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Saloniki, Anfang November.
Auch in Monastir war es nicht anders wie an anderen Plätzen im Lande Mazedonien. Die Polizei konfiszierte den Paß, und es stand ganz im Belieben des betreffenden Paschas – bzw. Polizeikommissars –, wann man ihn mir wieder zustellen würde. So wanderte ich einige Tage ruhelos durch alle Gassen und über alle Hügel, »das Land der Griechen mit der Seele suchend«, ohne mir einen Vers machen zu können auf die selbst in diesem Lande ungewöhnlich lange Verzögerung in der Erledigung meiner Angelegenheit, bis mir ein landeskundiger Herr die genaueste Auskunft gab. »Der hiesige Polizeikommissar,« sagte er, »ist ein Anhänger der Paschitschpartei und wird abgebaut bis zum 1. Oktober, weil dann die neue Regierung ans Ruder kommt. Wer kann es ihm dann verdenken, wenn er es sich inzwischen leicht macht mit der Arbeit. Der neue Kommissar von der Davidovitschpartei tritt seinen Dienst erst zu Anfang des Monats an. Wer also soll inzwischen das Ding unterschreiben?«
Lange genug war ich inzwischen schon im Balkan gewesen, um solche Logik einleuchtend zu finden, und ich hatte mich schon auf einen recht ausgedehnten Aufenthalt gefaßt gemacht, als mir ganz unerwartet ein kleiner, zerlumpter Junge das Dokument eigenhändig im Gasthaus überreichte. Wieso er dazu gekommen, weiß ich nicht. Jedenfalls hatte ich hier Paß und griechisches Visum. Ich rannte förmlich nach dem Bahnhof, wo eben der einmal täglich verkehrende Zug nach Saloniki fällig war.
Er ist nicht eben ein Schnellzug, denn er braucht geschlagene zwölf Stunden für die kaum zweihundert Kilometer lange Strecke. Und er ist auch nicht das letzte Werk der Eleganz. Es sind ehemalige deutsche D-Zug-Wagen, die wir ihnen wohl liefern mußten auf Reparationskonto. Revolutionär und abenteuerlich sehen sie aus, wie man sie bei uns einmal gesehen hatte im Jahre des Heils 1919. Schmutzig und verwahrlost ist alles. Die Fenster sind zerbrochen, die Wände beschmiert, die Sitze herausgeschnitten.
Eine Weile verlief die Reise ganz leidlich, langsam keuchte der Zug durch das kahle Land, wo da und dort Ruinen standen und immer wieder Felder von weißen Kreuzen an die Ernte erinnerten, die noch vor kurzem der Tod hier gehalten hatte. Das grelle Sonnenlicht ermüdete das Auge, und da fast kein Mensch im Wagen war, legte ich mich längs auf die Bank und wäre beinahe eingeschlafen.
In Florina wurde es anders. Der Zug war noch nicht recht in den Bahnhof eingelaufen, als er nach allen Regeln der Kunst überfallen wurde von einer Horde Militär, griechischen Soldaten in englischen und amerikanischen Uniformen, andere in den landesüblichen kurzen Röckchen und den kühn geschwungenen, mit einer Quaste gekrönten Schnabelschuhen, die sich ausnehmen wie eine venezianische Gondel. Aber alle mehr oder minder verlottert und recht unmilitärisch. Desto schneidiger kamen die Offiziere daher in ihren französischen Uniformen. Parfümiert, manikürt und totschick, als ob sie eben erst aus Monsieur Poirets Werkstatt kämen, Reitpeitsche in der Hand, wie ihre Vorbilder im besetzten Gebiete. Immer mehr Soldaten kamen von draußen hereingedrängt, und bis die Paß- und Zollkontrolle fertig war und der Zug endlich weiterrollte zwischen den kahlen Bergen von Neugriechenland, war er nur noch ein einziger Klumpen von kümmerlicher Menschlichkeit. Sie drängten sich auf den Sitzen, sie lagen am Boden und in den Gepäcknetzen, sie standen wie die Mauern in den Gängen, ganz so, wie man es bei uns zeitweilig gewohnt war aus vergangenen Kriegs- und Revolutionsjahren. –
Ist es nun Krieg, Friede oder Revolution in diesem Lande? Wenn es Friede ist, so ist es jedenfalls eine recht seltene Abart dieses Begriffs. Die mazedonische Abart, die man schon auf serbischem Gebiete kennen lernte. Ein Blick in das weite Land zeigt einem Gräber und Ruinen, Feldlager und Wachposten. Um jedes Bahnwärterhaus ist ein Schützengraben hinter undurchdringlichem Drahtverhau. Beim Vorüberfahren des Zuges treten die Posten ins Gewehr und präsentieren. Bei jeder kleinen Brücke oder Überführung sind doppelte Gräben und doppelte Drahtverhaue. – Seltsamer mazedonischer Friede! Aber so ist es hier überall; der ganze Balkan ist stachelig mit Stacheldraht und mehr als je noch kochend und zischend von jahrhundertalten Blutrachen, von unterdrückten Freiheiten, von widerstreitenden Interessen, die ungeschickte Hände zusammengerührt haben in der Hexenküche von Versailles. –
Man sagt, daß die Griechen sehr sangesfreudige Menschen sind. Diese im Zug von Monastir nach Saloniki waren es jedenfalls im allerhöchsten Maße. So wie sie da saßen, standen und lagen, sangen sie alle, und da jeder etwas anderes sang, gab es eine schaurige Kakophonie, die einem geradeswegs auf die Nerven ging. Zumeist waren es Lieder ohne Worte, eine Art Tonleiter, die hinausgeschmettert wurde mit einer Stimmgewalt, die eines Caruso würdig gewesen wäre. Und da jeder sich auf einer andern Stufe der Tonleiter befand, kann man sich ungefähr einen Begriff machen von diesem Aufruhr der Töne. Zwischendurch gerieten sie miteinander in Streit, den sie ausfochten nach der Art ihrer homerischen Vorfahren, mit grausamen Flüchen und Verwünschungen, und kurzum: es war wie in einem Affenkäfig. An diese Reise von Monastir nach Saloniki werde ich immer denken, und wenn ich so alt werde wie Methusalem.
Es war schon dunkel geworden, als wir das Bergland hinter uns gelassen hatten und durch die flache Tiefebene, die in mancher Hinsicht an die römische Kampagna erinnert, dem als heller Lichtschein über dem Horizont auftauchenden Saloniki entgegeneilten. Es dürfte auf dieser Erde wenige Plätze geben, auf die sich in diesen Jahren so viele Flüche und Verwünschungen gehäuft haben, die so viele Tränen in aller Herren Länder verursacht hat, wie diese Ebene. Drei Jahre lang ist sie ein Moloch gewesen, ein Massengrab für die dort stehenden alliierten Armeen. Mehr als hunderttausend haben hier ihr Leben gelassen. Und wohl sieht sie dennoch aus im unsicheren Licht der hereinbrechenden Nacht. Das schwarze Schilf rauscht düster im Abendwind. Ein schwerer Modergeruch liegt in der Luft. Es riecht nach Fieber. Wie sicher muß der Tod gewesen sein für einen, der hier im dumpfen Schützengraben hauste! Es war wohl kein schlechter Gedanke der deutschen Heeresleitung, daß sie Halt auf den Hügeln machte und die Herren Alliierten und Assoziierten in dem moskitobrütenden Hexenkessel schmoren ließ.
Saloniki selbst war eine Enttäuschung. Saloniki! Der Name klingt nach Palästen und Moscheen, nach blauem Himmel und südlichen Winden, nach nickenden Palmen und orientalischem Plunder. Statt dessen – was sieht man? Einen Schutt- und Trümmerhaufen, der sich über die vom Meere aufsteigenden Hügel hinzieht, eine Wüste von Blech- und Bretterbuden zwischen Kehrichthaufen, auf denen die weggeworfenen Konservenbüchsen in der grellen Sonne blinken. Der Staub liegt dick in den Straßen. Ein scharfer Geruch von Kalk und Mörtel liegt in der Luft. Nur einmal in meinem Leben habe ich etwas Ähnliches gesehen, und das war in San Franzisko, kurz nach dem großen Feuer. Auch hier war ein großer Brand die Ursache des Übels. Über die Entstehung dieses Brandes ist man sich bis heute noch nicht im klaren. Tatsache ist, daß er in mehreren Stadtteilen zugleich aufflammte und daß die damals – 1920 – hier stehende französische Besatzungsarmee das Menschenmögliche tat, um eine systematische Bekämpfung des Feuers zu verhindern. Es gab und gibt eben zu viel Konstantinisten in Saloniki. Böse Zungen wollen wissen, daß das Feuer auf Befehl des Kommandanten angelegt worden wäre, um Entschädigungsforderungen für Requisiten und allerlei Unterschleife nach Abzug der Truppen für immer unmöglich zu machen.
Wie es auch immer kam, es hat gründliche Arbeit getan. Das alte Saloniki ist auf weite Strecken buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht. Man weiß heute noch nicht, ob zum Glück oder Unglück der Stadt. Der nimmermüde Unternehmungsgeist der Griechen läßt sich so schnell nicht unterkriegen. Überall herrscht eine ungeheure Bautätigkeit. Schnell wächst eine neue Stadt aus den Trümmern, die größer, stolzer, moderner, aber sicher nicht so bunt und vielgestaltig, so orientalisch farbenfreudig wie die alte sein wird. Wenn nicht alles trügt, so wird sie binnen kurzem das Erbe des alten Byzanz antreten. Mag man sich zum neugriechischen Volke stellen wie man will, niemand kann leugnen, daß dieses allein das belebende und unternehmende Element in allen orientalischen Städten, zumal auch in Anatolien und Konstantinopel gewesen ist. Von dort hat man es nun mit Sack und Pack hinausgeworfen.
Viele haben das Wetter kommen sehen und ihren großen Reichtum beizeiten aus Smyrna und Konstantinopel nach Saloniki gerettet. Und mit ihm das ganze Gewicht ihrer geschäftlichen Beziehungen und ihrer kaufmännischen Gerissenheit. Geht man zwischen den Blech- und Bretterbuden der staubigen Straßen, so sieht man, wie es hier trotz Tod und Verderben doch überall funkelt von Reichtum. Fast vor jedem Hause ist eine Wechselstube, und in jeder von diesen glitzert es von Gold und Silber. Wie sie es fertiggebracht haben, diese Schätze über alle Klippen der drakonischen Kriegsverordnungen hinüberzuretten, ist nicht recht verständlich. Aber da liegen sie nun verlockend vor unseren europäischen Augen, die an so etwas nicht mehr gewöhnt sind: große, runde Reichstaler neben uralten byzantinischen Goldmünzen, funkelnde Zwanzigdollarstücke, türkische Pfunde, Zwanzigmarkstücke, die sich zu Bergen bauen. An allen Ecken stehen diese fliegenden Miniaturbankiers und handeln mit Gold und Silber und fremden Banknoten, wie anderwärts mit Eiscrème und Limonade, mit billigen Kämmen und Taschenspiegeln. Es ist, als ob alles Metall der Erde untergetaucht wäre, um sich hier wieder ein Stelldichein zu geben.
Und woher sie es haben?
Woher? Kenne sich einer aus in der unergründlichen Verschlagenheit eines geldwechselnden Levantiners!