Gustav Falke
Aus dem Durchschnitt
Gustav Falke

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XXI.

Der alte Behn war gleich nach dem Horner Rennen ins Bad gereist. Er pflegte alle zwei Jahre nach Karlsbad zu gehen. Aber als starker Esser stellte er den Erfolg seiner Kur gewöhnlich schon in den ersten Wochen nach seiner Rückkehr auf eine Probe, die dieser nie bestand.

Die ganze Familie hatte ihm, wie immer, das Geleit an den Bahnhof gegeben.

Lulu, die in tausend Sorgen war, hatte das Gefühl, als wäre ein Aufpasser weniger im Hause. Sie atmete einen Tag lang auf. Schalt sich aber schon am nächsten thöricht. Wie lange konnte sie es denn noch verbergen? Ueber kurz oder lang mußte es zu Tage kommen, selbst wenn die Mutter blind wäre.

Wilhelm wich ihr gänzlich aus. Vergebens hatte sie eine Annäherung versucht, ihm auf der Straße aufgepaßt. Aber er hatte es ja so leicht, sie von seinem Bock aus zu übersehen, sie, schneller fahrend, hinter sich zu lassen.

Wollte er sich von ihr zurückziehen? Hatte er nur sein Spiel mit ihr getrieben?

Ihr schwindelte bei dem Gedanken.

Aber er sollte nicht glauben, sie wie jede andere Lise behandeln zu können.

Aber ihr Trotz, ihre Kampfstimmung hielt nicht lange vor. Sie war keine Heldin. Sie war nur stark im passiven Widerstand, im stumpfen Uebersichergehenlassen.

Nach den kurzen Augenblicken auflodernden Trotzes bemächtigte sich ihrer eine um so tiefere Niedergeschlagenheit.

Auf die Dauer konnte der Mutter Lulus verändertes Wesen nicht entgehen, die Ursache ihrer wechselnden Stimmung, ihres wechselnden Wohlbefindens nicht verborgen bleiben.

Sie hatte schon Verdacht, als sie sich noch immer schweigend, beobachtend verhielt.

Lulu, mit der Feinfühligkeit des schlechten Gewissens, merkte es der Mutter wohl an, daß diese sie erraten hatte.

Sollte sie ihr zuvorkommen, ihr alles gestehen?

Es drängte sie dazu. Aber der versteckte Trotz ihres Charakters erhob immer wieder Einsprache, unterstützt durch die Feigheit.

Lulu hatte ja auch mit der Mutter nie auf solchem Fuß gestanden, daß sie nun ein liebevolles Verzeihen, Mitfühlen, Verständnis, erwarten und beanspruchen durfte. Sie hatte der Mutter selten ein gutes Wort gegönnt, und sollte sich nun so vor ihr demütigen.

Ihre Seelenqualen wurden noch durch Paula vermehrt, die sich arglos beklagte, daß Wilhelm Beuthien sie gar nicht mehr beachte.

»Er thut immer, als sieht er mir nicht. Aber was ich mir dafür kaufe.«

Im Grunde aber ärgerte sich die Kleine sehr über Beuthien, dessen Benehmen sie sich nicht zu deuten wußte. Sie hatte sich etwas darauf eingebildet, daß er sie bisher überhaupt beachtet hatte. Es war ihr heimlicher Stolz gewesen. Nun sah er über sie hinweg, wie über jedes andere Schulmädchen. Ihre Eitelkeit war verletzt. Aber statt sich verschüchtert zurückzuziehen, setzte sie ihren Ehrgeiz darin, das verlorene Terrain wieder zu gewinnen. Beuthien war ihre fixe Idee. Sie verfolgte und beobachtete ihn und machte die Schwester, zu der sie in dieser Sache Vertrauen gewonnen hatte, zur Mitwisserin ihrer Entdeckungen.

»Du mit Deinem Beuthien«, rief Lulu dann manchmal gequält. »Was geht Dich Beuthien an.«

Aber sie war dann wenigstens froh, aus Paulas Antworten entnehmen zu können, daß diese keine Ahnung von ihrem Verhältnis zu Beuthien hatte.

Um so größer war ihre Angst vor der Mutter. Immer drängte sich das Geständnis auf die Zunge, aber immer schreckte sie wieder zurück. Und doch, irgend jemand mußte sie sich anvertrauen. Allein konnte sie es nicht mehr tragen.

Mehrmals schon war sie in ihrer Angst im Begriff gewesen, Minna, das Mädchen, ins Vertrauen zu ziehen. Einmal hatte sie sogar schon leichthin Andeutungen gemacht, aber Minna war zu dumm, zu »begriffsstützig.«

Nachher hatte Lulu sich gescholten. Schämte sie sich denn nicht, sich so gemein mit dem Dienstmädchen zu machen?

Dann aber kam der Tag, der allem ein Ende machte, ihr die Entscheidung aus der Hand nahm.

Frau Behn war ihrer Sache gewiß geworden und konnte nicht länger schweigen.

Im Comptoir des Vaters, unter vier Augen, sprachen sie sich aus.

Nur eine leise Andeutung der Mutter, ein fragender Blick, und Lulu brach in Thränen aus.

»Wo heet he?« fragte Frau Behn ruhig, aber energisch.

Lulu schwieg. Die Mutter schüttelte sie heftig am Arm.

»Wull Du reden. Wo heet de Keerl?«

Wo war Lulus Trotz? Wie ein Kind mußte sie sich schelten lassen?

Es war, als ob das Uebergewicht, das die sonst so schwache Frau plötzlich über die Tochter erlangt hatte, allem lange aufspeicherten Groll der Mutter die Riegel öffnete. Sie bebte vor Zorn.

»Wo heet de Keerl?« rief sie immer heftiger. »Ik will dat weten.«

Und als Lulu trotzte, »das sag ich nicht«, ohrfeigte sie sie.

»Das ist gemein«, fuhr Lulu auf.

»Was ist gemein?« Die Mutter rückte ihr fast auf den Leib. »Was ist gemein? Du, Du!«

Ein tiefes Erblassen, ein röchelndes Nachatemringen, ein unsicheres Umhertasten mit den Händen, und schwer sank Lulu an dem neben ihr stehenden Stuhl hin zu Boden.

Erschrocken sprang die Mutter zu. »Lulu! Kind!«

Sie riß die Thür auf und rief nach Minna und nach Wasser.

Das Mädchen brachte das Verlangte erstaunt.

»Is Fräulein krank?« fragte sie und half der Mutter, die Ohnmächtige auf den kleinen Lederdivan betten.

»Se is man beten flau«, war die Antwort. »Lat man dat Füer nich utgahn, hörst Du?«

Und Minna sah nach dem Herdfeuer, während Frau Behn der sich erholenden Lulu sanft über Stirn und Scheitel strich.

»Deern, Deern«, sagte sie vorwurfsvoll, aber mit weichem, warmem Herzenston. »Wat'n Sak, wat'n Sak.«

Seit dieser Stunde waren Mutter und Tochter ausgesöhnt, hatten sich wieder gefunden.


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