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XIV. Herrinnen und Sklavinnen

 

Eine höhere Kultur kann nur dort entstehn, wo es zwei unterschiedene Kasten der Gesellschaft gibt: die der Arbeitenden und die der Müßigen; oder mit stärkerem Ausdruck: die Kaste der Zwangsarbeit und die der Freiarbeit.

Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches.

 

Zwei Rassen in einem Volk

Legt man Eier, Larven, Puppen einer beliebigen Ameisenart auf das Nest einer andern Art, so werden sie sofort in das Nest getragen und verzehrt; höchstens eine so streng auf Pflanzenkost eingeschworene Ameise wie die Pilzzüchterin wird die Leckerbissen verschmähen. Nun leben, dank ihrem unermüdlichen Fleiße und der hochentwickelten Arbeitsteilung, die Ameisenvölker meist im Überfluß; sie haben mehr Nahrung, als sie verzehren können. Es kommt also vor, daß sie einen Teil solcher ihnen hingelegter Brut mit dem besten Willen nicht mehr, aufessen können; diese stirbt mangels Pflege und wird auf den Abfallhaufen geworfen. Doch werden bisweilen Larven verwandter Arten auch gefüttert und großgezogen – wir finden fremde Individuen im Staate, die als ziemlich gleichberechtigte Bürgerinnen betrachtet werden und sich auch selbst so betrachten. Eine amerikanische Forscherin hat manche Erfolge auf diesem Gebiete erzielt. Von dem alten Gedanken ausgehend, daß, was immer man von frühester Jugend an zusammen aufzieht, sich als Bruder und Schwester betrachtet, hat sie eben aus der Puppe geschlüpfte Emslein verschiedener Arten, die sonst einander todfeind sind, im künstlichen Neste zusammengesetzt und friedlich lebende Gemeinschaften aus ihnen zusammengemischt – freilich nur von Arbeiterinnen. Erstaunlich ist das weiter nicht – Hagenbeck hat auf dieselbe Weise in seinem Tierpark Freundschaften unter Tieren aller Art erzielt, die noch viel weniger Verwandtschaft miteinander hatten.

Als Völker freilich kann man solche künstlichen Gemeinschaften nicht ansprechen. Ein soziales Empfinden mögen die einzelnen Tiere zu einander haben, ein Nationalbewußtsein haben sie gewiß nicht.

So haben auch in der Natur die gemischten Ameisengemeinschaften irgend einen Mangel, der die Entstehung eines wirklichen Mischvolkes unter Gleichberechtigung beider Teile verhindert. Entweder haben die beiden Arten getrennte, wenn auch noch so benachbarte Behausung und Brutpflege, oder aber sie sind nur für eine kurze Zeit verbunden oder endlich sie zeigen nur die eine Art in allen drei Formen, während bei der zweiten Art die eine oder andere Form fehlt.

Sklaverei bei Menschen und Ameisen

Der Überfall eines Ameisenstammes auf ein fremdes Nest zum Zwecke des Brutraubes ist eine gewöhnliche Sache. Die Wanderameisen beispielsweise gehn an keinem Nest vorbei, ohne es gründlich auszuplündern. Was sie rauben, hat aber für sie nur den Wert der Nahrung. Diese Räuberheere sind nicht die einzigen, die jede gute Gelegenheit, fremde Brut zu rauben, benutzen: in allen Fällen aber handelt es sich nur um Erbeutung von Lebensmitteln.

Die sklavenhaltenden Ameisen jedoch suchen – neben der Nahrung – in den fremden Puppen noch etwas anders: künftige Hilfskräfte, um ihren Staat mächtiger zu machen.

Die Menschheit kennt die Sklaverei in mancher Weise. Es gab fast bei allen Menschenvölkern eine Zeit, in der es gang und gäbe war, daß jeder Kriegsgefangene sofort zum Sklaven gemacht wurde. Wir haben Völker gehabt, die nur zeitweise Sklaven hielten, und andere, bei denen die Sklaverei als eine dauernde Einrichtung galt. Bei einigen gab es nur Staatssklaven, bei andern nur Sklaven, die den einzelnen Bürgern gehörten. Im Rußland des großen Peter war jeder einzelne Russe der Sklave des weißen Zaren, der nach Laune über sein Leben verfügen konnte – im alten Rom galt der Sklave als außerhalb der menschlichen Gemeinschaft stehend. »Alberner! Also der Sklav' ist Mensch?« ruft Juvenal aus. Gelegentlich wurden die Sklaven aufs grausamste behandelt; zu andern Zeiten und bei andern Völkern führten sie ein recht behagliches Leben, galten mehr oder weniger als Familienmitglieder, wie die türkischen Sklaven, die oft die Töchter des Hauses heirateten. Ein wirres Durcheinander, wie man sieht!

Bei den Ameisen jedoch hat sich im Laufe der Jahrhunderttausende die Einrichtung der Sklaverei nach einer bestimmten Richtung entwickelt, bei der ziemlich feste Grundsätze gelten.

Die Sklaverei erstreckt sich nur auf die Form der Arbeiterinnen; die einzelnen Sklavinnen also sterben, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Neue Sklavinnen werden stets aus frischgeraubten Puppen einer fremden Brut großgezogen, werden also: in die Sklaverei geboren. Nur Königinnen machen zuweilen auch erwachsene Emsen zu Sklavinnen.

Die Behandlung der Sklavinnen ist eine gute; sie werden nicht als minderwertige Geschöpfe, sondern stets als Ameisen behandelt – mehr noch, sie werden im großen ganzen als ziemlich gleichberechtigte Mitglieder der großen Volksfamilie angesehen.

Einige sklavenhaltende Ameisenarten sind durchaus auf Sklavinnen angewiesen, haben also die Sklaverei zur dauernden Einrichtung gemacht. Andere wieder halten nur zeitweise Sklavinnen und können auch ohne diese auskommen. Zu diesen zählt eine in Mitteleuropa heimische Ameise, die ›Blutrote‹, die auch in Amerika nahe Verwandte hat.

Nun kommt eine wunderschöne Überschrift:

»Der Blutroten Königin Glück und Ende«

Es ist schon recht anerkennenswert, wenn Tante Wissenschaft einem Insekt einen Namen gibt, der wenigstens halb paßt – und das tut er in diesem Fall. Allerdings ist der Hinterleib der Ameise schwarz, aber die Farbe des vorderen Teiles kann man mit einigem guten Willen als blutrot bezeichnen. Ich möchte sie freilich lieber die Montecarlerin nennen oder die Rouletteameise, weil man diese Worte nun einmal mit ›Rouge et noir‹ verbindet – doch bin ich leider nur ein armseliger Laie und gelte nichts in der Gelehrtenrepublik. Es ist leicht genug, aus einer Kaiser-Wilhelmstraße und Ludendorffgasse einen Liebknechtring und einen Bebelwall, aus Christiania Oslo, aus Preßburg Poszony und aus Poszony Bratislava zu machen. Oder auch Großwardein, Hermannstadt, Karlsburg, Klausenburg in Nagyvarad, Nagyszeben, Gyulafehervar, Kolosvar zu verwandeln und daraus Oradea Marc, Sibiu, Alba Julia, Cluj entstehn zu lassen. St. Petersburg hieß es vorgestern, Petrograd gestern, Leningrad heute – wer weiß, wie's morgen heißt! Kleinigkeit sowas – und dabei ist doch der eine Name genau so gut wie der andere. Aber man versuche nur einmal den blödsinnigsten Namen der armseligsten Laus zu ändern und dafür dem Tierchen einen Namen zu geben, bei dem sich die Menschen etwas denken können – das wäre ein freches Eingreifen in die geheiligten Rechte aller Wissenschaft!

Also ich füge mich: von mir aus mag die Rotschwarze in alle Ewigkeit und in allen Sprachen der Welt die Blutrote genannt werden.

Sie also, die Blutrote weiblichen Geschlechts, fliegt hinaus aus der Stadt zur Hochzeitsfahrt. Sie findet ein Männchen, blutrot wie sie selbst, und vermählt sich mit ihm. Sie nimmt zärtlich Abschied von dem Geliebten – und vermählt sich gleich darauf noch ein zweites, drittes und viertes Mal. Die Blutroten Damen halten's dabei mit Mephisto. Der sagte: »Frauen – denn ein für allemal denk ich die Fraun nur im Plural.« Die Blutroten Bräute ihrerseits denken die Männer – nur im Plural.

Übrigens – man soll sie nicht tadeln, die nicht allzu Getreuen! Es ist ja richtig, daß Menschenbräute im allgemeinen etwas länger befristete Treue halten, aber sie brauchen sich auch nicht, nach einem kurzen Liebesstündchen, dann drei Lustren lang als vierfache Witwen nur mit Eierlegen zu beschäftigen.

Der Liebestraum ist aus – aus dem leichtfertigen Flatterbräutchen ist im Augenblick eine ernste Frau geworden, die mit der Vergangenheit gründlich bricht und nur noch für die Zukunft lebt. Die Flügel – die sind das Zeichen der Braut, die Zeichen der fliegenden Lust, der im blauen Äther alles vergessenden Liebe. Das ist nun vorbei – darum weg damit: zum Kampf ums Leben sind sie überflüssig. Sie fühlt die Aufgabe, die ihrer harrt, die Mutterkönigin eines großen Volkes zu werden, und sie zögert nicht, sich diesem großen Gedanken mit allen Kräften zu weihen. Voll von Lebenskraft geht sie auf ihr Ziel los.

Sie weiß, daheim, in der großen Stadt, aus der sie kam, waren neben ihrer Mutter, der Königin, neben ihren geflügelten Brüdern und den geflügelten und ungeflügelten Schwestern, noch eine Reihe von anderen Ungeflügelten, dunkler und kleiner als diese. Liebe Geschöpfe, fleißig, arbeitsam, stets bereit zu helfen, wo es nottat, wohlgelitten von allen. Dennoch – da war ein Unterschied. Wenn ihre blutroten Schwestern zum Raube auszogen, zogen diese Schwarzgrauen nicht mit, blieben zu Hause, pflegten, fütterten die junge Brut. Nicht, als ob einzelne Schwestern das nicht auch taten – die Blutroten gehn gewiß keiner Arbeit aus dem Wege. Aber die Grauschwarzen waren besonders tüchtige Kindermädchen, auch zu bauen verstanden sie meisterhaft.

Wenn man solche Hilfe da hätte – ja da könnte man leicht eine Stadt gründen und seine Brut aufziehen!

Die Schwarzgrauen haben überall im Wald ihre Städte – wie wäre es, wenn man eine davon aufsuchte? Die junge Königin macht sich auf den Weg.

Bald hat sie, unter Moos versteckt, eine solche Stadt erreicht. Sie sieht die Burg, aber über sie hin ein starkes Gewimmel. Sie bleibt stehn, unentschlossen – wie mag man sie dort aufnehmen? Da kommen ein paar Grauschwarze vorbei, augenscheinlich Bürgerinnen der volkreichen Stadt. Ein gewohnter Anblick – sie schauen genau so aus, wie ihre Freundinnen daheim. Sie geht ihnen entgegen.

Aber diese Schwarzgrauen tun gar nicht freundlich; nein, ihre Haltung ist eine ausgesprochen feindselige. Sie fürchtet sie nicht – sie ist vom Herrinnengeschlecht. Mit denen da würde sie schon fertig werden. Aber die unendlich vielen dort unten in der riesigen Stadt?

Die Grauröcke laufen fort, der Stadt zu. Und die junge Königin wendet sich, zieht auf anderm Wege durch den Wald. Vielleicht mag sie eine Stadt finden, die nicht so ungeheuer bevölkert ist.

Weiter wandert sie, und manche Gedanken kommen ihr beim Wandern. Sie erinnert sich der Geschichten, die ihre Schwestern, die Emsen, ihr erzählten und die alle von ihrer Mutter stammten, der alten Königin. Einiges davon hatte diese selbst erlebt, anderes wieder als Kind von ihrer königlichen Mutter erzählen hören. Und die hatte es wieder von ihrer Mutter – ah, es gibt eine uralte Überlieferung bei den stolzen Völkern der Blutroten.

Es war einmal eine junge Königin, hieß es in solchen Geschichten, die zog hinaus, ein Volk zu gründen. Sie kam zu einer großen Stadt der Graugerockten – und sie wurde, ob sie noch so sehr sich wehrte, in Stücke gerissen. Eine andere sah es, zog weiter und fand eine kleine Stadt; da wohnte ein schwaches, verwaistes Volk der Schwarzgrauen, das keine Königin mehr hatte. Das nahm die junge Königin auf und zog ihre Brut groß. Man soll kleine Völker aufsuchen, wenn man selbst ein Volk gründen will.

So lehrt die alte Überlieferung der Blutroten. Ein Geschlecht erzählt es dem andern – alle wissen's.

Dichterische Übertreibungen! Anthropomorpher Unsinn! Nie hat je eine Ameisenmutter ihren Töchtern Geschichten erzählt! Nur den Instinkt zum Handeln hat sie ihnen vererbt!

Meinetwegen – aber dann ist es noch viel verwunderlicher, meine Herren Weisen! Das Geschichtenerzählen kann ich sehr gut begreifen – die Vererbung von Instinkten aber, die so verzwickte Handlungen auslösen, kann ich mir ebensowenig vorstellen, wie ihr das könnt. Dabei ist's im Grund ganz dasselbe: ererbte Weisheit, die wir beide uns nicht erklären können. So gebe ich ein einfaches Bild, ein Gleichnis, das den Vorgang wenigstens anschaulich machen kann – ihr aber nur ein inhaltsleeres Wort, eine hohlschellende Phrase!

Die junge Königin wandert durch den unendlichen Wald und denkt verträumt an die alten Geschichten. Sie geht vorbei an den großen Städten der Schwarzgrauen; müde wird sie, wie der Abend fällt.

Da sieht sie plötzlich, dicht vor sich, eine kleine Stadt; wenige Emsen kommen heim vom verspäteten Ausflug. Langsam folgt der letzten die junge Königin, langsam zieht sie ein durch das weit offene Tor.

Aber nur einen Augenblick ist sie allein – gleich kommt eine Schar der Grauschwarzen auf sie zu. Wieder versucht es die junge Königin mit aller Freundlichkeit, die ihr zu Gebote steht, will die fremden Emsen als Freundinnen begrüßen, sie betrillern, sie im Kusse füttern aus ihrem vollgefüllten Kropfe. Aber keiner kann sie nahe kommen, alle ziehen sich mißtrauisch zurück. Sie geht weiter hinein in die fremde Stadt – da stürzt eine der Emsen auf sie zu, faßt sie am Bein. Und eine zweite folgt der ersten, will ihre Fühler greifen. Die Blutrote merkt: das bedeutet Kampf, Kampf auf Leben und Tod. Sie besinnt sich nicht lange; sie öffnet die starken Kiefer, greift zu, hebt den Hinterleib, spritzt einen Schauer von Ameisensäure über die Feindinnen.

Kurz ist der Kampf; tot liegen die Angreiferinnen am Boden. Ihre Schwestern, erschreckt und zu feige, ihnen zu helfen, entfliehen. Langsam zieht die junge Königin ihnen nach. Stark wächst ihr Selbstbewußtsein – wenn nicht alle Grauröcke auf einmal kommen, so hat sie nichts zu fürchten in dieser Stadt.

Durch Kammern und Gänge – ein wenig anders als daheim, aber sie findet sich schon durch. Noch einmal wird sie angegriffen – aber auch diese Angreiferin büßt ihre Tollkühnheit mit dem Leben. Und die Königin, weitereilend, kommt in die Kinderstube.

Ein merkwürdiges Empfinden erfaßt sie, ein seltsam gemischtes. Junge Brut – die zieht man groß; es ist eine Lust zu sehen, wie die Kleinen wachsen, bis man sie herausholt aus ihren Puppenwiegen. Junge Brut der Dunkelgrauen dazu – die kann man auch essen, wenn man Hunger hat, das ist eine uralte Regel bei allen blutroten Völkern. Dann aber, stärker noch als diese Empfindungen, ein ander Gefühl: wenn sie diese Brut aufzieht, so hat sie Hilfskräfte, soviel sie nur braucht. Hat graugerockte Dienerinnen, die ihr Freundinnen sind; braucht nicht die andern, die jetzt da sind und die alle sie hassen.

Ihr Entschluß ist gefaßt: diese Brut will sie haben. Wieder stellen sich ein paar Emsen ihr entgegen. Sie wissen, was die Blutrote will – denn auch bei den Grauschwarzen gibt es eine Überlieferung. Die lehrt: hüte dich vor den Blutroten! Grausame Räuberinnen sind sie, die die Brut rauben. Wieder kommt es zum Kampfe; drei Feindinnen tötet sie, die andern entfliehen. Nun ist sie Herrin in der Kinderkammer: sogleich wird aus der stolzen Kämpferin eine sorgsame Amme. Sie leckt die Kleinen und pflegt sie –

Müde wird sie– so lang war dieser Tag. Hinaus flog sie in die Luft – wie lange ist das schon her! Ja gewiß, Flügel hatte sie –

Und der weite endlose Weg durch den Wald. Und die Kämpfe hier in der fremden Stadt. Sehr müde ist sie.

Ein Geräusch hört sie, wendet sich. Sieh doch, grauschwarze Emsen, die die Brut wegtragen, unter ihren Augen! Im Nu ist sie zwischen ihnen, in kürzester Frist wälzen sich drei, vier in Zuckungen. Aber die andern haben derweil von den Larven und Puppen manche weggetragen. Haben sie gestohlen – denn als ihr ausschließliches Eigentum betrachtet sie schon die junge Königin.

Sie beschließt wach zu bleiben. Setzt sich über die Brut, paßt wohl auf, wendet sich nach allen Seiten.

Völlig erschöpft schläft sie dennoch am Ende ein.

Nicht sehr lange freilich – aber sie fühlt sich erfrischt nach dem Schlafe. Sie besinnt sich – wie, wenn die Dunkelfarbenen sie angegriffen hätten? Ein Dutzend und mehr – während sie schlief?! Welches Glück nur, daß die so feige sind. Immerhin – sie haben die Zeit gut benutzt. Sie blickt um sich: über die Hälfte der Brut hat man ihr fortgetragen.

Da erhebt sich die junge Königin. Auf und ab stolziert sie in dem alten Königinschritt der Blutroten, tänzelnd ein Bein vor das andere setzend, wie ein edles Pferd Araberblutes, das spanischen Schritt geht. Auf und nieder tänzelt sie, ihre Gedanken wohl wägend. Und sie beschließt: nichtsnutzige, feige Diebinnen sind diese Grauröcke, sie stehlen einem die Brut! Man muß sie töten – eine um die andere – alle! Alle muß man töten. Dann erst kann man in Ruhe leben in dieser Stadt.

Sogleich macht sie sich auf den Weg. Wo sie eine der Dunkelfarbenen sieht, faßt sie sie; ihre Kampfeslust und Blutgier scheint sich zu steigern mit jedem neuen Morde. Ein wilder Schrecken ist in die Bürgerinnen gefahren, kaum mehr wagt es eine, sich auch nur zu wehren. Wo aber die Königin Larven findet und Puppen – da ergreift sie diese, bringt sie hinab in ihre Kinderkammer.

Durch Tage geht dieser Kampf. Sie ist nur eine und der Grauschwarzen sind viele. Wenn sie auch jetzt zu entmutigt zum Kampfe sind – die Liebe zu ihrer Brut haben sie doch nicht verloren: immer wieder stehlen sie hinter dem Rücken der Blutroten Königin.

Einmal, auf ihrem Mordgang durch die Stadt, kommt die junge Königin an eine Kammer, die sie bisher nicht gefunden hatte. Ein paar Emsen werfen sich ihr entgegen, wieder kommt es zum Kampfe – mit gleichem Ausgange. Sie dringt in die Kammer – da ruht, umgeben von ihren Emsen, die alte Königin des schwarzgrauen Volkes.

Und noch einmal, ein letztes Mal entspinnt sich ein Kampf. Es ist, als ob die Gegenwart ihrer Mutter ihnen Mut verleihe, ein halbes Dutzend stürzt verzweifelten Mutes auf die Eindringende. Diese fühlt, daß sie siegen muß oder untergehn; sie weicht nicht einen Schritt zurück, nimmt den Kampf auf mit sechsen zugleich.

Und sie bleibt Siegerin. Die andern fliehen; sie jagt hinter ihnen her –

Still wird es allmählich in der kleinen Stadt. Immer noch eine und immer noch eine der Schwarzgrauen findet die junge Königin – jede einzelne tötet sie. Wenn sie Hunger hat, ergreift sie eine der Larven und sättigt sich, dazwischen pflegt sie, reinigt und füttert die andern. Doch schenkt sie ihre besondere Aufmerksamkeit den Puppen – sie weiß, daß aus ihnen bald die Dienerinnen auskriechen werden, die ihr helfen sollen. Die Jungen können nicht allein aus dem festen Gespinst heraus – da hilft sie, hält es fest, beißt ein Loch hinein, daß die Kleine ausschlüpfen kann. Eins kriecht aus und wieder eins, bald ist ein Dutzend da – und dieses Dutzend hilft bei der Pflege der Brut. Immer mehr Larven verpuppen sich, immer mehr Emsen kriechen aus den Puppen – bald ist ein Volk von ein paar hundert jungen Grauröcken um sie und alle betrachten sie und nur sie allein als ihre Mutter und Königin.

Nun ist ihr Werk getan. Nun mag sie der Ruhe pflegen, mag sich putzen und füttern lassen und derweil Eier, unendlich viele Eier legen. Alle andere Arbeit aber ihrem dienenden Volke überlassen.

Irgendwo liegt im Königssaale einsam und verlassen, ungepflegt und hungernd die alte Königin. Die junge Königin, die Blutrote, die nach Herrenrecht ihre Stadt eroberte, bekümmert sich nicht um sie. Wichtigere Dinge hat sie zu tun. Eier legen muß sie, muß ein Volk gründen, ein großes, mächtiges Volk der Blutroten.

Aber die Töchter der alten Königin finden diese. Kein Funken von Liebe lebt für sie in ihren Herzen; all ihr Gefühl – Anhänglichkeit mit Angst gemischt, wer weiß es? – gehört der Thronräuberin, ihr, die ihnen aus dem engen Gefängnis der Puppenwiege hinaushalf in die Welt: sie allein gilt ihnen als Herrin und Mutter. Die Alte aber gehört nicht ins Nest, denken sie: sie schaffen sie hinaus – tot oder lebendig.

Aus den Eiern der jungen Königin werden Larven, Puppen aus den Larven, junge Emsen kriechen aus den Puppen. Ausgezeichnete Ammen sind die Grauschwarzen, trefflich gedeiht die junge Brut. Wochen vergehn und viele Monate – immer zahlreicher wird das Volk der Blutröten. Eine aber um die andere der fleißigen Schwarzgrauen stirbt dahin: so kommt der Tag, an dem die Königin nur über ihr eigen Volk herrscht.

 

Da ist ein Weg, wie das befruchtete Weibchen der Blutroten sein Volk zu gründen vermag. Manch anderes ist möglich – je nach den Umständen. Es ist denkbar, daß sie von blutroten Arbeiterinnen aufgenommen wird, oder daß sie ein königinloses Volk der Grauschwarzen findet und friedlich als Königin begrüßt wird. Es ist denkbar, daß sie in eine sehr bevölkerte Stadt eindringt, der Übermacht unterliegt und getötet wird. Oder sie mag zu einem jungen, kleinen Volke kommen und nach anfänglichen Kämpfen eine Anzahl der Grauröcke für sich gewinnen. Dann mag der andere Teil mit der alten Königin und einem Teile der Brut aus dem Neste fliehen. Sie mag auch alle Emsen so für sich einnehmen, daß diese, völlig verblendet, die eigene Mutter töten oder vertreiben. Sie mag in unersättlicher Kampfgier selbst zur Mörderin der alten Königin werden oder auch diese mit einem Teile ihres Gefolges aus dem Neste heraustreiben. Sie mag endlich nach dem Hochzeitsflug eine schwarzgraue Königin treffen, sich ihr anschließen und von ihr sich ihre erste Brut mit großziehen lassen – dann wird, sowie die ersten blutroten Emsen erwachsen sind, von diesen die schwarzgraue Königin vertrieben oder ermordet.

All das – und vielleicht manch anderes noch – ist möglich, mehr noch, es ist sehr wahrscheinlich, daß jeder einzelne Fall sich ereignet. Überhaupt ist es falsch, anzunehmen, daß sich das Leben der Ameisen – oder das aller andern Geschöpfe – genau so maschinenmäßig abspielt, wie es in naturwissenschaftlichen Büchern dargestellt wird. Hier liegt der große Vorzug jeder anthropomorphen Auffassung, hier der blendende Reiz Peter Hubers, der vor einhundertundzwanzig Jahren schrieb, Fabres und Brehms gegenüber allen exakten Gelehrten. Zugegeben, daß dabei einiges Schiefe und Mißverstandene herauskommt, manches, das nur halb stimmt; zugegeben, daß gar etwas Falsches, ja Unsinniges erzählt wird. Nur: das ist bei den ›Exakten‹ genau so der Fall. Man vergleiche nur die ersten Auflagen der anerkanntesten heute lebenden Ameisenforscher mit den zweiten, etwa zwanzig Jahre später erschienenen. Man wird finden, daß überall geändert und verbessert werden mußte, ja, daß ganze Kapitel ins gerade Gegenteil verkehrt wurden. Die Wissenschaft will buchstäblich genommen werden – für den vermeintlichen Gewinn der reinen Wahrheit schluckt dann der Leser willig alles Trockene und Langweilige. Die anthropomorphe Einstellung dagegen verzichtet zugunsten einer fesselnden Schilderung auf das allzu Exakte, wenn sie gewiß auch bestrebt ist, den ›letzten‹ erkannten Wahrheiten Rechnung zu tragen. Aber: sie ist sich wohl bewußt, daß die sogenannte wissenschaftliche Wahrheit in vielen kleinen Einzelheiten nur ein sehr kurzes Leben hat und nach wenigen Jahren durch neue Forschungen überholt wird. Die Folge ist, daß die von der Gelehrtenwelt so verachteten anthropomorphisch geschriebenen Werke sehr viel mehr Wahrheit und solche von sehr viel längerer Lebensfähigkeit haben, als die exakt wissenschaftlichen. Die Natur läßt sich eben nirgends in eine Zwangsjacke einspannen, je freier wir an sie herangehn, je mehr Möglichkeiten wir offen lassen – um so eher kommen wir ihrem innersten Wesen nahe.

In ihrer Königinkammer, umgeben von ihren Töchtern, die sie füttern und pflegen, ruht die Königin der Blutroten. All die grauschwarzen Emsen sind gestorben; nur ihr eigen Volk haust in der Stadt, zahlreicher, mächtiger mit jedem Tage. Ringsherum ist die Stadt gewachsen, rings hinaus streifen ihre Kinder. Nicht nur Arbeiterinnen nimmt man nun aus den Puppenwiegen; auch geflügelte, Männchen und Weibchen, bestimmt, zur Gründung neuer Völker zu dienen. Sie wachsen heran; bald naht der warme Julitag, an dem alle ausfliegen, hinaus in die Luft zum Hochzeitsfest.

Allein ist die Königin mit ihren Emsen. Leerer geworden ist es im Nest. Auch die Vorräte sind erschöpft; sehr viel haben die Geflügelten gefuttert, um mit voller Kraft in die Welt zu ziehen.

Jägerinnen sind die Blutroten. Auf ihren Jagdzügen haben einzelne Arbeiterinnen eine fremde Stadt entdeckt, bringen die Kunde davon heim. Denn die jungen Emsen wissen – Überlieferung von der Mutter her – was man holen kann aus den Städten im Walde: waren nicht die Ammen, die sie einst großzogen auch Grauröcke?

Und man beschließt, die fremde Stadt zu erobern und auszuplündern.

 

Ich las manche Berichte über die Kriegführung der Blutroten, wenn sie zum Raubkriege ausziehen. Alle diese Darstellungen zeigen Abweichungen – und dennoch ist jede einzelne wahrheitsgetreu. Selbst beobachtete ich, in Europa wie in Amerika, eine Reihe solcher Kriegszüge – und jeder einzelne war verschieden von dem andern. Nur das allgemeine Verfahren ist das gleiche, in Einzelheiten richten sich die Blutroten nach den Bedürfnissen, die der Augenblick erfordert.

Manchmal marschieren sie in einer geschlossenen Phalanx von einigen Metern breit, manchmal in einzelnen getrennten Heerhaufen. Meist ziehen sie morgens aus dem Tore ihrer Stadt, um zu Nachmittag wieder zurück zu sein, manchmal bleiben sie auch über Nacht fort. Bald kommt es zu heißen, sehr blutigen Kämpfen, bald wieder gelingt es ihnen durch ihren plötzlichen Angriff, einen besonders feigen Feind so in Schrecken zu jagen, daß dieser Hals über Kopf flieht, sodaß nicht nur die Blutroten keine Verluste erleiden, sondern nicht einmal eine einzige der Angegriffenen zu töten brauchen. Eines ist immer gleich: in schnurgerader Linie ziehen die Blutroten von ihrer Stadt gegen die Fremden.

Die Blutroten haben keine Offiziere, die vor der Front oder neben dem Zuge hermarschieren. Dennoch müssen sie besondere Leiterinnen haben, es wäre sonst undenkbar, daß die ganze Menge ohne jemals rechts oder links abzuweichen, vielleicht hundert Meter weit trotz fortwährender Hindernisse des Geländes geradeaus marschiert. Dazu kommt, daß die Spitze stets wechselt, man gewinnt den Eindruck, als ob einzelne Führerinnen – vermutlich die, welche die zu erstürmende Stadt ausgekundschaftet haben – immer wieder durch den ganzen Zug eilten, bald vorne den Weg wiesen, bald hinten zur Eile anspornten. Wenn sie in einzelnen Haufen marschieren, scheint es, als ob die Führerinnen eine Schar Emsen nach der andern überredeten, an dem Feldzuge teilzunehmen. Die, die sich zuerst entschlossen haben, laufen los; nach einer Weile folgt ihnen ein anderer Trupp, dem wieder in kurzen Fristen manche noch folgen. Vor dem fremden Neste angekommen, nehmen sie rings herum Aufstellung, greifen nicht an, sondern warten einstweilen ruhig ab, was die Gegnerinnen tun mögen. Fühlen sie sich nicht stark genug, so werden eilende Boten zurückgeschickt, um Verstärkungen heranzuholen.

Mittlerweile haben die Grauschwarzen den Feind bemerkt; selbst ein starkes Volk, beschließen sie, nicht zu fliehen, sondern Widerstand zu leisten. In hellen Scharen kommen sie heraus, nehmen dichtgedrängte Schlachtordnung. Immer noch halten sich die Blutroten zurück; kleine Scharmützel entspinnen sich, stets begonnen von den aufgeregten Schwarzgrauen. Inzwischen bringt ein Teil die junge Brut heraus, um für den Fall, daß die Schlacht verloren gehn sollte, durchzubrechen und zu retten, was zu retten ist; bei diesem Teile halten sich auch die jungen Flügeltiere. Der Kampf entwickelt sich, die Grauschwarzen, in starker Überzahl, machen den Blutroten genug zu schaffen. Da entsteht eine Verwirrung; geführt von einigen Weibchen, versucht ein starker Trupp der Grauröcke, jede beladen mit einer Larve oder Puppe, durch die feindlichen Reihen sich durchzuschlagen. Diesen Augenblick benutzen die Blutroten, wenden sogleich alle Aufmerksamkeit auf diese Seite. Die Grauschwarzen, die Kindlein im Arm, versuchen, sich auf Grashalme hinauf zu retten. Von allen Seiten greifen nun die Blutroten an – während die Schwarzgrauen Chamade blasen. Aus den Kiefern wird ihnen die junge Brut gerissen; jede Blutrote, die Beute gemacht hat, eilt sofort stolz damit nach Hause – übrigens geschieht es auch, daß eine der andern ihre Beute abnimmt. Nur auf die Brut kommt es ihnen an; sie kämpfen nur, töten nur, wenn eine Grauschwarze sie angreift, oder ihre Puppe nicht gutwillig abgeben will. In Scharen dringen die Blutroten in die Stadt hinein, untersuchen sie nach allen Richtungen, holen heraus, was nur zu holen ist an junger Brut. Manche schleppen, recht unfreiwillig freilich, noch was anderes heim. Da hängt der einen am Fühler ein grauschwarzer Kopf, der anderen eine halbe Grauschwarze am Vorderbein. Festgebissen haben sich die Feindinnen; auch im Tode halten sie noch fest. – Jeder Herr Myrmekologe hat eine hübsche Ameisensammlung; in allen sieht man stets blutrote Kriegerinnen, an denen zwei, drei, ja vier halbe Feinde hängen.

Heim geht's, schwer beladen mit lebender Beute. Mögen die Grauschwarzen sich wieder sammeln, möge ihre Königin recht viele Eier legen, mögen sie bald noch viel mehr Larven und Puppen haben als sie heute haben! Die Blutroten wünschen ihnen von Herzen alles Wohlergehn; je eher bei den Grauröcken wieder ›geordnete Zustände‹ herrschen, um so schneller kann man ihnen wieder einen Besuch abstatten und neue Beute holen.

Ist's anders bei den Völkern der Menschen? Höchstens wird da noch verlangt, daß das traurig-graue Volk der Besiegten dem blutroten Siegervolk seine sauer erworbenen Schätze auch noch – und immer wieder – selbst ins Haus trägt!

 

Neue Kinderstuben in der Stadt der Blutroten werden gefüllt mit den geraubten Larven und Puppen. Aber diese Kammern sind nun nicht nur Kinderstuben – sie sind Vorratskammern zu gleicher Zeit. Denn die Blutroten tun sich gütlich an der fremden Brut, speisen nach Herzenslust. Freilich, ein Teil der Brut, und besonders die Puppen, die bald vor dem Ausschlüpfen sind, werden beiseite geschafft. Man pflegt sie, hilft ihnen aus dem Gespinst, freut sich, wenn eine Schar grauschwarzer Emslein herauskriecht: Sklavinnen, die sehr erwünschte und sehr brauchbare Dienste leisten können.

In ihrer Kammer liegt die Königin, legt Eier, legt Eier. Sie weiß schon, daß sie bald einige grauschwarze Dienerinnen haben wird, hat sie doch reichlich und gut von deren Schwestern gegessen. Und sie erwartet das Heranwachsen der Grauröckchen mit Sehnsucht – erinnert sie sich doch aus früherer Jugendzeit und aus ihrer ersten Königinzeit, daß sie von diesen stets besondere Leckerbissen erhielt. Wenn man immer so herumliegt und Eier legen muß, dann freut man sich auf ein wenig Abwechslung im Speisezettel.

Die grauschwarzen Sklavinnen nämlich, die verstehn sich auf das Viehzüchten. Sie ziehen hinaus aus der Stadt, melken die lieben Blattläuse und kehren heim mit vollgefülltem Kropfe. Ihr aber, der Königin, bringen die Milchmägde stets das allerbeste: köstliches Manna, Honigtau!

Nicht als ob sie nun ihr ganzes Leben in derselben Kammer beschließen müßte, nicht als ob sie nie wieder die weite Welt und den gewaltigen Wald und den Himmel darüber und die Sonne zu sehen bekäme. Das würde ihr wenig gefallen – sie ist eine echt Blutrote und die Blutroten sind unruhigen Geistes und verlangen Abwechslung im Leben. Stolz sind sie dazu, vornehme Geschöpfe, die wissen, was sie sich schuldig sind.

Für den Sommer eine Stadt – eine andere für den Winter! Nicht genug damit: wenn ihnen der Platz, wo sie gerade hausen, nicht gefällt, ziehen sie um, bauen an anderm Platze eine neue Stadt. Alle Emsen legen Hand an, schnell geht die Arbeit weiter. Aber gut ist es doch, daß man geschickte Sklavinnen hat, denn die suchen ihresgleichen als Erdarbeiterinnen. Manchmal spart man sich auch den Neubau, bezieht kurzerhand eine eroberte Stadt, trägt Brut und Vorräte und alle Sklavinnen hinüber.

Da zieht denn die Königin mit um, ein paarmal in jedem Jahr: da wo sie ist, da ist die Heimat.

 

Sehr unabhängig sind die Völker der Blutroten. Hat auch jede ihrer Königinnen mit Hilfe fremder Sklavinnen, die sie selbst großzog, ihren eigenen Staat gegründet, so ist dennoch dieser Staat keineswegs auf die Einrichtung der Sklaverei angewiesen – manche Staaten haben zeitweise keine Sklavinnen, andere überhaupt niemals. Viele Völker haben viel mehr Sklavinnen als Bürgerinnen, bei anderen wieder ist es umgekehrt. Auch beschränken sie sich durchaus nicht darauf, aus den Städten der Grauschwarzen sich die junge Brut zum Essen wie zur Sklavenzucht zu holen, sie statten vielmehr den Nestern aller möglichen Arten Besuche ab. In Europa allein sind ein Dutzend Arten bekannt, von denen die Blutroten sich Sklavinnen heranziehen, darunter häufig die Rotbärtigen, gelegentlich auch die sehr streitbaren Roten Waldameisen und die Waldwiesenameisen. Manchmal findet man gar Sklavinnen verschiedener Arten im Neste. Aber nicht immer siegen die Blutroten, nicht immer gelingt ihnen die Eroberung der fremden Stadt: manchmal ziehen die Räuberinnen auch mit leeren Taschen heim, abgeschlagen von der Überzahl eines kräftigen Wiesen- oder Waldvolkes.

Genau wissen die Blutroten zwischen der Brut der einzelnen Arten zu unterscheiden. Ihre geschworenen Feinde sind die rußhaarigen Gartenameisen, denen sie gerne einen Raubbesuch abstatten. Die Rußhaarigen, mutige, kleine Geschöpfe, wehren sich verzweifelt, verfolgen die heimkehrenden, beutebeladenen Blutroten bis zu deren Stadt, hängen sich an ihre Beine und Fühler. Dennoch wird die geraubte Brut in Sicherheit gebracht und – Stück für Stück verzehrt. Nie wird die Larve einer Rußhaarigen großgezogen, augenscheinlich sind die Blutroten der Ansicht, daß diese wilden Kriegerinnen sich nicht zu Sklavinnen eignen.

 

Gut geht's der Königin mittlerweile. Sie tut ihre Pflicht, legt Eier, wieder Eier, noch mehr Eier. Freilich zur Winterzeit ruht sie etwas aus. Kalt ist's draußen, aber man ist ja im festen Winterhaus. Immerhin ist's frostig: da spürt man wenig Lust zur Arbeit. Zudem – was soll man jagen? Im Schnee läuft kein Ameisenwild herum. Das beste ist schon – man drängt sich zusammen und döselt so vor sich hin. Nur die nötigsten Arbeiten werden verrichtet, wenig nur gegessen: die meiste Zeit verschläft man, Königin und Volk, träumt von Macht und Ruhm.

Wenn die junge Lenzsonne den Wald wieder küßt – da wacht man auf zu neuem Leben!

Trefflich wird sie gepflegt; ihre Töchter, bringen hübsche Brätchen aller Arten, und die grauen Dienerinnen reichen ihr Honigtau. Noch andere Sklavinnen hat sie nun, Rotbärtige, die nicht minder aufmerksam sind.

Immer mächtiger wird ihr Volk. Schon hat man Dutzende von Siedlungsstädten gegründet, hat Nebenköniginnen aufgenommen, die nun helfen müssen, Eier zu legen.

Dennoch, nicht nur Glück füllt das Leben der Königin – bisweilen gibt's auch trübe Nachrichten. Die Frau Königin will ›Sonne haben‹ – so sind nun mal die Königinnen. Freilich nicht in ihrem königlichen Gemach – das Eierlegen besorgt man besser im Dunkeln. Aber Sonne will sie für ihr mächtiges Volk, nur Gutes will sie hören, nur von Siegen und Eroberungen fremder Städte. So unterdrückt man gerne – das ist stets so bei Hofe – unangenehme Nachrichten. Dann aber, so langsam, sickert's doch durch, irgend eine schwatzhafte Dienerin plaudert's aus. Und ihre königliche Majestät muß sich ärgern, bekommt gar Migräne und muß das Eierlegen für ein Weilchen unterbrechen.

Das ist sehr begreiflich – muß man sich nicht giften, wenn man sowas hört:

Eine große Stadt von Waldameisen war ausgekundschaftet worden; das Volk der Blutroten schickte sich an zum Eroberungszug. Man sammelte sich vor dem Nest, eine Anzahl der rotbärtigen Sklavinnen war mit dabei, um die tapferen Kriegerinnen abziehen zu sehen. Kaum aber hatte das Heer sich in Bewegung gesetzt, war eine Weile marschiert, als es plötzlich ungestüm angegriffen wurde.

Wilde Kriegerinnen waren das, Emsen vom Amazonenstamme. Nicht viele, kaum ein halbes Hundert. Aber die warfen sich, ihre scharfen Sichelzangen weit öffnend, mit solch heißem Ungestüm auf das Heer der Blutroten, daß sich dieser im Augenblick eine furchtbare Verwirrung bemächtigte. Einige, die sich zur Wehr setzten, wurden sofort niedergemacht; die Amazonen durchbohrten ihnen den Kopf oder die Brust mit ihren Sicheln. Eine wilde Panik entstand, alles floh Hals über Kopf.

Es war eine schmähliche Niederlage – ein großes kriegstüchtiges Heer unter den Augen der Sklavinnen besiegt von einer Handvoll Amazonen! Was aber das beschämendste war: eben diese Sklavinnen, die kleinen Rotbärtigen, hatten mehr Mut gezeigt als die Blutroten. Sie waren zu Hilfe geeilt, einzeln, ohne Ordnung, hatten sich kampfesfroh und todesmutig den wilden Feinden entgegengeworfen. Sie waren es, die den Rückzug mit dem Verlust ihres Lebens gedeckt hatten; ihnen allein war es zu danken, daß die Stadt nicht erobert wurde.

Ein Schandfleck in der Geschichte des blutroten Volkes! Kein Wunder, daß sich die Königin darüber ärgern muß!

 

Das ist merkwürdig bei der Sklaverei in der Ameisenwelt: die Sklavinnen nehmen manche der Instinkte ihrer Herrinnen an. Furchtsam, ja feige von Natur, lernen sie von den so mutigen, kriegerischen Blutroten, werden tapfer und kampflustig. Sie fühlen sich ein Volk mit ihnen, interessieren sich außerordentlich für die Raubzüge. Wenn die Blutroten beutebeladen nachhause kommen, nehmen sie ihnen gern ihre Last ab, tragen sie in die Vorratskammern und Kinderstuben. Gewiß lehren sie die Herrinnen auch ihre Kunst: das Viehmelken; aber nur selten sieht man eine Blutrote einmal bei einer Blattlaus als Milchmädchen sitzen. Sie tötet diese lieber, um den ganzen Braten zu haben.

Die Herren Gelehrten streiten sich, ob man die Sklavinnen bei dem fremden Volke wirklich mit Recht ›Sklavinnen‹ nennen könne. Ob man sie nicht vielmehr als ›Hilfsameisen‹ ansprechen solle, da sie ja von den Herrinnen so gut behandelt und als gleichstehende Bürgerinnen betrachtet würden. Die Gelehrten haben nie Sklaven bei den Menschen gesehn, wissen nicht, daß auch Menschensklaven in den meisten Fällen gut behandelt werden. Dann aber: es ist ja garnicht wahr, daß die versklavten Emsen völlig gleichberechtigt sind. Denn es gilt als oberstes Gesetz in jedem Sklavenstaate, daß nur die Geschlechtstiere der Herrenart großgezogen werden, nie aber die der Sklavenarten.

Dann aber ist augenscheinlich den Fachgelehrten nie der Gedanke gekommen, daß es neben einem Herreninstinkt auch einen ausgesprochenen Sklaveninstinkt gibt. Das gehört freilich in ein anderes Fach, in die Sexualpsychologie – und kein Fachgelehrter kümmert sich darum, was im Zimmer nebenan gelehrt wird. Zwar sehen wir solche Sklavenlust tagtäglich an unseren Hunden, zwar hat jeder, der mit offenen Augen durchs Leben lief, Mitmenschen getroffen, die geborene Sklaven waren, denen der Gedanke allein, Sklave genannt zu werden und sich als Sklave zu fühlen, Wonneschauer erregte – was weiß davon der Myrmekologe vom Fach? Auch hier ist die Ähnlichkeit zwischen Menschheit und Ameisenheit eine schlagende – nur hat bei den so viel mehr sozialer und nationaler, also in Massen empfindenden Ameisen der Sklaveninstinkt wie der Herreninstinkt gleich in ganzen Arten sich eingewurzelt.

Wenn wir also die ›Hilfsmenschen‹ als Sklaven bezeichnen, so müssen wir den ›Hilfsameisen‹ mit noch viel größerem Rechte diesen Namen geben.

 

Immer noch liegt die alte Königin in ihrer Kammer, eierlegend. Manche Geschlechter ihrer Töchter hat sie aufwachsen und sterben sehen, manche Sklavinnen kommen sehen und wieder verschwinden. Nie beklagt sie den Tod einer einzelnen; eine Ameise ist ja nichts – nur das Volk gilt. So gilt auch ihre Liebe nie dieser oder jener: nur dem gesamten Volke. Aber nun quälen sie manche böse Sorgen.

Da hatte man, in nächster Umgebung der Stadt, ein paar schwarzgraue Königinnen versteckt gefunden – die rotbärtigen Sklavinnen, die sie entdeckt hatten, hatten kurzen Prozeß mit ihnen gemacht. Nun aber war es vorgekommen, daß wieder solch eine landstreichende graugerockte Königin sich dicht bei der Stadt herumgetrieben hatte – schwarzgraue Sklavinnen hatten sie gefunden und waren mit ihr auf und davon gegangen. Dies undankbare Gelichter! Statt dankbar zu sein, in dem stolzen Staat der Blutroten, ihr, der mächtigen Königin, dienen zu dürfen, hatte diese Bande ihr eine kleine graugerockte Prinzessin vorgezogen, einen hergelaufenen Rotznas, der noch nie im Leben auch nur ein einziges Ei gelegt hatte!

Sehr ärgerlich war es. Immerhin: es waren noch genug Sklavinnen in der Stadt, und man konnte neue Brut rauben und großziehen.

Nicht daran dachte sie jetzt.

Auch nicht an die Diebsvölker, die sich in der Stadt herumtrieben. Es ist ja wahr, sie vermehrten sich unheimlich in letzter Zeit; wurden immer frecher. Ist das Gesindel nicht neulich gar in eine Kinderstube eingebrochen, die dicht bei ihrer Königskammer lag?! Und hat sie völlig ausgeraubt, ehe noch Hilfe kam! Ihre starken, großen Töchter können den kleinen, giftigen Räuberinnen wenig anhaben – es ist nur gut, daß man schwarzgraue und rotbärtige Sklavinnen in der Stadt hat, die kleiner sind und so besser mit dem räuberischen Pack fertig werden.

Aber die alte Königin hat noch schlimmere Sorgen. Wie ein drückendes Verhängnis liegt es über der ganzen Stadt.

Goldlockige Fransenkäfer laufen durch die Gassen, kommen von einem Raum in den andern. Wie besessen sind die Blutroten; sie füttern und pflegen die Goldgelockten, nur um lecken zu können an ihren Haaren. Da ist ein duftiger Äthertrank und dieser Trank berauscht. Allen Sklavinnen hat sich die Lust nach Rausch mitgeteilt – mit den Herrinnen um die Wette drängen sie sich an die Fransenkäfer.

Neulich kam so einer gar in die Königskammer. Und ihre Töchter und ihre Dienerinnen rannten von ihr weg, hin zu dem Goldgelockten. Die eine reichte ihm im Kusse ein feinzerkautes Larvenbrätchen, die andere ein Tröpfchen Honigtau – gute Dinge, die für sie, für die Königin, bestimmt waren. Taten das unter ihren eigenen Augen!

Vernachlässigt wird sie, die Königin. Nur ein Gedanke noch scheint die Stadt zu beseelen: der an die Goldgelockten, an den berauschenden Äthertrank. Sie werden gepflegt, gereinigt, beleckt, geküßt und gefüttert, ihre Brut wird aufs sorgsamste herangezogen. Vernachlässigt aber, wie die Mutter-Königin, wird die eigene Brut.

Seltsame Geschöpfe sah sie durch ihre Kammer kriechen. Halb Weibchen, halb Arbeiterinnen, faule, feige, lebensuntaugliche Zwittergeschöpfe. War das ihr Fleisch und Blut, waren diese mißgewachsenen Kreaturen ihre Töchter?! Hatte die Verblendung des Rausches, die alles vergessende Liebe zu den Goldlockenträgern, diese alte Erbsünde des Geschlechts der Blutroten soweit schon um sich gegriffen, daß man die eigene Brut den gefräßigen Jungen der Fransenkäfer überließ und als Nachwuchs ihres stolzen Geschlechts nur noch solch jämmerliche Mißgeburten großzog?!

Hungrig war die alte Königin; schmutzig fühlte sie sich. Wer denn kümmerte sich noch um sie, wer putzte sie, wer fütterte sie? Wo blieben ihre Töchter, ihre Dienerinnen und Sklavinnen?

Müde war die alte Königin. War das der Inhalt dieses Lebens? War man darum zur Mörderin geworden, darum in die Stadt der Schwarzgrauen eingedrungen, alles tötend, was sich ihrem Willen in den Weg stellte? Stieß man darum die Königin der Grauröcke vom Throne, machte darum deren Töchter zu Sklavinnen? Zog man darum ein mächtiges Volk groß, legte man darum Eier durch alle die Monate und langen Jahre?

Darum nur? Um dieses große, tapfere, blühende Volk, dieses zu allem fähige und tüchtige Volk auf so schmähliche Weise zugrundegehen zu sehen? Um ein paar armseliger Käfer willen, die Goldlocken hatten und einen berauschenden Trank spendeten?

Darum nur? War das allein der Zweck dieses Daseins?

Die alte Königin begriff es nicht. Sie legte sich, um zu sterben –.

Waldameisen und Waldwiesenameisen

Da sind Ameisen – die wissen mehr von der Sklaverei als alle andern Ameisenvölker in Wald und Flur. Denn die andern Arten, die kennen nur die eine Seite: entweder sind sie Herrinnen, die rauben, oder Sklavinnen, die geraubt werden.

Die roten Waldemsen aber und die Wiesenemsen kennen die Sklaverei von beiden Seiten. Ihre jungen Königinnen gründen ihren Staat nach Herrinnenart, dringen in eine fremde Stadt der Schwarzgrauen oder der Rotbärte ein, lassen sich aufnehmen in aller Freundschaft. Oder auch mit Gewalt. Denn sie sind mutig und kriegerisch, trotz ihrer Kleinheit.

Von fremden Sklavinnen wird die erste Brut der jungen Königinnen aufgezogen, mit fremden Sklavinnen zusammen bestellen der Königinnen erste Töchter Haus und Stadt. Mit ihnen zusammen bauen sie am Neste, mit ihnen zusammen ziehen sie aus, Nahrung zu holen, besorgen sie die Ammenarbeit der Kinderstuben.

Langsam sterben die fremden Dienerinnen. Dann bleiben die Waldameisen und die Wiesenameisen unter sich. Ziehen nicht aus auf Sklavenraub. Wenn sie Gelegenheit haben, fremde Larven und Puppen zu stehlen, tun sie das gewiß – aber nur als Beilage zum Speisezettel, nicht, um sie großzuziehen.

Im Kampfe stehn sie fest genug, verteidigen ihre Städte gegen Blutrote und Amazonen. Manche Belagerung halten sie siegreich aus – manchmal aber werden sie doch geschlagen von den überstarken Feinden. Die Stadt wird besetzt – die junge Brut wird geraubt: was nicht verzehrt wird, wird zu Sklavinnen erzogen von den Sklavenjägerinnen.

Und Schwestern von Emsen, die einst als Herrinnen von Sklavinnen großgezogen wurden, ziehen nun – selbst Sklavinnen – als getreue Ammen der Herrinnen Kinder auf!

Ameisenschicksal! Nicht auch Menschenschicksal? Mancher Fürstensohn, an die Ruderbank der Galeere geschmiedet, manche Königstochter, im Harem eingeschlossen, konnte dasselbe Liedlein singen!


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