Kurt Faber
Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer
Kurt Faber

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Allerhand Weihnachten

(geschrieben 1925).

Zu Weihnachten ist man am liebsten zu Hause. Darum sind Weihnachten in der Fremde – mögen sie sonst auch noch so schön und romantisch sein – doch nur ein kümmerlicher Ersatz für das, was man zu Hause zurückgelassen.

Was ist es nur? Manch einer ist in der Jugend davongelaufen ins Ausland und dort verwelscht, verrußt, verengländert und tut sich noch etwas darauf zugute. Und immer um diese Jahreszeit, wenn gerade in New York Stein und Bein erfriert und in Buenos Aires eine Backofenhitze ist, da klingt es dennoch in seinen Ohren wie Kinderlust und Glockenklingen, und die Weihnachtstage stehen auf einmal wieder vor ihm wie Meilensteine in der Wüste.

Wenn ich an die vielen Weihnachtstage zurückdenke, die ich erlebt habe in fremden Ländern und auf fernen Meeren, so kommt es mir erst recht zum Bewußtsein, wie launisch das Schicksal sein kann und wie kraus und verworren es zuweilen im Leben zugeht.

Gleich die erste Weihnacht in der Fremde war recht apart. Das war in Texas. Einige Monate schon hatte ich mich im Lande umhergetrieben als junger Tunichtgut und meine Hände in einem Dutzend Berufen versucht, bis ich endlich eine fabelhafte Stelle als Wärter in der großen Irrenanstalt zu San Antonio bekam. Da kam der Weihnachtstag. Der Direktor wollte etwas tun für die Gelegenheit und versammelte die Angestellten und die leichter zu behandelnden Patienten zu einem großen »Christmas-dinner« mit dem obligaten Truthahn, der in Amerika nicht fehlen darf bei solcher Gelegenheit. Nicht ohne Befürchtungen war man wegen des glatten Verlaufs der kleinen Festlichkeit. Aber es ging alles zur vollen Zufriedenheit bis auf einen kleinen Zwischenfall. Da war nämlich Miß Laura, ein altes Fräulein, das vor langer Zeit von Deutschland eingewandert war und nun schon seit Jahren in der Anstalt wohnte, wo sie von früh bis spät ihren etwas wunderlichen Beschäftigungen nachging. Gewöhnlich war sie eine stille und harmlose Person, aber zuweilen, wenn irgend etwas sie an die »Old country« erinnerte, konnte sie leidenschaftlich aufbegehren. Denn die Sehnsucht nach Deutschland war ihre einzige Krankheit. An jenem Abend nun, als alle vor ihrem »Christmas turkey« saßen und einer des anderen Wort nicht mehr hörte vor lauter Geschnatter, ließ sich plötzlich die dünne Stimme der Miß Laura vernehmen.

»Stille Nacht . . .«

Im Augenblick verstummte die Unterhaltung. Es war, als ob ein Reif auf die lustige Tischgesellschaft gefallen wäre. »Still,« sagte der Direktor mit erhobenem Finger. »Kein Wort, bitte! Wenn sie ihren Anfall bekommt, garantiere ich für nichts.« Und in das Schweigen klang es:

»Durch der Engel Halleluja
Tönt es laut von fern und nah:
Christ, der Retter, ist da.«

Die alte Miß sang es zu Ende mit dünner, unsicherer Stimme, während sie mit weit aufgerissenen Augen starr und geistesabwesend vor sich hinblickte. Dann kamen zwei Wärter und führten sie hinaus. Einen Augenblick noch herrschte betretenes, verlegenes Schweigen. Dann ging die Unterhaltung weiter, als ob nichts geschehen wäre. Denn solches und ähnliches kam dort alle Tage vor. Ich aber konnte kein Auge zumachen während der ganzen langen Nacht. Je mehr ich die Gedanken zu bannen versuchte, je finsterer stürzten sie aus meinem Kopfe. Der Kummer, das Heimweh, das böse Gewissen, und langsam kamen mir die Tränen, ob ich mich auch dagegen wehrte mit der ganzen Kraft meiner jungen Männlichkeit.

Ach, ich war ja noch ein halbes Kind, und es war die erste Weihnacht in der Fremde! – –

Ein Jahr später erlebte ich meine zweite amerikanische Weihnacht in Kalifornien:

»In dem großen Nebellande Amerika,« sagt Lenau, »werden der Liebe leise die Adern geöffnet, und sie verblutet sich unbemerkt. Die Nachtigall hat recht, daß sie bei diesen Wichten nicht einkehrt. Eine Niagarastimme gehört schon dazu, um ihnen zu predigen, daß es noch höhere Götter gibt, als die im Münzhause geschlagen werden.«

So wird man langsam verdorben in dieser Umwelt. Man kommt auf Um- und Abwege und lernt allerlei schlechte Künste, unter denen das Schwarzfahren auf der Eisenbahn noch die harmloseste ist. Aber auch dabei trifft man zuweilen eine weiche, mildtätige Seele, die für Weihnachtsstimmungen empfänglich ist.

Nun ja, das war auf dem Tender einer Schnellzugslokomotive der Südlichen Pazifikbahn, irgendwo zwischen Los Angeles und Pasadena. Im Schatten des großen Kohlenhaufens hatte ich mich so unsichtbar wie möglich gemacht und hatte nur Augen für die Männer, die an dem Feuer rüttelten und die Kohlen schaufelten, und das aus guten Gründen. Wenn je eine kalte Nacht gewesen war, so war es jene. Ein klirrender Frost lag in der Luft, und von den nahen Schneebergen kam ein eisiger Wind, der wütend an den dünnen Kleidern zerrte. Krampfhaft, mit halb erstarrten Händen, hielt ich mich fest am Rande des Wassertanks, auf dem blaue Ölflecken metallisch schimmerten. Der Ruß war unerträglich. Die kleinen Kohlenstückchen flogen scharf wie Messer durch die Luft. Ich sah den Funkenregen, der wie ein Feuerwerk aus dem Schornstein kam, ich hörte das Rasseln der Schaufeln, das wilde, herausfordernde Heulen der Lokomotive und hatte darüber ganz vergessen, daß heute gerade der Abend des vierundzwanzigsten Dezembers war.

Diesmal hatte sich das Schwarzfahren gelohnt. Station um Station huschte vorüber in hastiger Eile. Aber je kleiner der Kohlenhaufen wurde, je größer war die Gefahr der Entdeckung. Schon schaute das rußige Gesicht des Heizers von der anderen Seite herüber. Ich suchte mich noch unsichtbarer zu machen. Da schlug er mit der Schaufel gegen den halbleeren Behälter, an dessen Wänden es tausendmal widerhallte.

»Komm heraus, du Kröte!«

Alles Verbergen hatte nun keinen Zweck mehr. Ich kam heraus, und der Maschinist – ein dicker Mann mit einem runden, glattrasierten Gesicht – schaute mich an im flackernden Licht des offenen Feuers.

»Merry Christmas!« sagte er freundlich.

»Merry Christmas!« sagte ich ebenfalls, obwohl es mir nicht darum war.

Der Heizer blickte auch schon freundlicher. »Eigentlich sollt' ich dich niederboxen« sagte er bedächtig, »aber weil heut' Weihnachten ist –«

Alles das hörte ich nur halb. Der Frost lief mir eisig über den Rücken, und meine Zähne klapperten vor Kälte.

»Das kommt davon,« sagte der Maschinist. »Wärst du bei Mama geblieben, so könntest du jetzt Turkey essen, hättest einen Strumpf voll schöner Sachen, wärst im warmen Zimmer und könntest nachts im Bett schlafen statt hier auf dem Kohlenhaufen. – So ein grüner Bengel –«

Während er noch so redete, holte er seinen Eßeimer hervor. Der Heizer gab auch noch etwas dazu, und schon saß ich vor einem mächtigen Teller voll »Turkey and cranberry.« Wer einmal in Amerika war, der weiß, was das ist, und die anderen können es sich ohnehin nicht vorstellen. Die Amerikaner haben keine Phantasie in solchen Dingen. »Turkey and cranberry« essen sie immer, bei jeder nur erdenklichen festlichen Gelegenheit.

Wie dem auch sei: So war ich nun doch noch zu einer Art Weihnachtsbescherung gekommen, trotz aller Verlassenheit in der freudlosen Fremde. Ich drückte mich aus dem Weg der arbeitenden Männer in eine Ecke der Lokomotive und aß mich einmal ordentlich satt, denn ich hatte es nötig. Ich sah dem Heizer zu, wie er die Türen aufriß und an dem Feuer rüttelte. Ich sah die weiße Glut im Kessel, die tanzenden Funken am Himmel und die phantastischen Schatten, die über den Kohlentender huschten. Je länger ich da saß, desto wärmer und wohliger wurde mir zumute. In meinem Herzen erhob sich ein Klingen und Singen, und mir war, als ob der Wind, der eben noch so rauh und feindselig von den Bergen herübergeweht hatte, nun auf einmal lebendig wäre vor lauter Weihnachtsliedern und das wilde Gewirbel der Kohlenstücke zu tanzen anfinge aus purer Lust am Leben. Schnell waren wir am Ziele angelangt, wo der Maschinist mich mit freundlichen Worten verabschiedete und mir noch einen blanken Silberdollar in die Hand drückte.

Was ist ein Dollar? Ein Nichts, das einen kaum einen halben Tag lang über Wasser halten kann im Schiffbruch des Lebens, ein widerwärtiges Ding, um das sich die Menschen raufen. Aber am richtigen Platz und im richtigen Augenblick ist er groß und rund, ein wahrer Wohltäter, ein zauberhaftes Ding, das wilde Köpfe beruhigen und verstörten Gemütern die verloschene Freude am Leben von neuem entzünden kann. Und den Glauben an – – die Menschen. – –

Vom hohen Tender einer kalifornischen Schnellzuglokomotive bis zum wackeligen Beiwagen der Lokomobile einer argentinischen Dreschmaschine ist ein großer Sprung.

Und das bringt mich darauf, von einer anderen Weihnacht zu erzählen. Argentinische Illusionen spuken heute in vielen jungen deutschen Köpfen. In meinem haben sie auch einmal gespukt, und so kam es, daß ich eines Tages am La Plata landete mit einem »Swelled head«, wie die Amerikaner sagen: mit einem großen, geschwollenen Kopfe, der sich schon als Prokurist in einem Handelshaus, als Majordomus auf einer Estancia sah. Es war nur bedauerlich, daß die anderen es nicht im gleichen Lichte sehen wollten, und so kam es, daß ich einige Wochen lang müde und arbeitslos durch die heißen Straßen von Buenos Aires irrte, bis ich eines Tages mein Bündel (man nennt das dort eine Lingera) packte, um mein Glück auf dem flachen Lande zu versuchen. – Nun ja, als die Not am größten und der Geldbeutel am leersten war, kam ich gerade am Weihnachtsabend nach einem Pueblo, wo ich Arbeit an einer Dreschmaschine fand. Sogleich ging es hinaus in die Pampa. In dem tiefen Sand der ungepflegten Straße kam die Lokomobile nur langsam vorwärts, und bei Sonnenuntergang hatten wir eben erst die letzten Häuser des Städtchens hinter uns gelassen. Auf den heißen Tag war eine schwüle, gewitterdrohende Nacht gefolgt. Dicke, schwarze Wolken jagten über den Himmel, von dem nur ab und zu für einige Minuten der Vollmond ein weißes Licht über die Landschaft goß. Ein lauer Wind raunte in den Maisfeldern und spielte mit den roten Funken, die die geschäftige Maschine bei jedem Atemzug in die Nacht hinausschleuderte. Es war, wie gesagt, eine drückend schwüle Nacht, und keiner war so recht bei Stimmung. Neben mir saß ein wild aussehender Spanier mit einem mächtigen Haarschopf und konnte sich nicht genug tun im Lästern und Fluchen. Die anderen, die neben uns saßen, wurden davon angesteckt und fluchten noch viel schöner und farbenprächtiger als er es konnte, und ja, das war von den Weihnachten, die ich erlebt habe, die unheiligste von allen. – –

Noch ganz deutlich, als ob es gestern gewesen wäre, erinnere ich mich des letzten Weihnachtstages, den ich auf der anderen Seite des Polarkreises zugebracht hatte. An einem schönen trockenen Baumstamm, dessen Ende irgendwo aus dem Eise herausschaute, entzündeten wir ein mächtiges Feuer, dessen rote Glut weit hinausleuchtete in die weiße Landschaft unter dem sammetschwarzen Nachthimmel. Es war sehr kalt, selbst für dortige Verhältnisse, vielleicht dreißig, vielleicht vierzig Grad unter Null. Man mußte sich fast auf das Feuer setzen, um etwas abzubekommen von der Hitze, und auch dann noch war der Rücken wie ein Eisklumpen, während die sengende Glut die Hände verbrannte. Still war es ringsum, so still, wie es nur im Eismeer sein kann. Nur zuweilen knurrten die Hunde wie im Traum. Nur zuweilen kam von irgendwo ein lauter Knall, wenn der Frost einen Spalt in die Eisdecke riß, nur zuweilen preßten weit draußen im Packeis die Schollen aufeinander mit übernatürlich lautem Knirschen und Mahlen, das wie dumpfes Donnerrollen durch die Stille kam. Ringsum war alles schwarz und weiß in der Landschaft. Die Schatten der Schneebänke lagen lang und schwarz und regungslos auf der weißen Fläche. Es war, als ob das Wunder dieser Nacht einen lähmenden Bann auf alles Leben geworfen hätte. Nicht ein Lufthauch regte sich in der Runde. Das rote Feuer stieg schnurgerade zum Himmel, an dem die Sterne groß und feurig standen und unruhige Nordlichter durch das Dunkel huschten.

Lange saß ich regungslos und schaute in das verworrene Spiel der immer wilder auflodernden Flammen und hörte nur halb auf das stockende Gespräch des Eskimos, der mich schläfrig unterhielt in seinem merkwürdigen Mischmasch von Eskimo und Pidgin-Englisch. Und auf einmal fiel mir ein, daß das ja die Weihnachtsnacht war. Es war die dritte in dieser Wildnis. Wurde es die letzte sein? Würde man die nächsten wieder drunten erleben in der Freiheit und der zivilisierten Welt? Ich starrte in die unruhige Flamme, als sollte sie mir Antwort geben auf meine Frage, ich schaute in die umgebende Nacht, die still und feierlich dalag; eine wahrhaft heilige Nacht. Ich blickte hinauf zu den Sternen, die groß und feurig leuchteten, wie so viele Sterne zu Bethlehem, und während sie frostig durch das Dunkel leuchteten, schienen sie alle dasselbe zu sagen: »Du wirst! Du sollst! Wenn diese Nacht vorüber ist – –«

Ja, und nun könnte ich noch von verschiedenen anderen exotischen Weihnachten erzählen, von schönen und weniger schönen und von solchen, die man am besten ganz übergeht.

Aber wie sie auch waren. Gut oder schlecht, heilig und unheilig, ich liebe sie alle, wie ich das Leben liebe, und oh! ich möchte nicht eine davon gestrichen sehen aus dem Buche meines Lebens. Trotz allem möchte ich es nicht.

 


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