Kurt Faber
Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer
Kurt Faber

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Revaler Spaziergänge

Auf dem »Dom« von Reval, dort, wo einmal ein schöner Garten gestanden hatte, haben sie seinerzeit auf Befehl des Zaren eine griechisch-katholische Kathedrale errichtet, die zu der Gegend paßt wie etwa eine Moschee in Berlin-Schöneberg. Eine Art Zwing-Uri, das mit den mächtigen Kuppeln und den vergoldeten Doppelkreuzen weit hinaus leuchtet in das flache Land, nach dem Hafen und noch weiter hin ins offene Meer, wo es blau aufblitzt bei der Reede von Baltisch-Port.

Baltisch-Port?

Gehen einem bei dem Namen nicht die Augen über von stolzen Kriegsschiffen und kaiserlichen Jachten, von katzbuckelnden Ministern, schimmernden Uniformen und goldbestickten Diplomatenfräcken? Wer erinnerte sich dabei nicht der weltbewegenden »Entrevuen«, die einmal die Welt widerhallen machten vom Donner der Salute, vom Feuer der Trinksprüche und von kaiserlichen Küssen?

Vom Dom steigen wir hinab in das Gewimmel der krummen Gassen und Gäßchen der alten Stadt. – Hinab? In den Städten des Mittelalters gab es kein Hinauf und Hinab. »Stadtluft macht frei,« pflegten sie damals zu sagen. Jeder war ein Mensch, ob er Ratsherr oder Handwerker war.

»Meister rührt sich und Geselle
In der Freiheit heil'gem Schutz.
Jeder freut sich seiner Stelle,
Bietet dem Verächter Trutz.«

Je weiter man in die Stadt hineingeht, um so verworrener wird das Gewirr der Gassen. Zuweilen geht man durch ziemlich breite Straßen, umsäumt von alten Häusern mit verschnörkelten Ornamenten und kunstvoll geschmiedeten Handwerksschildern, mit riesigen Scheren und vergoldeten Bretzeln, die weit in die Straße hängen. Dann ist man wieder in einem Gewirr von Gassen und Gäßchen, Treppen und Treppchen, Gängen und Gängchen, von Türmen und Toren, den stummen Zeugen einer trotzigen Vergangenheit. Und immer wieder stößt man auf eine neue Kirche oder ein Haus mit einem hohen Turm. Zwei von diesen Türmen sind schlanke Säulen und erinnern in ihrer äußeren Form – der eine hat sogar eine Galerie – an orientalische Minaretts. Da ich nun gerade bei diesem Wort angelangt bin, kann ich mir einen kleinen Sprung vom Wege nicht versagen zwecks Erzählung einer kleinen Geschichte von Muezzins, Minaretts und einer groben Verkennung aller realen Tatsachen, deren sich eine biedere Schwäbin in Konstantinopel schuldig machte. Der dortige deutsche Gesandte – der sich mit der orientalischen Küche nicht befreunden konnte – hatte sich eine Köchin aus Böblingen verschrieben, die sich so ihre eigenen Gedanken über die neue Umwelt machte. Wieviel Uhr es denn sei?, fragte eines Tages der Gesandte; »'s ischt sechs vorbei,« antwortete die Köchin, »der Herr Pfarrer hat's schon ausg'rufe.«

An einem kleinen Platze steht das sogenannte Schwarzhäupterhaus, nicht eben das schönste, aber sicherlich eines der interessantesten Häuser dieser alten Stadt. Die Gesellschaft der Schwarzhäupter, die als Zeichen ihrer exotischen Einstellung den Mohren Mauritius als Schirmherr erkor und daher auch ihren Namen ableitete, spielte bekanntlich im Leben und in der Geschichte der Hansastädte eine große Rolle. Es war eine Vereinigung junger Kaufleute, die bei der Rückkehr aus fernen Ländern hier einen Sammelpunkt hatten. Jeder junge deutsche Kaufmann oder kaufmännische Angestellte rechnet es sich zur Ehre an, wenn er in die Reihen der Brüderschaft aufgenommen wird. Mit Stolz zeigt man einem den Sitzungssaal mit den gespensterhaften, von der Zeit gedunkelten Ölbildern, wo auf hohen, altmodischen Lehnstühlen die Brüder sitzen nach Alter und Verdienst und nicht in einem stillosen modernen Durcheinander. Mit Stolz zeigt man die Waffen und Rüstungen der Vorfahren und den aus einem Elchfuß verfertigten Trinkbecher, aus dem schon so manchem erlauchten Besuch der Willkommtrunk geboten wurde. Wenn er erzählen könnte, so wüßte er manches zu berichten, das der Mühe wert wäre, aber keine Geschichte, die so grausam wäre wie diese:

Zu Anfang des 18. Jahrhunderts war Krieg im Baltenlande. Die Zeiten waren schlecht, und niemand dachte an Feste. Seit zwei Jahren schon hatte man niemand mit dem Becher begrüßt im Schwarzhäupterhause. Verstaubt und vergessen stand der Becher in einer Ecke, ein Tummelplatz der Spinnen und Mäuse. Da geschah es, daß unvermutet Peter der Große seinen Besuch anmeldete. Große Aufregung im Schwarzhäupterhaus. In aller Eile holte man den Becher hervor und füllte ihn mit Wein, ohne sich vorher um eine gründliche Reinigung zu kümmern. Erst als der Großmeister vor Peter stand, um auf dessen Gesundheit zu trinken, bemerkte er zu seinem Schrecken eine Maus, die auf dem Wein schwamm. Kurz entschlossen, schluckte er sie hinunter. Denn was blieb ihm anderes übrig? »Si non è vèro –« möchte man sagen, denn im allgemeinen pflegt man doch dem Gast den ersten Trunk anzubieten. Aber, wie dem auch sei: Sie haben nachher noch manche Maus hinunterschlucken müssen in den zweihundert Jahren russischer Herrschaft. Und noch viel mehr davon in den letzten Jahren dieser nachnovemberlichen Zeit.

Es ist eine alte Wahrheit, daß die kleinen Herren stets die strengsten sind. Man weiß ja, wie in den letzten Jahren ein wahrer Wettlauf entstanden ist in der Mißhandlung der »fremdstämmigen« Minderheiten von seiten der kleinen Staaten, die aus der Retorte entstiegen sind in der Hexenküche von Versailles. Zwar sind diese Rechte eindeutig festgelegt als Teil und Inhalt des Vertrages. Jedoch – was hat man in diesen Jahren nicht alles schon festgelegt und paragraphiert, verankert in Verfassungen und Verträgen! Paragraphen! Wenn sie schon den Großen nicht heilig sind, warum sollten sich die Kleinen darum kümmern? Im Gegenteil! Man hat geradezu den Eindruck, daß unter ihnen ein Wettlauf eingesetzt habe in der Mißhandlung der Minderheiten, um sich dadurch in ein günstiges Licht zu setzen bei den kapitalkräftigen Westmächten, zu denen man anleihelüstern hinüberschielt. Zumal in jüngster Vergangenheit ist diese Offensive im Gange mit einem wahren Trommelfeuer von Verordnungen, Verfügungen und Verboten. Man frage darüber einmal die Männer, die in Rumänien und Jugoslawien im Gefängnis sitzen. Man frage die Väter der Kinder, die in ihrem eigenen Heimatlande in ihren Schulen nicht mehr Deutsch sprechen, ja den Namen des heiligen Landes Tirol nicht mehr aussprechen dürfen. Niemals in der Weltgeschichte ist ein Volk solch allgemeiner Verfolgung und Verfemung ausgesetzt gewesen wie heute das deutsche! Man hat erkannt, daß heute der Schwerpunkt unseres Einflusses aus dem Deutschen Reiche hinweg ins Deutschtum verlegt wurde, und so sucht man dieses bei jedem einzelnen persönlich auszurotten.

Es muß anerkannt werden – denn wir müssen als Deutsche heute schon dankbar sein, wenn man uns wenigstens unser verbrieftes Recht nicht bricht – daß auch in Estland die kulturellen Bestrebungen des Deutschtums im allgemeinen nicht behindert werden. Dafür hat man materiell seine Existenz zum großen Teil vernichtet. Schon immer hat man in diesem Lande mit lüsternen Augen nach dem Hab und Gut der »Barone« geschielt. Nach dem alten Grundsatz »Divide et impera« hat die russische Regierung diesen Anschauungen und Gelüsten nichts in den Weg gelegt. Man erfand die Phrase von dem »Landhunger« der breiten Massen, die diesen einging wie Öl, denn aus anderer Leute Haut ist gut Riemen schneiden. Noch hatten die deutschen Truppen nicht ganz das Feld geräumt, als sie plündernd darüber herstürzten. Die Güter wurden über Nacht »enteignet«. Alle die alten Adelsfamilien, deren Vorfahren schon seit 700 Jahren im Lande saßen, wurden als Fremdlinge erklärt und behandelt. Als »Hans ohne Land« sitzt nun so mancher in seinem Stadthause auf dem »Dom« – dem einzigen ihm verbliebenen Grundeigentum – und fristet sein Leben durch Verkaufen von altem Schmuck und alten Bildern, von denen jedes einzelne einmal ein Stück seines Lebens war. Aber einmal geht auch das zu Ende. –

Die städtische deutsche Bevölkerung hat man indessen ziemlich ungeschoren gelassen. Sie hat es sogar verstanden, ihren Einfluß und ihr Vermögen recht beträchtlich zu vermehren in diesen Jahren. Und es ist ein Reichtum, der nicht im Materiellen versinkt. Das alte Schwarzhäupterhaus ist zu einem Haus des Deutschtums umgebaut für deutsche Vereine, deren es auch hier, wie anderwärts, so viele gibt wie Sand am Meer. Kein deutsches Kind in Estland ist heute ohne deutsche Schule, obwohl deren Erhaltung fast nur auf private Mittel angewiesen ist.

Oh, daß die Deutschen in Deutschland nur einen kleinen Teil der baltischen Opferwilligkeit aufbringen könnten! Man brauchte um die Zukunft unseres Volkes nicht besorgt zu sein. Denn wie sagte doch Nietzsche?

»Auch nach tausend Todesgängen
Bin ich Atem, Dunst und Licht.
Unnütz, unnütz, mich zu hängen.
Sterben, sterben kann ich nicht!«

 


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