Kurt Faber
Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer
Kurt Faber

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Wallfahrt zu japanischen Tempeln

Osaka, im September

Nach Japan geht man am besten zur Zeit der Kirschenblüte. Das liest man in jedem Reiseführer, das sieht man auf jeder Reklame der Schiffahrtsgesellschaften. Es ist eine Erkenntnis, die sich verdichtet hat zu einem unbestrittenen Axiom, wenngleich Menschen, die es wissen müssen, mit Bestimmtheit behaupten, daß die Kirschen hier nicht anders als anderwärts blühen, daß man das alles auf der Bergstraße ebenso schön und noch schöner haben könne und daß sie auch hier wie dort manchmal verregnet.

Aber es ist erstaunlich, welche Aschenbrödelrolle in diesem Lande der Blüten doch die Blumen spielen. Es ist ein Land ohne Blumen, wie es auch, trotz allem Lächeln, ein Land ohne Lachen ist. Japaner sind große Gartenfreunde, aber anders als in anderen Köpfen malt sich bei ihnen das Ideal einer solchen Anlage. Das wilde Chaos, die aufreizende Anarchie der Farben in einem Blumengarten beleidigt ihr angeborenes Gefühl für Symmetrie und Ordnung. So besteht sein Garten im wesentlichen nur aus Bäumen und Felsblöcken, mit deren Hilfe er nach Möglichkeit irgendeine berühmte Landschaft nachzuahmen sucht. Die Hauptsache ist die Umrahmung. Je höher der Herr, desto dicker die Mauer, desto mächtiger die Felsblöcke, hinter denen man kaum noch die Spitze des geschwungenen Weges, die rote Ampel vor der Haustür sehen kann. Ihm ist wahrlich sein Haus seine Burg, und das nicht ohne Zweck, denn schließlich steht man hier trotz allem noch immer mit einem Fuß im mittelalterlichen Feudalsystem.

So weiß man oft nicht, wo der Wald aufhört und der Garten anfängt. Die Liebe zum Wald ist eine Eigenschaft, die der Japaner mit dem Deutschen gemein hat. Jeden Berg, jeden Hügel, jedes ungenutzte Plätzchen bepflanzt er damit. In jedem eroberten Land – und Japan hat viel erobert in diesen letzten Jahrzehnten – folgt der Forstmann dem Soldaten auf dem Fuße. Im Walde legt er seine Gotteshäuser an. Fährt man über Land, so sieht man ab und zu, mitten im Hellgrün der Reisfelder, einen dunklen Kiefernhain, vor dem unweigerlich ein Tor steht, durch das ein Weg hinein ins Dickicht zu Gott und den Göttern führt! Wie seltsam ist doch hier die Religion! Sie zeigt sich nicht frei, sie läutet nicht mit Glocken, sie mahnt und droht nicht mit himmelanstürmenden Türmen. Sie versteckt sich im Gebüsch, sie hüllt sich in Weihrauchwolken und trägt ihr Antlitz nach innen, wie alle wahrhaft Weisen sollten, nach dem Rezept, das ihnen schon Omar, der Zeltmacher, gab.

Es ist ein eigenes Erlebnis, wenn man im Schweiß des Angesichts zu so einem japanischen Tempel hinansteigt, zuerst auf dämmerdunklen Waldwegen, umsäumt von hohen Zedern, zwischen denen unzählige Lampions hängen, dann über breite Steintreppen, die niemals enden wollen, bis man endlich hoch oben auf dem sonderbarsten Orte steht, den Menschenphantasie sich je ersinnen konnte. Links und rechts stehen die Tempel mit ihren geschwungenen, mit Dekorationen grotesk überladenen Dächern. Ungeheure metallene Löwen mit scheußlich grinsenden Gesichtern hocken drohend vor dem Eingang, verkrampfte Drachen, wahre Wunderwerke der Schmiedekunst, recken gierig die Hälse, derweilen aus dem schwarzen Schlund das muntere Bergwasser heraushüpft in einen kühlen, steingefaßten Brunnentrog. Es ist eine unwirkliche Welt, die einen mit Schrecken erfüllt und die wohl auch darauf berechnet ist.

Nur zögernd steigt man die wenigen Stufen zum Tempel hinauf, wo unter dem Dach die mächtige Ampel, der Weihrauchkessel, langsam hin und her schwingt und tief aus dem dunklen Hintergrund das Antlitz Buddhas herausschaut. Während des ganzen Tages ist es ein ständiges Kommen und Gehen von Gläubigen, die ihre Andacht recht geschäftsmäßig, mit beinahe amerikanisch anmutender Sachlichkeit verrichten. Man tritt zum Schrein heran, zieht einmal an der großen Klingel, deren breites Stoffband oben mit einem Gong verbunden ist, gewissermaßen eine Klingel für den lieben Gott. Dann klatscht man dreimal in die Hände, steht knapp eine halbe Minute im Gebet. Dann geht man fröhlich davon, im Bewußtsein der vergebenen Sünden. Diese Leute leiden nicht an ihrer Religion. Es ist nichts Fanatisches, nichts Asketisches damit verbunden, nicht einmal das, was man auf Englisch als »cant« bezeichnet. Und eben darum hat sie nie tiefe Spuren gezogen auf dem Gebiete der Kunst. Diese Tempel sind hübsch, zierlich, manchmal in ihrer Art grandios, wahre Kabinettstücke asiatischer Kunst. Aber es ist keiner unter ihnen, zu dem man immer wieder und wieder gehen und zu dem man immer wieder mit neuem Staunen und neuer Ehrfurcht aufblicken könnte wie zu unseren großen christlichen Domen oder den mohammedanischen Moscheen.

Und doch – wenn man im Glanz der Abendröte hinabschaut auf die dunklen Hänge der Wälder, wenn die letzten Sonnenstrahlen durch die Kronen der verwitterten Zedern fallen, wenn im späten Abendlicht noch immer mehr Wallfahrer kommen und an der Klingel ziehen und ihre Gebete verrichten, und das alles so schnell und geschäftsmäßig, mit einem Gesicht, so unbeweglich wie das des Buddha, so schrickt man zurück vor festen Urteilen. Man ist eben in Japan, in Asien. Es ist eine Welt, die wir nicht verstehen . . .

Solche Wallfahrten bringen dem Japaner doppelten Gewinn, denn erstens verrichtet man eine fromme Pflicht, und zweitens hat man dort Gelegenheit, alte Bekanntschaften zu erneuern. Demgemäß gibt es auch kein Ende der Begrüßungen von guten Freunden und getreuen Nachbarn, und das allein ist ein Anblick, um dessentwillen sich solche Wallfahrt, auch für einen Ungläubigen lohnt. Die Japaner der gebildeten Stände sind sehr verbindliche Menschen, und wenn sie einmal angefangen haben, sich zu verbeugen, so hören sie so schnell nicht wieder auf. Halbe Stunden lang sagt man sich die erlesensten Liebenswürdigkeiten, die nach jedem Satz von einer tiefen gegenseitigen Verbeugung begleitet werden. Es ist eine Kunst, die sich nicht von einem Tag auf den anderen lernt: eine vollständige Rumpfbeuge bei durchgedrückten Knien, bis der Oberkörper in wagerechter Linie liegt. Bei Abfahrt der Züge kann man oft ganze Reihen von kimonobekleideten Damen sehen, die auf dem Bahnsteig wie Chrysanthemen blühen und beim ersten Pfiff der Lokomotive unisono in eine Rumpfbeuge fallen, an deren Vorschriftsmäßigkeit auch der strengste preußische Unteroffizier nichts auszusetzen hätte.

Doch da sind wir mit unseren Betrachtungen unversehns wieder bei den japanischen Eisenbahnen angelangt, und wenn man auf dieses Thema zu sprechen kommt, so kann man nicht umhin, immer wieder ein neues Loblied anzustimmen. Sie sind wirklich die besten, wirklich die billigsten, wirklich die pünktlichsten der Welt. Sie wären auch die reinlichsten und gepflegtesten, wenn sie nicht anzukämpfen hätten gegen eine Tücke des Objekts, und das sind die – nun ja, die etwas malerischen Manieren des reisenden Publikums. Wer hierzulande etwas abschütteln will von seinem Haushalt, der trägt es auf die Eisenbahn. Jeder hat irgend etwas unterm Arm, und jeder wirft es umgehend auf den Boden. Jeder vertilgt unglaubliche Mengen Reis und wirft alsdann die leeren oder halbvollen Schachteln, die als Behälter dienten, zu dem andern Abfall. Jeder riecht auch nach irgend etwas. In Japan kann man es den Menschen anriechen, zu welchem Stand sie gehören. Der Kuli riecht nach Reis, der Kaufmann nach gebratenen Fischen, der bessere Herr nach Knoblauch und sonstigen Speisen des Ostens. Dabei herrscht allenthalben eine tiefgewurzelte, geradezu pedantisch anmutende Angst vor der frischen Luft. Keine größere Sünde, kein schlimmeres Vergehen wider die guten Sitten als das Öffnen eines Fensters.

So muß man dulden und leiden und riechen, während draußen der Wald im Feuer des Abends steht und die Sonne langsam hinter den Hügeln des Landes der Aufgehenden Sonne verschwindet.

 


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