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V. Jagdvölker

 

Ac si quis comparet onera corporibus formicarum, fateatur nullis portione vires esse majores.

C. Plinius secundus, Naturalis Historia, XI.

 

Die Bösartigen

Die Wissenschaft hat die gesamte Ameisenheit natürlich in ein System gebracht – wie die Menschheit auch. Diese Systeme sind freilich fehlerhaft wie alle Systeme.

Das heute einigermaßen anerkannte Schema für die Ameisenheit kennt fünf Familien: die Stachelameisen oder Bösartigen, die Wanderameisen, Knotenameisen, Langhalsameisen und die Buckelameisen oder Schuppenameisen.

Man nimmt an, daß die Ameisen von einer wespenartigen Insektenform abstammen – in der Tat zeigen die ältesten Ameisen in mancher Beziehung Ähnlichkeiten mit den einzellebenden Wespen. Es sind dies die bösartigen Stachelameisen. Aus ihnen haben sich allmählich alle andern Arten entwickelt.

Die Bösartigen leben zwar überall auf der Erde, doch sind sie ziemlich selten und da, wo sie in etwas größerer Zahl auftreten, wie in den Tropen, in kaum zugänglichen Landstrichen. Sie bilden dazu – von wenigen Arten abgesehen – nur kleine Völker. Manche Stämme sind sehr furchtsam, leben ausschließlich unter der Erde, haben infolgedessen den Gebrauch der Augen fast eingebüßt. Eigentümliche Eigenschaften haben andere, wie die Springerinnen und Zeckenameisen, erworben, die mit Hilfe ihrer Oberkiefer fußlange Sprünge ausführen können.

Weibchen, Männchen und Arbeiterinnen haben bei den Bösartigen etwa die gleiche Größe; auch sonst sind alle drei Kasten einander sehr ähnlich. Ich schreibe absichtlich: Weibchen und nicht: Königinnen – denn von einer Königin kann man bei den Stachelameisen noch kaum sprechen. Das Weibchen ist eine sehr faule Eierlegerin, es legt nur alle vier Wochen ein paar Eier. Daneben legen auch oft Arbeiterinnen Eier. Die Folge ist, daß das Weibchen durchaus nicht als »Königin-Mutter« betrachtet wird; es arbeitet mit wie alle Arbeiterinnen, und findet nicht mehr Aufmerksamkeit als diese auch. Die Arbeiterinnen ihrerseits kennen nur eine Form: Soldatinnen gibt es nicht. Die Nester sind kunstlos und roh.

Die Bösartigen sind Jägervölker; sie machen Jagd auf alle möglichen Insekten, leben nur von Fleischnahrung. Ihre Brut wird nicht, wie bei andern Ameisen, aus dem Kropfe gefüttert, sondern bekommt rohe Fleischnahrung zum Fressen. Das Beutetier wird zerschnitten und die einzelnen Stücke den Larven gereicht. Auch sonst wird der Pflege der Jungen nicht entfernt solche Aufmerksamkeit geschenkt wie bei andern Ameisen. Die Larven spinnen sich stets in einen Kokon ein; wenn die jungen Tiere ausschlüpfen wollen, so hilft ihnen dabei keine freundliche Amme. Sie müssen sich selbst anstrengen, aus dem Gespinst sich herauszuarbeiten; gelingt ihnen das nicht, so sterben sie eben und werden dann auf den Kehrichthaufen geworfen.

Die Stachelameisen jagen meist einzeln oder in kleinen Trupps; einige Stämme aber haben schon eine regelrechte Kriegstaktik ausgebildet und ziehen in Heeren gegen die Termiten zu Raubzügen aus.

Es nimmt Wunder, warum man gerade diese Gattung von Ameisen, harmlos, schwach, furchtsam und dazu recht selten, die Bösartigen benannte. Aber es gibt ein Land, wo sie diesem Namen alle Ehre machen: das ist Australien. Und die besondere Art der Bösartigen, die diesem Lande das Gepräge gibt, führt einen ihre Gemütsart noch schärfer bezeichnenden Namen; sie heißt:

Die Bulldoggameisen

Ich war einmal in Kalkutta im Tiergarten – es war so feuchtheiß an dem Tage, daß man sich nur höchst ungern zu jedem einzelnen Schritte entschloß. Da war ein Zwinger, rund, so wie ein Bärenzwinger gebaut, in den man von oben über die Zementmauer hinunterguckte. Unten lag etwas Atmendes, ein weißgraufelliger Klumpen. Es war ein Tier – aber man konnte weder Kopf noch Beine sehen, nur diesen dicken Haufen Fell, in dem was atmete. Auf der Tafel stand: Wombat, Phascolomys fossor, Australien.

Ich warf ihm Obst, Brot und Zucker hin, das Geschöpf ließ alles liegen und rührte sich nicht. Dann suchte ich mir Steinchen und Holzstückchen zusammen und warf sie hinunter – aber dem Fellklumpen da unten war das völlig gleichgültig. Das regte und ruckte sich nicht, blieb, was es war: ein fellüberzogenes dickes, rundes Stück Fleisch, das schnaufte.

Dieses Biest, der Wombat, ärgerte mich. Dreimal ging ich noch in den Tierpark – aber mehr sah ich nie, als den Fellklumpen. Der ging mir nicht mehr aus dem Kopf; ich träumte von diesem blöden Vieh, das ohne Kopf und Beine immer nur da lag und nichts anders tat, als schnaufen. Obendrein noch Wombat und Phascolomys hieß!

Später, unten in Colombo, traf ich die ›Derfflinger‹ vom Bremer Lloyd, die fuhr nach Australien. Da stammte ja der Wombat her – da konnte ich richtig einen sehen. Vielleicht hatte er doch vier Beine und einen ordentlichen Kopf.

So kam ich nach Australien – das war nicht gerade sehr erhebend nach so langer Zeit in Indien.

Dennoch: den Phascolomys sah ich – er ist ein äußerst langweiliges und dummes Vieh! – und manches andere noch.

Australien – das ist das Land, wo die ganze Natur auf dem Kopf steht.

Die Farnkräuter sind da mächtige Bäume; das Gras wächst auf den Bäumen und die Kohlköpfe auch. Da gibt's ein Tier, das genau wie ein Tiger ausschaut, gelb und schwarz gestreift – doch ist es so klein wie eine Maus. Aber die Ratten werden dafür mächtig groß und heißen dann Känguruhs. Papageien gibt's, die schwarz sind und Fleisch fressen, blöde Igel mit spitzen Schnäbeln, die Eier legen, andere Säugetiere, die nicht saugen, aber einen Entenschnabel haben und auch Eier legen, Hornechsen, die lebendige Fossilien sind – kurzum, es tut sich was in der Flora und Fauna Australiens.

Da dürfen die Ameisen nicht zurückbleiben. Nirgends spielen die Stachelameisen eine Rolle – nur in Australien sind sie tonangebend in der Ameisenheit. Innige Feindschaft schloß ich mit der Bulldoggameise, einem sehr unliebenswürdigen Geschöpf, das zweieinhalb Zentimeter groß wird.

Freundliche Überredung nutzt garnichts bei diesem Viech; es hat nun mal ein Vorurteil gegen wissenschaftliche Forschung und versteht es, seinem Widerwillen einen vortrefflichen Ausdruck zu geben.

Es gibt rote, schwarze, braune und bunte Bulldoggameisen – aber alle sind gleich wüste Gesellen. Sie graben ihr Nest in den Boden vier Fuß tief und bauen übertag noch einige Fuß dazu; die Völker mögen bis zu tausend Seelen betragen. Einige sind treffliche Springer, die Sätze über einen Fuß machen. Ich weiß noch, daß sie gerne baden und ausgezeichnete Schwimmer sind. Und ich weiß endlich sehr gut, wie sie beißen und stechen können; ich habe da einige Erfahrungen gesammelt.

Einmal wollte ich so eine Bolldoggemsenstadt erobern. Ich hatte gute Belagerungswaffen, Hacke, Schaufel und Spaten – höchst notwendiges Handwerkszeug in dem steinharten Lehm. Das Festungstor war oben auf dem Hügel, da begann ich zunächst meinen Angriff – die Ameisen nahmen sofort den Kampf auf. Aber –

›Zu Reutlingen am Zwinger, da ist ein altes Tor,
Längst wob mit dichten Ranken der Efeu sich davor.
Man hat es schier vergessen, nun kracht's mit einmal auf
Und aus dem Zwinger stürzet gedrängt ein Bürgerhauf.
Den Rittern in den Rücken fällt er mit grauser Wut,
Heut will der Städter baden in heißem Ritterblut –‹

Das alte Tor war unten an der Festung, gerade bei meinem linken Fuße.

Der Sturm ging die Hosenbeine hinauf – innen und außen; gleich bis zum Knie sprang der Bürgerhauf. Ich, der Ritter, ließ meine Waffe, die prächtige Streitaxt, fallen und begab mich schleunigst auf die Flucht.

Zwanzig Schritt weit verfolgte mich die Bande.

In sicherer Entfernung von Reutlingen nahm ich dann den Kampf mit den Bestien auf, die an mir saßen. Das ging einigermaßen bei denen, die außen raufgesprungen waren – mit der Hundertschaft jedoch, die die Hosenröhren hinauf ihren Weg gefunden hatte, war nicht so leicht fertig zu werden. Es erwies sich als nötig, mich der Zierde des Mannes zu entledigen: für einen Ritter, der gerade eine feste Stadt zu erobern versucht hat, eine recht schmähliche Angelegenheit.

Es war ein voller Sieg für die Bürgerschaft – nette Bürger übrigens, deren Stadt eine Raubburg ist und die nur von Mord und Totschlag leben.

Noch kläglicher aber war meine Niederlage, als ich es einmal nicht mit Emsen, sondern nur mit Männchen und Weibchen der Bulldoggameisen zu tun hatte.

Das war einige Wochen später – ich geriet in einen Hochzeitsflug. Die Luft war voll von den lieben Tieren; viele hunderte, tausende vielleicht, schwirrten um mich herum. Ich bildete mir ein, daß sie an solchem Festtage vielleicht ein wenig sanftmütiger sein möchten, daß sie sich nur um die Liebe bekümmern würden und um nichts anders. Das taten sie freilich auch im reichsten Maße: überall flogen und saßen die Pärchen. Aber darum wurde ich keineswegs vergessen – ich glaube, sie wollten mir beweisen, daß bei den Bulldoggvölkern die Männlein und Weiblein genau so gut kämpfen können, wie die Arbeiterinnen – und besser noch, da sie ja fliegen können. Von allen Seiten wurde ich angegriffen und bekam die Giftstachel, die bis zu dreiviertel Zentimeter lang sind, gründlich zu kosten.

So schnell bin ich nie wieder ausgerissen.

Seither ist mein Lerneifer, was die Bulldoggameise betrifft, gründlich abgekühlt.

Ich weiß es wohl: Ich war kein Held. Ich war ein Feigling. Aber ich fühle mich nicht berufen, ein Opfer der Wissenschaft zu werden.

Mögen's andere mal versuchen mit diesen reizenden Geschöpfen, die noch fast garnicht erforscht sind. Da ist noch ein weites Feld für jeden strebsamen Myrmekologen. Nur rate ich ihm, jedes einzelne Fleckchen seines Leibes sorgfältig vorher zu bepanzern.

Völkerwanderungen

Vor allen Ameisen kann sich der Mensch leicht schützen; selbst die wildesten und bösartigsten tun ihm keinen Schaden, wenn er sie nicht selbst angreift. Nur die Wanderameisen mögen über ihn kommen wie ein Unwetter; sie können zum Naturereignis werden, wie ein Hagelschlag, wie ein Sturm, wie ein Heuschreckenschwarm, wie die Beulenpest.

Man kann viele Jahre in den Tropen zugebracht haben, ohne einem Löwen, Tiger oder Jaguar, einem Elefanten, Nashorn oder Tapir zu begegnen – mit den Wanderameisen jedoch macht man ganz sicher Bekanntschaft, ob man mag oder nicht.

Alle Wanderameisen sind blind – die altweltlichen haben überhaupt keine Augen, die neuweltlichen haben solche, aber keinen Sehnerv dazu. Dies gilt nur für Weibchen und Arbeiterinnen: die Männchen können ausgezeichnet sehen. Die Arbeiterinnen zeigen jede Größe, von ganz kleinen Knirpsen bis zu mächtigen Burschen; sie sind dazu sowohl in der Farbe, wie im Körperbau voneinander verschieden. Die Männchen, stets geflügelt, sind wenigstens drei bis viermal so groß wie die größte Arbeiterin, während die flügellosen Weibchen mit ihrem unförmlichen Hinterleibe gar die achtfache Größe erreichen. Beide sind von den Arbeiterinnen so außerordentlich verschieden, daß die Wissenschaft ein über das andere Mal den Fehler beging, sie als besondere Tiere anzusprechen. Die Folge war ein wildes Durcheinander in der Benennung der einzelnen Arten, das auch heute noch nicht geklärt ist, da von manchen Arten die Weibchen bisher überhaupt noch nicht gefunden wurden.

Wie die Wanderameisen ihre Brut aufziehen oder wie die Geschlechter zueinander in Verbindung treten, darüber weiß man schlechterdings garnichts, wenn es auch klar ist, daß von einem eigentlichen Hochzeitsflug keine Rede sein kann, da ja die Weibchen flügellos sind. Die Männchen schwärmen allerdings aus, und zwar zur Nachtzeit, wie denn überhaupt die Wanderameisen meist nächtliche, lichtscheue Tiere sind.

In Mexiko sammelte ich meine ersten Erfahrungen mit den Wanderameisen, zu denen viele andere im tropischen Südamerika sowie in den Tropen der Alten Welt hinzukamen. Leichter zu beobachten sind die neutropischen Wanderameisen, von denen einige Arten bei hellem Sonnenschein wandern, während andere, sowie alle alttropischen, nur zur Nachtzeit oder an sehr bewölkten Tagen ausziehen. Wenn ich heute meine Notizen durchlese, so finde ich soviel des Gleichen, so wenig des Abweichenden, daß ich vorziehe, hier ein Gesamtbild zu geben.

Zunächst: ich halte die Annahme der meisten Ameisenforscher, daß die Wanderameisen keine festen Nester haben, daß sie nur ein gelegentliches Biwak an einem geeigneten Platze für ganz kurze Zeit aufschlagen, für falsch. Ich habe mich überzeugt – wenn ich auch ebensowenig wie irgendein anderer je ein solches Nest regelrecht untersuchen konnte – daß sie dennoch ein Heim haben, das man als ›Dauernest‹ ansprechen kann, insofern sie längere Zeit, oft viele Monate lang, darin verweilen. Das erscheint notwendig, um die Brut aufzuziehen. Die Wanderameisen verlassen dieses Nest mit dem Wechsel der Jahreszeiten, wenn die Regenzeit einsetzt oder aber die trockene Zeit beginnt; auch wohl, wenn in der Umgebung nichts mehr für das außerordentlich zahlreiche Volk zu holen ist: sie treten dann weite Wanderungen an, während deren sie Lagerplätze beziehen. Aber sie machen auch, solange sie in ihrem Dauernest bleiben, häufig große Plünderungszüge, von denen sie wieder in ihr Nest zurückkehren. Sie sind regelrechte Nomaden, die solange an einem Platze bleiben, als ihnen dieser eine Lebensmöglichkeit bietet, sind Hunnen oder Zigeuner, die von Ort zu Ort ziehen.

Die Raubnester der Hunnenameisen liegen sehr versteckt, meist im dichtesten Urwald oder undurchdringlicher Dschungel im Wurzelwerk alter Bäume; sie werden bei jedem Angriff von vielen Hunderttausenden von Kriegerinnen aufs Tapferste verteidigt. Es ist nicht minder schwer, auch nur ungefähr die Kopfzahl eines solchen Nomadenvolkes festzustellen, jede Schätzung ist da völlig aus der Luft gegriffen. Ich gestehe, daß ich meine eigenen Schätzungen bei sehr großen Völkern stets als hoffnungslos aufgeben mußte, weil die Heerhaufen so dicht, in solcher Breite oder so erstaunlicher Länge marschierten, daß ich immer wieder irre wurde. Viele Reisende geben die Zahl auf manche Millionen an – ich kann das weder bestätigen noch auch bestreiten. Jedenfalls sah ich Heere von über hundert Meter Länge, andere wollen solche bis zu vierhundert Meter beobachtet haben.

Einige Arten ziehen auch die breite Schlachtreihe vor; ihre Front ist bis zu vier Meter breit; wieder andere marschieren in getrennten Kolonnen. Aber immer sind die einzelnen Kriegerinnen so eng aneinandergedrängt, daß kein Stäubchen zwischen ihnen zur Erde fallen könnte; völlig schwarz wirkt der kribbelnde Boden.

Die Wanderungen und Raubzüge finden meistens nachts statt oder doch an bewölkten, dunklen Tagen. Werden sie bei solchen Zügen von zu hellem Lichte überrascht, so marschieren die Heere unter dem den Boden bedeckenden Laube; ist das nicht möglich, so bauen sie gedeckte Laufgänge aller Art. Ausgezeichnete Pioniere, errichten sie – während der Zug weiter marschiert – diese Laufgänge aus Erde, die zuweilen mit Speichel gebunden wird, manchmal aber auch ohne jedes Bindemittel. Gelegentlich bilden auch die größeren Kriegerinnen mit ihrem eigenen Leibe einen solchen Laufgang, unter dem die kleineren dann herziehen.

Rechts und links vom Zuge marschieren stets eine Reihe einzelner und meist anders gefärbter Kriegerinnen, die man nur als Ordnerinnen, als Offiziere ansprechen kann. Sie laufen hin und zurück, jede scheint ihren Teil des Heeres zu überwachen. Diese Offiziere sind von den anderen Emsen sehr unterschieden, sie haben einen viel größeren Kopf und sehr starke Oberkiefer; bei jedem Angriff sind sie an der Spitze der Kämpfenden.

In der Mitte der Heeressäule ziehen die kleineren Kriegerinnen, sie tragen die Brut, die Eier und Larven, während die größern die Beutestücke schleppen. Ganz große Kriegerinnen sind überall als Wachen aufgestellt, auf beiden Seiten der Heerstraße; sie beschützen den Zug vor unvermutetem Angriff.

Einen merkwürdigen Eindruck macht es, wenn man gelegentlich die so sehr viel größern und mit Seitenaugen und Stirnaugen versehenen Männchen mitten im Zuge mitmarschieren sieht, und zwar – entflügelte Männchen! Doch scheint das nur bei einer Art der Alten Welt der Fall zu sein; wenigstens habe ich in Amerika nie diese Beobachtung machen können. Die Königin findet man selten genug; dennoch scheint sie auf allen Zügen – von den Beutezügen abgesehen – mitgenommen zu werden. Dieses Mitzerren der riesigen, unbeholfenen Stammesmutter ist gewiß eine rechte Schinderei: die Bauchseite aller der Weibchen, die man bisher gefangen hat, ist denn auch in einem wenig königlichen, meist recht bedauernswerten Zustande.

Dem gewaltigen Heere folgt stets eine ganze Schar der verschiedensten Tiere. Einige von diesen, Vögel aller Art, picken ein und das andere Opfer aus der Schlachtreihe. Der große Troß aber besteht aus Insekten, Gästen der Ameisen, die mit ihnen Freud und Leid teilen; besonders auffällig sind manchmal die kleinen Fliegen, die über den Heerhaufen herfliegen.

Wohin immer das Hunnenheer kommt, da verbreitet sich Schrecken in der Insektenwelt – sichern Tod bedeutet seine Nähe. Käfer, Raupen, Kakerlaken, Asseln, Tausendfüßer werden sofort ergriffen und in Stücke gerissen. Man sollte glauben, daß wenigstens Heuhupfer sich mit einem mächtigen Satze retten könnten, doch gelingt ihnen das nur selten. Es scheint, als ob der Schrecken sie lähme; sie werden gefaßt, die Hinterbeine werden ihnen sofort abgeschnitten – kurz darauf sind sie in Fetzen gerissen. Sowie ein Strauch, ein Ameisennest, ein Blätterhaufe, oder sonst eine reichere Beute versprechender Ort sich zeigt, sondert sich unter der Anführung einiger Offiziere sofort ein Haufe zur Erstürmung ab. Die verfolgten Insekten retten sich in die Zweige, auf Steine und Wurzeln – überall hin folgen ihnen die Hunninnen. Verzweifelt springen die Verfolgten schließlich hinunter – mitten in das wimmelnde schwarze Heer hinein. Nur den Spinnen gelingt öfter die Rettung, indem sie sich an einem Faden hinablassen und in der Luft schaukeln.

Das Nest eines fremden Ameisenvolkes wird sofort angegriffen; die Nomadinnen sind ebenso große Liebhaber von Ameiseneiern und Larven, wie alle andern Emsen. Das fremde Volk setzt sich natürlich zur Wehr, aber nur selten gelingt es, den wilden Angriff des übermächtigen Feindes abzuschlagen. In den meisten Fällen wird der feindliche Stamm bis auf die letzte Kämpferin niedergemacht und alle Brut geraubt.

Nächtlicher Besuch

Jeder Mensch, der einmal in den Tropen lebte, kann hübsche Geschichten erzählen von Ameisenheeren, die ihm zur Nachtzeit einen Besuch abstatteten. Nur vor den größeren Menschenstädten haben die Zigeunerameisen einigermaßen Achtung, sonst halten sie es für ihre Pflicht, von Zeit zu Zeit einmal nachzuprüfen, was in den Nestern der Menschen zu holen sei. Man stellt daher die Bettpfosten stets in kleine Gefäße, die mit Essig oder Petroleum gefüllt sind; wenn man nicht in allzu warmen Nächten die Leintücher abwirft, sodaß sie auf den Boden herabhängen, ist man so wenigstens im Bett einigermaßen sicher vor den wimmelnden Gästen. Ich habe öfter solchen Besuch gehabt und mich immer mit Anstand aus der Lage gezogen – man lernt ja auch allgemach, wie man sich als Gastgeber zu benehmen hat. Nur meine erste Nacht mit den schwarzen Jungfrauen war übel genug: ich werde sie mein Lebtag nicht vergessen.

Wir hatten Pulque getrunken. Pulque – das ist Agavenschnaps, den die mexikanischen Indianer über alles lieben. Er schmeckt abscheulich, und man bekommt einen greulichen Brummschädel davon. Dennoch: man muß alles kennenlernen, wenn man so als Schreiber durch die Welt zieht; ich habe noch viel übleres Zeug durch die Kehle gegossen. Außerdem – man gewöhnt sich an Pulque. Man wird erst sehr lustig und dann sehr rührselig davon.

Lange hatten wir aufgesessen, ziemlich viel Pulque getrunken.

Dann ging ich nach Hause – ich wohnte vor dem Landstädtchen in einem einstöckigen Bungalow, das der Besitzer großartig ›Chalet‹ nannte. Eine alte Indianerin betreute mich da, während mein Mozo im Stall bei den Pferden hauste.

Ich ging noch nicht zu Bett; setzte mich an den Schreibtisch. Ich hatte das ununterdrückbare Bedürfnis, ein Sonett zu schreiben. Ein Sonett dazu für ein Singsonggirl, das ich in Hankow mal getroffen hatte und das bestimmt nicht die geringste Verwendung dafür haben würde. Wenn sie je davon gehört hätte, hätte sie mit sicherem Instinkt seine Entstehung auf Alkohol zurückgeführt; nur hätte sie vermutlich auf Saki geschlossen und nicht auf Pulque – auf Reisschnaps, nicht auf Agavenschnaps.

Ihre lange, schmale Hand hatte es mir angetan und die noch längern, noch schmälern Finger, diese sehr sündigen Finger eines opiumrauchenden Singsonggirls.

Ich träumte davon. Und ich schrieb vier Zeilen über die Sünden ihrer Hand. Und noch vier Zeilen und drei Zeilen –

Die letzten drei Zeilen hab' ich nie geschrieben. Damenbesuch kam – der hieß mich die schmalen Finger vergessen und das Singsonggirl und Pulque und Sonett.

Es piepste was. Piepste lauter und lauter, piepste im himmelschreienden Diskant. Ich fuhr auf, blickte herum; sah den Boden mit einem schwarzen Teppich belegt.

Aber der Teppich lebte. Wibbelte, kribbelte – viele tausende schwarzer Ameisen. Der halbe Boden meines Zimmers war mit ihnen bedeckt und immer noch kamen mehr und mehr – wie Wellen schob sich die schwarze Masse vor. Unwillkürlich sprang ich auf meinen Stuhl.

Das Piepsen hörte nicht auf. Ganz feines, dünnes, vielstimmiges. Daneben ein stärkeres, scharfes – ein klägliches, jämmerliches, verzweifeltes Piepsen.

Ich horchte – hinter dem Schranke kam es her. Ja, ja, da hinter dem Schranke war ein Mauseloch und ein Mausenest, da wohnte eine Mausemama mit ihren Mausekindern. Ich hatte sie oft piepsen hören und die Mäuschen auch. Die piepsten der Mutter zu: ›Bring uns was Gutes zu essen!‹ Und die Mausemama piepste mich an: ›Haben Sie nichts für mich?‹. Jeden Tag teilte ich mein Frühstück mit ihr, gab ihr Brot, Käserinden, Wurstschalen.

Ich nannte sie Ignaz. Sie war eine nette, liebe Mausemama. Nun wurde sie lebendig aufgefressen – sie und ihre nackten Mausekinder. Da gibt's kein Entfliehen, wenn die schwarzen Sechsbeiner kommen.

Meinen Stuhl kletterten sie hinauf – zehn, zwanzig – hunderte. Wollten sie auf mich auch Jagd machen? Was wissen die Blinden, wie groß ich bin? Maus oder Mensch – das ist gleich für sie.

Auf den Tisch stieg ich. Der Kopf dröhnte mir – aber es war kaum vom Pulque. Ein widerlicher Fäulnisgeruch ging von den Schwarzen aus, ein Aasgeruch, der durch die Poren drang, sich einfraß durch Kleider und Haut.

Sie kamen mir nach, den Tisch hinauf. An allen vier Tischbeinen stiegen sie hoch – auch den Stuhl hinauf über Sitz und Lehne. Aber die Lehne war einige Zoll vom Tische entfernt: diese Tiere wenigstens konnten nicht an mich herankommen. Ich zog mein Taschentuch – was auf den Tisch kam, würde ich hinunterfegen.

Und sie kamen über die Kanten hinauf, wenige erst, immer mehr dann. Ich warf sie hinab, drehte mich, paßte gut auf: wo sie nur sich zeigten, fegte ich hinunter in das schwarze, wogende Meer.

Wenn nur die Mäuse schon tot wären, dachte ich. Aber die piepsten, piepsten, immer unseliger, immer wilder, immer verzweifelter.

Dann fiel mein Blick auf den Stuhl. Völlig bedeckt waren nun Beine, Sitz, Lehne. Aber oben, wo die gebogene Lehne etwas überhing über den Tisch, sah ich ein seltsames Schauspiel. Daumendicke Girlanden hingen da hinab, Girlanden von Ameisen! Und ich sah, wie diese Ranken wuchsen, wie eine Emse sich immer an die andere hing.

Faszinierend war es – unbeweglich stand ich und starrte die Tiere an. Ich wußte: blind sind sie. Können nichts, garnichts sehen. Und dennoch kommen sie von der Lehne zum Tisch, bilden lebendige Leitern –

Nun waren die ersten auf dem Tische, hielten sich fest an einer Streichholzschachtel. Und sofort kamen die schwarzen Scharen über die Leiter hinab, ergossen sich über den Tisch. Zugleich stiegen sie von allen vier Tischbeinen hoch, über alle Kanten schwoll die schwarze Flut.

Eine zweite Kette wurde fertig vom Stuhl her. Ich brauchte ihm nur einen Tritt zu geben, ihn hineinzuschmettern in das Gewimmel da unten – der Gedanke kam mir nicht einmal.

Aber ich mußte fort – immer widerlicher wurde der Kadavergeruch. Im nächsten Augenblicke mußten sie an mir sein – ein Brechreiz faßte mich, wenn ich daran dachte.

Kaum zwei Fuß von meinem Tische stand mein Waschtisch – und mitten darauf das große wassergefüllte Becken. Da war ich sicher –

Ein Schritt – ich stand auf dem Waschtisch – dann mit beiden Füßen in der großen Schüssel. Ich bemerkte gleich: auch der Waschtisch war bedeckt mit Ameisen. Wollten sie vielleicht versuchen, wie Seife schmeckt?

Mit dem linken Fuße hatte ich in die Schwarzen getreten – auch ein halbes Dutzend mit hineingenommen in das Becken. Sorgfältig fischte ich sie heraus.

Es war ein abscheuliches Blechbecken, in dem ich stand, über das ich mich schon seit vierzehn Tagen geärgert hatte. Nun war ich heilfroh, daß es kein irdenes war, das gewiß zerbrochen wäre. Kerzengrade stand ich, Fuß an Fuß. Ich kann nicht behaupten, daß es sehr bequem war: ich mußte mühsam versuchen, das Gleichgewicht zu halten, um nicht umzukippen. Mal hob ich das rechte, dann wieder das linke Bein, um ein wenig auszuruhen.

Immer noch strömten, unter der Tür her, die Heere herein. Alles bedeckten sie nun, krochen in meinen Schrank, erkletterten das Sofa, stiegen hier und dort die Wände hinauf. Immer mehr wurden ihrer und immer mehr; es kam mir vor, als ob sie schon in Schichten übereinander liefen, als ob das schwarze Gewoge da unten immer höher anschwölle. Sicher ist, daß sie schon das Blechbecken erstiegen hatten; am Rande rund herum liefen.

Ich konnte die steife Stellung mit geschlossenen Füßen kaum mehr ertragen. Wenn ich hinunterspränge, zur Tür liefe? Die Treppe hinunter – aus dem Hause!

Aber ich hatte das Empfinden, daß ich bis in die Knie in die schwarzen Wogen eintauchen würde. Ich wußte, daß das unsinnig war, wußte genau, daß die Ameisen nur wenige Millimeter hoch den Boden bedeckten. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los: bis an die Knie springe ich hinein. Strauchle dann, gleite aus in den zerquetschten Massen, falle mitten hinein: über mir zusammen schlägt das schwarze, lebende Meer.

Jetzt erst, langsam, kam eine Angst in das Mißbehagen. Ich mochte die Ameisen nicht mehr sehen, schloß beide Augen.

Aber das Piepsen, das Piepsen der Mäuse, die sie lebendig fraßen –

Und dieser grauenhafte Duft nach Jauche und Abdeckerei. Es war mir, als hätte er sich schon in mir selbst festgesetzt, als ob mein Leib, mein eigener Atem diesen widerlichen Aasgeruch aushauche.

Mir schwindelte. Ich schwankte – riß die Augen wieder auf, hielt mich aufrecht mit letzter Willenskraft.

Da sah ich, wie die Schwarzen ins Wasser gingen. Wie vom Rande des Beckens aus eine sich an die andere hing; wie sie eine Brücke bauten zu mir hinüber – genau so, wie sie von der Lehne des Stuhles zum Tische hin eine Leiter gebaut hatten.

Eine Minute war ich ganz ruhig und klar, schaute zu, wie sie arbeiteten, wie ihre lebende Brücke länger wurde, sich immer näher heranschob an mein Bein. Ich hätte ausrechnen können, wann sie es erreichen würden –

Dann aber faßte mich wieder der Schwindel. Das qualvolle Todespiepsen der Mäuse zermarterte meine Ohren, der ekle Aasgeruch drang stickig in meine Nase. Die Augen schmerzten von dem Anblick der schwarzwimmelnden Wogen; auf dem ganzen Körper schon glaubte ich ein Kribbeln und Beißen der Ameisen zu spüren. Ja, es war mir, als ob mein Mund dicht angefüllt sei mit den Schwarzen – meine Zunge bog sich, rollte sich in verzweifeltem Kampf.

Angst – Angst – und ein kalter Schweiß –

Und ein lauter Schrei des Entsetzens –

Dann sprang ich.

Ich weiß nicht, warum ich das nicht früher tat. Ich weiß nicht, warum ich's grade jetzt tat. Mein Bett stand ganz nahe, kaum einen Meter vom Waschtisch – längst hätte ich mich retten können.

Einen Schlußsprung machte ich mitten ins Bett. Ohne Besinnen kroch ich sofort unter die Leintücher, wickelte mich rings eng ein. Atmete, atmete – aller Gefahr entronnen. Ich wußte, daß ich hier sicher war; die vier Pfosten standen in kerosingefüllten Blechdosen – da traut sich keine Schwarze heran.

Ich schloß, die Augen wieder, hielt mir die Nase zu.

Immer noch das Piepsen, schwächer doch – langsam schwächer. Dazwischen andere Geräusche, die ich mir nicht erklären konnte – ah, von Tieren, denen es erging, wie den Mäusen.

Und dann der helle Schrei eines Vogels.

Heiß wurde mir plötzlich: das war der schwarze Vogel meiner Indianerin. In seinem Käfig würden sie ihn fressen –

Ich steckte den Kopf unter die Tücher – nur nichts mehr hören, nichts mehr sehen, nichts mehr riechen –

Am andern Morgen brachte mir die Alte mein Frühstück ans Bett. Sie hatte große Mühe mich zu wecken – das tat sie stets sehr ungern, nur meinen strengsten Befehlen gehorchend. Mir fiel die Nacht wieder ein und die Ameisen; ich blickte umher: nichts sah ich.

Hatte ich nur geträumt? Ich fragte die Alte, ob sie nichts bemerkt habe diese Nacht?

Sie nickte gemütlich – gewiß doch, die ›Tepeguas‹ seien dagewesen. Sie hätte es gleich gemerkt – immer, wenn nachts ihr Vogel schreie, machten Tepeguas ihre Aufwartung. Sehr zufrieden schien sie mit diesem Besuch: kein Ungeziefer mehr im Hause, keine Ratten und Mäuse, keine Eidechsen, keine Spinnen, Tausendfüßer, Wanzen, Kakerlaken. Schön reingefressen der ganze Bungalow. Gute Kammerjäger – die Tepeguas!

Aber ihr Vogel, ihr schwarzer Vogel? Sie lachte. Der? Was sollten sie dem wohl tun? Von der Decke herab hing sein Käfig, an dünnem Draht. Nein, der fräße selbst die Tepeguas – darum freue er sich auch und rufe laut, wenn sie kämen. Sie habe ihm noch ein paar Handvoll zusammengekehrt und gebracht, zurückgebliebene, die sie bei der Schlange gefunden habe – von der freilich sei wenig mehr als das Skelett übriggeblieben.

Arme Schlange, dachte ich. Solch ein schönes Tier war sie, blauschillernd, mit Goldaugen. Ich hatte sie vor ein paar Tagen im Walde gefangen und in einen Holzkasten gesetzt, der unter der Treppe stand, die ins Haus führte.

Nun aber solle ich aufstehn, mahnte die Alte. Unten warte schon mein Mozo mit den Pferden. Wenn ich zum Abend zurückkäme, hätte sie alles aufgewaschen; starkduftende Blumen würden überall stehn – da würde man nichts mehr merken von dem bösen Geruch der Tepeguas.

Ich habe seither noch manchen nächtlichen Besuch von Wanderheeren gehabt. Angenehm war er nie – aber doch viel erträglicher, als wenn man zuvor Pulque getrunken und Sonette gemacht hat!

Übrigens müssen die Mitbewohner des Hauses – Insekten aller Art, Ratten, Mäuse, Reptilien – den Geruch der anrückenden Wanderameisen vorher bemerken; jedenfalls geraten sie schon in Aufregung, ehe der Mensch noch etwas sieht oder riecht. Sie versuchen zu entkommen, was nicht so leicht ist, da die Hunninnen das Haus regelrecht umstellen und von vielen Seiten zugleich eindringen.

Die Wanderameisen nehmen auch, sehr gelegentlich, pflanzliche Nahrung: Öl scheinen sie besonders gern zu haben. Dagegen lassen sie Zucker und alles Süße – das doch allen andern Ameisen als Leckerbissen gilt – stets unberührt. Fleischnahrung jeder Art ist ihnen lieb; dabei scheint es, daß sie lebendes Wild vorziehen – wenigstens haben sie mir Schmetterlinge und andere tote Insekten, die ich auf dem Tisch stehn hatte, nie angerührt.

Man hört in den Tropen oft erstaunliche Geschichten über die großen Tiere, Hunde, Pferde, Esel, Leoparden, Affen, die sie angriffen und lebendig auffraßen; aus eigener Erfahrung weiß ich nur von Hühnern und einem mittelgroßen Schwein, das sie verzehrten. Doch halte ich solche Erzählungen für wahrscheinlich, vorausgesetzt, daß das große Tier eingeschlossen oder sonst unfähig war, sich zu bewegen. So scheint mir die oft erzählte Geschichte, daß die Wanderameisen selbst die Boa angriffen und lebendig verzehrten, immerhin möglich: dieses riesige Reptil liegt, wenn es ein starkes Beutetier heruntergewürgt hat, unförmig angeschwollen und vollkommen hilflos im Walde. Die sehr harte Haut der Bestie ist dann bis zum Platzen angespannt und ausgedehnt; es ist also wohl denkbar, daß die Ameisen sich da durcharbeiten können.

Die fast reine Fleischnahrung erklärt auch den widerlichen, Brechreiz erregenden Jauche- und Aasgeruch dieser Ameisen. Ein weiteres Rätsel aber – und eines dazu, wofür mir jede Möglichkeit einer Lösung fehlt – ist es, daß die Männchen und Königinnen der Wanderameisen keineswegs so grauenvoll stinken, vielmehr einen süßen, angenehmen Geruch haben. Dabei ist es doch fraglos, daß sie, ebenso wie die Emsen, sich fast ausschließlich von Fleisch ernähren.

Manche andern Rätsel im Leben der Wanderameisen sind noch zu lösen. Über die Weibchen wissen wir fast garnichts; über die Männchen ist das, was wir wissen, zweifelhaft und sich oft widersprechend. Man hat Männchen auf den Raubzügen der Emsen mitmarschieren sehen; man sieht auch häufig nachts Männchen zum Lichte hinfliegen, woraus man schloß, daß sie – wie manche anderen Insekten – nächtlich das Nest verlassen, um zu schwärmen.

So schwer die Dauernester der Wanderameisen zu finden sind, so leicht findet man ihre nur für kurze Zeit benutzten Lagerplätze, die sich in hohlen Bäumen, unter Baumstümpfen, in Erdhöhlen befinden. Das eigentliche ›Nest‹ – wenn man von einem solchen sprechen kann – besteht dann nicht selten aus den Ameisen selbst. Ihre Fertigkeit zu bauen und dabei sich selbst als Bausteine zu benutzen, ist fabelhaft. Sie spannen beim Marsche einen Bogengang, unter dem die anderen, nun vor dem allzu grellen Lichte geschützt, einherziehen. Sie bauen Leitern, indem eine Emse sich an die andere anhängt, regelrechte lebende Ranken, oft einen Meter lang, die etwa von den untern Zweigen eines Baumes, auf dem sie gerade lagern, zum Boden hinabgehen: auf diesen Leitern klettern dann die anderen auf und nieder. Sie bauen, auf dieselbe Weise, lebende Brücken, um Wasser zu überspannen.

Nicht viel anders ist das Lagernest gebaut, nur daß sie hier, statt zu langen Ketten, zu riesigen Klumpen sich zusammenballen. In der Mitte halten sie ihre eigene Brut, gewiß auch die Königin, sowie die geraubten Vorräte; ringsherum ballen sich, einander fest fassend, die Emsen. Ein solch Klumpennest mag einen Raummeter Ameisen fassen, ungezählte und unzählbare Tiere. Das verblüffende dabei ist, daß in diesen lebenden Bau Kanäle hineinführen, durch die hinein und heraus genau solch lebhafter Verkehr stattfindet, wie in den Gängen eines Erdnestes oder auf Ameisenstraßen; immer andere Jägerinnen schleppen emsig Beute in die lebenden Gänge hinein. Sie verstehn es also, aus sich selbst nicht nur Brücken und Leitern, sondern auch Röhren zu bauen.

Aber noch weiter geht die Möglichkeit dieses scheinbar einfachen Klumpennestes: es kann sich, wie es da ist, fortbewegen. Bei Überschwemmungen wird ihr Nest zur lebenden Arche: die Brut und die Königin in der Mitte, schwimmt der mächtige runde Ball im Wasser, läßt sich, wie Noah, treiben, bis er einen rettenden Berg Ararat findet.

Ameisenseuche

Solange die Brionischen Inseln in der blauen Adria liegen, hat sich gewiß nie ein Mensch um die Ameisen gekümmert, die hier herumkrabbeln. Heuer ist das anders geworden: mein böses Beispiel hat die guten Sitten verdorben; alles fühlt sich verpflichtet, die Sechsbeiner zu beobachten. Es ist eine regelrechte Seuche ausgebrochen.

Die wichtigsten Fragen bleiben unerörtert. Wen kümmert's noch, daß die Hex, der freche Köter, heut morgen die Anneli ins Bein biß? Daß gestern die Pussy die Christel im Tennis schlug? Daß der Papa dem Herbert einen Mordskrach machte, weil er mit der blonden Eintänzerin anbändelte? Daß der Hans seiner Schwester Susi die Kleider stahl und als Mädel im Tanzsaal herumhopste?

Das alles ist unwichtig geworden. Kaum zählt man mehr der Gräfin van der Straaten die Zigarren nach, die sie zum Abendessen raucht. Es ist ein greulicher Zustand.

Und daran sind nur die Ameisen schuld. Bald kommt jemand an, mir zu melden, er habe eine Ameisenstraße gefunden, die dreißig Meter lang sei. Ein Herr bringt mir alle paar Tage neue Photos und ist sehr stolz, daß man auf einigen ein paar Ameisen wirklich erkennen kann. Ein Fräulein bringt eine leere Schneckenschale: die habe sie einer Ameise abgenommen, die sie ins Nest tragen wollte. Was sie damit eigentlich vorhabe? – »Die werden drinnen als Potdechamberls benutzt!« hab ich geantwortet.

Und um meine künstlichen Nester ist ein Geriß! Von morgen an werde ich Eintrittsgeld erheben.


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