Gustav Falke
Aus dem Durchschnitt
Gustav Falke

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XXVII.

Zwei Tage später hielten zwei Leichenwagen an der Ecke des Durchschnitts, einer erster Klasse, der andere dritter.

Auf dem letzteren stand bereits ein schlichter Sarg, auf dessen Deckel vier Kränze nebeneinander befestigt waren. Die Morgensonne streute ihre goldenen Lichter darauf. Eine sorgliche Hand hatte die Kränze frisch besprengt, und die zitternden Tropfen lagen wie blitzende Diamanten auf den Blättern der weisen Rosen, den kleinen kugeligen Immortellenblüten und dem dunklen Grün der Kranzgewinde.

Zwei Droschken bildeten das ganze Gefolge.

Die erste bestieg Frau Wittfoth in tiefer Trauer, mit verweinten Augen, das Taschentuch aus feinstem Kammertuch, den Stolz ihres Wäscheschatzes, in der Hand.

Nachdem sie alles Nebensächliche, was bei ihr immer in erster Reihe zu kommen pflegte, überwunden hatte, die Störung ihres Hauswesens, die Beeinträchtigung des Geschäftes, die Wahl eines Trauerkostümes, ob Crépe oder Cachemir, und dergleichen Gedanken, war auch der wahre, aufrichtige Schmerz bei ihr zum Durchbruch gekommen.

Sie sah sehr elend und abgespannt aus, als sie langsam, mit niedergeschlagenen Augen die paar Schritte bis an den Wagenschlag zurücklegte, den Fräulein Frieda öffnete.

Diese, nicht im Besitz eines schwarzen Kleides, trug Halbtrauer, ihr winterliches Sonntagskleid aus hellgrauer schwerer Wolle, und hatte nur eine schwarze Moiré-Schürze angelegt, die Frau Caroline für diesen Zweck noch in letzer Mintute dem Schürzenkasten entnahm.

»Der Leute wegen.«

Der angeheftete Preiszettel war in der Eile vergessen worden, zu entfernen.

»Achten Sie auch recht auf'n Laden, Fräulein«, flüsterte sie aus der Droschke heraus dem Mädchen zu. »Und wenn die Frau mit dem Unterrock kommt, wissen Sie ja Bescheid.«

Der Wittfoth zur Seite nahm der alte Beuthien Platz, in schwarzem Gehrock und mit hohem, duffem, schon etwas ins rötliche schillerndem Cylinder.

In der zweiten Droschke fuhr Hermann allein. Er hatte es so gewollt, damit nicht nur ein einziger Wagen folgte.

Gleichzeitig nahm er auch damit der Tante einen Stein vom Herzen, die ungern zu dritt in einer Droschke gefahren wäre.

»Das soll man nie thun bei 'ner Beerdigung«, sagte sie. »Das bringt Unglück. Gewöhnlich stirbt denn einer von den Dreien. Immer 'ne gerade Zahl, das ist besser.«

Hermann war in diesen traurigen Stunden noch mehr als sonst bereit, die Schwächen seiner Tante zu schonen.

War ihm die Nachricht von Theresens Tod ja auch nicht unerwartet gekommen, so hatte sie ihn doch tief erschüttert. Er hatte alle seine freie Zeit der Tante zur Verfügung gestellt und ihr alle Vorbereitungen und Anordnungen zur Beerdigung abgenommen.

Tief ergriff ihn am Morgen des Trauertages die zufällige Entdeckung, daß er dem Herzen der Verstorbenen näher gestanden haben mochte, als sie ihn hatte merken lassen.

Am Fenster sitzend, auf Theresens gewohntem Platz, sah er in ihrem Nähkörbchen sein Bild liegen, eine Photographie in Visitenkartenformat, ein Geschenk, das er ihr ungefähr vor einem Jahre gemacht hatte.

»Ich fand's unter ihrem Kopfkissen«, erklärte die Tante. »Und noch etwas für Dich«, fuhr sie fort in einem Auszug kramend. »Hier, Du solltest es zum Geburtstag haben.«

Es war jene angefangene Handarbeit, das veilchenumkränzte Monogramm Hermanns.

Gerührt barg er beides, Bild und Handarbeit, sogleich in seiner Brusttasche, da seine Zeit ihm nicht erlaubte, nach dem Begräbnis noch in die Wohnung der Tante zurückzukehren.

Als sich der kleine Trauerzug in Bewegung setzte, trug man gerade aus dem Behnschen Hause den reichgeschmückten Sarg hinaus.

Ein durchdringender Geruch von Tubarosen und Coniferen überströmte die Straße, deren Trottoire von einer dichten Menge Zuschauer besetzt waren.

In langer Reihe hielten die Folgewagen fast die halbe Straße hinauf.

Nur wenige, flüchtige Blicke folgten dem einfachen Trauerzug Theresens. Die Neugierde konzentrierte sich auf das vornehme Begräbnis.

Eine dumpfe Teilnahme machte sich unter den Zuschauern bemerkbar. Man besprach halblaut den traurigen Fall. Unkundige wurden mit wichtiger Miene belehrt und blieben gleichfalls stehen.

Ein geheimnisvoller Bann ging von Lulus hohem, blumenüberhäuftem Sarg aus, der Zauber des Gräßlichen, der Reiz des Unglücks umstrickte die Seelen.

Der Wind warf den Staub unter die Menge, über den Sarg, über die Kränze, trieb mit dem schwarzen Bahrtuch sein Spiel und bauschte die tief herabhängenden Trauermäntel der Pferde wie Segel auf.

Die zwölf Träger, in ihren althergebrachten Pompgewändern, mit weißer Halskrause, Federbarett und Galanteriedegen, ordneten sich. Der Kutscher, neben den Pferden gehend, ergriff die Zügel, und der Trauermarschall, den lang herabwallenden Flor über den linken Arm tragend, trat an die Spitze des Zuges, der sich langsam in Bewegung setzte.

Aber kaum hatte der Leichenwagen den Durchschnitt verlassen, als eine plötzliche Verkehrsstörung wieder zum Halten zwang.

Zwischen dem ersten, kleineren Trauerzug und einem beladenen Bierwagen hatte ein leichtes Cabriolet in schnellem Trab vorbeizukommen gesucht.

Das Ungeschick des fahrenden Herrn, oder ein unglücklicher Zufall, ließ das leichte Gefährt mit dem schweren Lastwagen zusammenstoßen. Das zierlich gebaute Luxuspferd war von dem heftigen Anprall zu Boden gerissen worden, der Wagen querte den Weg, und der verzweifelte Lenker stand in größter Verlegenheit bei dem gestürzten Fuchs, der wild ausschlagend, alle Bemühungen, ihn aufzurichten, vereitelte.

Daneben stand, blaß, zitternd vor Schreck, eine junge Dame, die in der Angst den kühnen Sprung von ihrem gefährlichen Wagensitz gewagt hatte.

Hermann hatte aus seinem Coupé heraus einen Augenblick Mimi zu erkennen vermeint.

Schnell zog er sich in den schützenden Versteck des tiefen Fonds zurück. Keine Erinnerung hätte ihm heute peinlicher sein können als diese. Sie brachte einen schmerzlichen Aufruhr in seine ernste, wehmütige Stimmung. Die Augen schließend, träumte er in der langsam über das stoßende Pflaster holpernden Droschke von jenem Frühlingsabendgang zwischen den Weißdornhecken, von dem ersten Walzer und den ersten Küssen.

Mit schrillem Mißklang intonierte in einer Nebenstraße eine Drehorgel einen neuerdings beliebten Operettenwalzer.

Hermann schrak aus seinem Brüten auf.

Wie gemein waren diese Klänge.

Ein Straßenjunge sang im höchsten Diskant zu den Melodien des Leierkastens die geschmacklosen Verse des unterlegten Couplets. Noch bis zur nächsten Straßenecke hörte Hermann den Gesang des Bengels.

Wo hatte er doch die Melodie, diese Worte schon einmal gehört? War es damals im Ottensener Park? Er konnte sich's nicht entsinnen.

Bis auf den Kirchhof, bis ans offene Grab verfolgte ihn die Melodie, summten ihm die banalen Verse im Ohr, aufdringlich, marternd, im Walzerrhythmus:

»Meine Liebste ist in Bremen,
Ist 'ne Selterwasserdirn.«


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