still. Ich bekomme meinen Platz ihm grade gegenüber, am Tisch, und Tiedemann stellt sich neben ihn, so daß der Kopf von Albin zwischen Lampe und Tiedemann ist.

Stille. Tiefe Stille. Die große Uhr macht unendlich langsam ticke-tacke. Das Licht ist geheimnisvoll rot.

Tiedemann räuspert sich. »Fangen Sie man an, Fallada.«

Ich fange an. Meine Aussprache des Englischen ist nicht schön, ich habe Englisch in Leipzig von einem sächsischen Lehrer gelernt, so was verwächst sich nie. Aber an diesem Abend war ich weit über meinem sonstigen Standard. Es war vielleicht kein korrektes Englisch, es war eine mystische Sprache, aus Urmenschentagen.

Ich fing an mit dem Vierzeiler: »Oh Thou, who Man of baser Earth didst make ...« Du, der den Menschen schuf nur Mensch zu sein ...

Ich war noch nicht ganz auf der Höhe, Tiedemann schüttelte ernst den Kopf. »Noch nicht ganz das Richtige. Bitte weiter. Etwas Stärkeres.«

Ich fuhr fort: »There was the Door to which I found no Key ...« Da war die Tür, die mir kein Schlüssel zwang ...

»Gut. Das ist das«, sagte Tiedemann, und bauz! nahm er von seinem Schreibtisch ein Riesenteleskop, so einen Fernkieker, ganz aus Messing, wie ihn die Seeleute früher hatten. Muß noch von seinem Großvater mütterlicherseits sein, Kapitän auf kleiner Fahrt, denke ich. Setzt das Ding dem Jungen an die Schläfe, der zuckt. Sitzt wieder totenstill. Hannes Tiedemann kiekt durch.

Ich lese: »Ah, my Beloved, fill the Cup that clears Today of past Regrets and future Fears –.« So schenk den Wein, mein Lieb: Wein klärt den Tag von Furcht und Gram, was kam und kommen mag!

»Albin«, fragt Tiedemann mit Grabesstimme. »Albin, an was denkst du?«

Albin ist blaß und still.

»Du denkst an den Kuhstall, Albin, du denkst an den Futtergang. Du denkst an den letzten Futtergang an der Wand ...«

»Indeed, indeed, Repentance oft before I swore ...« Hab wohl auch Reue oft genug bekannt –

»An das Stroh denkst du, Albin, was dort liegt. Du denkst ..., warte, warte ... Herr Fallada, feste! Lauter, Herr Fallada! Du denkst ...« Ganz schrill: »Albin, Albin, wie kommen die Gänseeier in dein Gehirn –?«

Totenstille.

»Albin!!!!«

Und da kommt es, leise und zermalmt: »Herr Tiedemann, Herr Tiedemann, ich will's Sie sagen: Ich hab sie gestohlen. Herr Tiedemann, ich hab sie gestohlen.«

»Fallada! Laufen Sie! Du lügst ja, Jung. Sehen Sie im Kuhstall nach. Im letzten Futtergang. Im Stroh.«

Ich laufe schon. Da sind sie. Die Jacke aus. Die Jacke voll Gänseeier. Zurück.

Albin starrt blöde auf die Eier.

»Ich hab sie gestohlen ..., ich stehl hier nie wieder ...«

»Geh, mein Sohn Albin«, sagt Tiedemann. »Es ist in Ordnung. Es ist alles glatt.«

An der Tür macht Albin halt, er steckt den Kopf von außen wieder herein. »Ich zeig Sie an, Herr Tiedemann, bei der Polizei. So was ist Vergewaltigung, von so was kann man verrückt werden. Ich hab gemerkt, mir ist was kaputtgegangen im Hirn, wie Sie's durchleuchtet haben.«

»Raus!« sagt Tiedemann nur.

Albin ist nicht zur Polizei gegangen. Albin ist nicht einmal vom Hof fortgegangen. Albin melkt weiter die Kühe. Ich glaube, Albin hat nie wieder bei uns geklaut. Im Dorf so ein bißchen, dafür will ich keine Hand ins Feuer legen, aber die konnten ihn ja auch nicht durchleuchten. Das konnte nur Tiedemann.


 << zurück weiter >>