Gustav Falke
Aus dem Durchschnitt
Gustav Falke

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XXVI.

Der alte Behn saß in seinem Comptoirzimmer vor dem Schreibtisch, die Ellbogen aufgestützt, das Gesicht mit den Händen bedeckend.

Schon geraume Zeit saß er so da.

Es war eine schwüle Luft in dem kleinen Raum.

Die Sonne schien voll ins Fenster, und die Strahlen brachen sich vielfarbig in den Kristallflächen des Tintenfasses und des Briefbeschwerers.

Das Gesumme einer Fliege, die wie in blinder Wut immer wieder gegen die Fensterscheiben flog, war das einzige Geräusch in der drückenden Stille.

Draußen, auf dem Korridor, wurden Schritte laut, gedämpfte Stimmen, ein Geräusch, als würde ein schwerer Gegenstand transportiert.

Jetzt wurde etwas hart niedergesetzt.

Dann war es wie ein leises Schrammen und Schurren.

Nach kurzer Pause wieder die Schritte, das flüsternde Sprechen, das Klingen der Korridorthür, und wieder die dumpfe Stille.

Noch immer saß Behn in unveränderter Stellung, wie schlafend.

Da wurde leise die Thür geöffnet, und die halblaute Stimme der Frau Behn rief nach ihm.

Mit fast pfeifendem Laut rang sich ein tiefer Atemzug aus der Brust des Mannes, aber er rührte sich nicht.

Sie trat zu ihm und legte ihm leise den Arm auf die Schulter.

»Johannes!«

Da sanken ihm die Arme, schwer fiel die Stirne auf die gekreuzten Fäuste, und der große starke Mann schluchzte wie ein Kind.

»Johannes, wat helpt dat?« sagte sie leise.

Er stand auf, ohne sie anzusehen, als schämte er sich seiner Thränen.

Er griff nach dem breiten, tintenbefleckten Lineal und legte es auf einen andern Platz, ordnete mechanisch allerlei auf dem Schreibtisch, den Tintenwischer, die Sandbüchse, tastete an sich herum, als suche er etwas in seinen Brusttaschen und folgte endlich tief aufatmend der geduldigen Frau.

»Ne, hier Johannes«, dirigierte sie ihren Mann, der in das unrechte Zimmer eintreten wollte.

Paula, die man aus der Schule zu Hause behalten hatte, erhaschte, wie die Eltern die beste Stube betraten, mit flüchtigem Blick einen Teil des Sarges, in dem man Lulu soeben gebettet.

Sie beugte sich nachher zum Schlüsselloch hinunter, sah aber nichts, als den breiten Rücken des Vaters.

Ihre Gedanken waren in großer Erregung. Lulu tot. Unfaßbar schien es ihr.

Es war das erste Mal, daß der Tod Paula so nahe trat.

Der Schmerz der Eltern hatte auch dem Kinde vorhin Thränen abgepreßt. Seine Augen waren noch rot und heiß vom Weinen, eine trockene, stechende Hitze in den Lidern.

Jetzt, nach dem ersten Gefühlsausbruch, kam auch die Neugier zu ihrem Recht.

Paula hätte gar zu gerne die Schwester im Sarg gesehen, aber die Mutter wollte es nicht leiden.

Wenn der Vater sich doch nur mal rühren wollte, dachte sie, am Schlüsselloch lauernd. Wie man nur so lange auf einem Fleck stehen konnte.

Ob wohl viele Kränze kommen würden? Sie sah immer in Gedanken den ganzen Pomp eines Begräbnisses vor sich.

Dazwischen kam ihr der Gedanke an ihren Geburtstag, der am nächsten Sonntag war.

Ob man ihn wohl feiern würde?

Sie hatte schon in der vorigen Woche Clara Wiencke und Emmi Hopf eingeladen. Clara würde ihr eine Papeterie schenken, das wußte sie schon.

Wie häßlich, wenn nun nichts aus dem Geburtstag würde.

Plötzlich fuhr sie vom Schlüsselloch zurück. Die Thür ward hastig aufgestoßen, und der Vater, blaß, zitternd, trat schnell heraus.

»Water, flink, Water«, ächzte er.

Minna stürzte aus der Küche und stieß unsanft mit Paula zusammen.

Doch der alte Behn war schon in der Küche, ehe die Mädchen recht begriffen, was er wollte.

Die Stirn gegen die Wand gestützt, kämpfte er mit einem erstickenden Würgen, in den kurzen Pausen des Anfalls mit dem Handrücken den kalten Schweiß von Stirn und Backen wischend.

So traf ihn der Briefträger, der in der allgemeinen Aufregung unbemerkt durch die nachlässig geschlossene Thür in die Wohnung gelangt war.

Behn streckte, ohne aufzusehen, den linken Arm nach dem Brief aus.

»Mi is nich god«, sagte er, wie entschuldigend.

»Macht woll die Luft, Herr Behn«, meinte der Briefträger. »So gewitterig heute.«

Frau Behn kam hinzu und nahm ihrem Mann den Brief ab.

»Is di beter, Johannes?«

Sie hielt das Couvert gegen den Tag, um dessen Inhalt zu erforschen.

»Von Schulze«, sagte sie. »Is woll de Reknung för dat Klaveerstimmen.«

Der Briefträger, noch ohne Ahnung von dem Unglück, das die Familie betroffen hatte, erfuhr erst davon auf der Straße, durch ein Mädchen des Nachbarhauses.

Er hatte auch für Frau Caroline Wittfoth einen Brief.

Er betrat den offenen Laden, und da niemand anwesend war, rief er laut. »Briefträger!«

Er mußte noch ein zweites Mal rufen, bevor Fräulein Frieda erschrocken erschien, mit langen, vorsichtigen Schritten, auf den Zehen balancierend.

Beide ausgestreckten Hände zur Höhe der Ohren erhebend, bedeutete sie ihm mit beschwichtigender Geberde leise zu sein.

»Na, was ist denn hier los?« fragte er verwundert.

»Unser Fräulein is tot.«

»Fräulein Therese? Was hat ihr denn gefehlt?«

»Schwindsucht«, flüsterte sie, als handle es sich um ein geheimnisvolles Verbrechen.

Mit bedauerndem Kopfschütteln entfernte er sich.

Eine Arbeiterfrau kam und forderte einen wollenen Unterrock.

Fräulein Frieda konnte sich nicht besinnen, in welchem Schubfach das Gewünschte zu finden war, und holte die Wittfoth.

Frau Caroline erschien, verweint, mit geröteter Nase, das Taschentuch in der Hand.

»Meine Nichte ist heute Morgen gestorben«, erzählte sie auf den fragenden Blick der Käuferin. »Da hab ich ja gar keine Ahnung von gehabt. Und wie hab ich sie gepflegt, als mein Kind. Aber gegen Gottes Willen kann man ja woll nicht an. Und dabei alle Hände voll zu thun. Ich weiß auch gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht.«

»Ja,« sagte die Frau, die geduldig alles angehört hatte. »Mit so'n Krankheit is dat ne egene Sak. Na, ik kam mal wedder lang.«

»Dohn Se dat«, bat Frau Caroline. »Ik sögg Se den Unnerrock rut.«


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