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VI. Bauernvölker

 

Wie wenn ein Schwarm Ameisen den mächtigen Haufen des Speltes Gierig errafft, für den Winter besorgt, und verwahret im Obdach. Dunkel geht im Felde der Zug, und den Raub durch die Kräuter Führen auf schmalem Pfad sie daher.

Vergil, Aeneis, IV.

 

Fromme Wünsche

In einigen Stücken bin ich etwas anderer Ansicht als meine lieben Mitmenschen. Die schwärmen für Phonographen, verehren und bewundern den Herrn Thomas Alva Edison, der die Dinger erfunden hat – ganz gewiß werden sie ihm mal ein Denkmal setzen. Von dem Menschen aber, Mann oder Frau, der die Salzgurken erfunden hat, kennen wir nicht einmal den Namen. Ich nun möchte diesem großen Wohltäter der Menschheit ein schönes Denkmal setzen – dem greulichen Kerl aber, der das Grammophon auf mich gehetzt hat, dem möchte ich gern etwas recht Abscheuliches antun. Ich hab mir's überlegt, welche Strafe für diesen abgefeimten Verbrecher, den Herrn Edison, die einzig gerechte sein könnte.

Ich würde ihm erst den Kopf glattrasieren lassen. Dann ihn ausziehen und ihm starke Angelhaken durch beide großen Zehen schlagen: an diesen müßte er an einem Baum aufgehängt werden. Der rasierte Kopf aber sollte in einem Ameisenhaufen hängen, und zwar müßte es ein Nest von Ernteameisen sein, wobei ich der Feuerameise oder der texanischen Bartameise den Vorzug geben würde. Drum herum ließ ich ihm ein Dutzend Phonographen aufstellen, die müßten ihm vorspielen: ›Nearer, my Lord to thee!‹

Es tut mir leid um Herrn Edison; er hat ja so manches Nette erfunden – und noch mehr von andern sich erfinden lassen, das nun unter seinem Namen läuft. Vielleicht würde ich ihn nach einem kleinen Viertelstündchen wieder herunternehmen lassen.

Welch scheußlicher Gedanke, wird Herr Edison sagen! Das ist eine rechte Ausgeburt deutschen Geistes, eine echte German atrocity. Aber er irrt sich. Nur die Angelhaken, als kleinen Vorgeschmack, habe ich hinzugetan – und dann die mildernden Umstände, die mein überzartes deutsches Gemüt beweisen. Der Gedanke aber ist hundert-Prozent-amerikanisch.

Dann auch: bei mir steht's – leider! – nur auf dem Papier. In Herrn Edisons Lande aber – da in Texas, Kalifornien, Neumexiko, Arizona – kannte man solche Strafe wirklich: Störer des Volkswohles und der öffentlichen Ruhe wurden so hingerichtet. (Und da hätte Herr Edison nichts verdient?)

Dabei ist das garnicht einmal so sehr lange her – kaum vierhundert Jährchen. Die Indianer, die ihre Verbrecher von Ameisen hinrichten ließen, waren Anhänger der Abschreckungslehre – genau wie es heute noch die Amerikaner der Südstaaten sind, wenn sie jahrein und jahraus mit großem Trara ihre Lynchjustiz üben: je grotesker die Hinrichtung ist, um so tieferen Eindruck macht sie auf die Nigger.

Für ein Viertelstündchen nur Herrn Edison in der Behandlung der Feuerameise – und ich will meinen Kopf verwetten, daß auf Jahrzehnte hinaus kein Mensch mehr sich an grammophonähnliche Erfindungen herantraut!

Schnitterinnen

Es ist sehr zuwider, mit Bulldoggameisen in nähere Berührung zu kommen, und die Wanderameisen sind auch nicht zu verachten – dennoch sind beide harmlose Geschöpfe mit den Feueremsen oder gar den Bärtigen verglichen. Der Schmerz eines einzigen Stiches ist für Stunden zu spüren, ein paar Stiche genügen, einen Menschen für einige Zeit außer Gefecht zu setzen. Der Schmerz verbreitet sich durch Arme und Beine; er ist lähmend, schafft Schwindel und Ohnmachtsanfälle. Der Stich ruft zweifellos eine starke Vergiftung hervor: die Art des Giftes ist bisher nicht erkannt, doch ist es gewiß nicht Ameisensäure. Von Todesfällen habe ich nie erzählen hören; auch scheint das Gift keinerlei üble Nachwirkungen zu haben, nach einigen Stunden fühlte ich mich wieder ganz wohl. Doch mag eine Menge von Stichen wohl zum Tode führen – jedenfalls ist die Todesstrafe im Aztekenreiche, bei der die Bärtigen als Henker dienten, durchaus beglaubigt.

Doch ist zu sagen, daß diese Ameisen keineswegs, wie die Wanderameisen, dem Menschen tags oder nachts Besuche abstatten – es müßte denn sein, daß er gerade in der Nähe ihrer Städte Kornspeicher errichtet. Sie machen nur von ihrem Giftstachel Gebrauch, wenn man sie selbst oder ihre Stadt angreift – in solchen Fällen freilich beweisen sie aufs schlagendste, daß die von neuzeitigen Strafrechtslehrern so arg verachtete Abschreckungslehre doch auch sehr vorzügliche Erfolge zeitigen kann. Gebranntes Kind scheut das Feuer – und ein von der Feuerameise gebranntes Kind geht sicher in großem Bogen um ihr Nest herum. Man muß schon ein aufopferungsbegeisterter Priester der myrmekologischen Wissenschaft sein oder wenigstens ein solch neugieriger Trottel wie ich, wenn man trotzdem immer wieder die Nase ins Loch hineinsteckt, um zu sehen, wie's drinnen ausschaut.

In früheren Zeiten freilich waren die Dichter und Weisen nicht ganz so neugierig. Bei griechischen, orientalischen, römischen Dichtern finden wir sehr viele kluge Bemerkungen über Ameisen; meist waren es die Ernteameisen, mit denen sie sich beschäftigten. Aber alle beobachteten die Tiere fast nur außerhalb ihres Nestes, der Gedanke, auch drinnen einmal nachzuschauen, scheint ihnen nur selten gekommen zu sein. So kommt es, daß König Salomon ausruft:

›Gehe hin zur Ameise, du Fauler, siehe ihre Weise an und lerne! Ob sie wohl keine Fürsten, noch Hauptmann noch Herren hat, bereitet sie doch ihr Brot im Sommer und sammelt ihre Speise in der Ernte.‹

Hätte der König von seinen Sklaven ein Nest ausgraben lassen, so hätte er gefunden, daß das Ameisenvolk allerdings weder Hauptmann noch Herren noch Fürsten hatte, wohl aber eine Königin, so edel wie die ihm befreundete von Saba. Trotzdem traf der königliche Weise das Rechte: denn diese Königin von Emsenland gibt keine Befehle, schickt niemanden aus, Körner zu sammeln zur Erntezeit. Die Mutter-Königin ist nur das lebende Symbol für den Staatsgedanken des Ameisenvolkes: in jeder einzelnen Bürgerin lebt der Geist, für die Gemeinschaft zu arbeiten, keine benötigt dazu einen Befehl von Herren und Hauptleuten.

Alle Ernteameisen gehören der dritten großen Gruppe der Ameisenheit an: den Knotenameisen. Während die Stachelameisen und Wanderameisen fast ausschließlich Fleischfresser sind, also von der Jagd sich ernähren, sind die Ernteameisen zur Pflanzenkost übergegangen, ohne darum übrigens einen guten Braten zu verschmähen, den sie gerne mitnehmen, wo sie ihn nur erwischen können. Dieser Übergang zeigt eine höhere Entwicklung, bedingt durch den Kampf ums Dasein: es ist keine Frage, daß sich die großen Emsenvölker leichter erhalten können, wenn sie nicht auf Fleischnahrung allein angewiesen sind, sondern zugleich auch pflanzliche Kost nehmen. Von Natur aus brachten sie ja die dazu notwendigen Werkzeuge mit: ihre kräftigen Oberkiefer, die sich ebensogut dazu eignen, die Jagdbeute zu töten und zu zerlegen, wie dazu, Körner aufzuknacken und die Samen selbst zu zerkleinern.

Die Völker der meisten Körnersammlerinnen sind zahlreich; die Folge sind sehr große Städte. Man hat solche gefunden, die einen Umfang von über zehn Meter im Durchmesser, eine Tiefe von über zwei Meter hatten, dazu noch einen halben Meter sich über dem Erdboden erhoben. Die tiefliegenden Kornkammern im Neste erreichen eine Größe bis zu fünfzehn Zentimeter im Durchmesser.

Die Ernteameisen sind Bewohnerinnen aller fünf Weltteile; sie sind überall in Einzelheiten voneinander verschieden, aber sehr ähnlich in großen Zügen. Sie sind die besten Landstraßenbauer; sie sind es auch, die zuweilen ihr Nest regelrecht bepflastern. In langen Zügen ziehen sie auf ihren stets offenen Heerstraßen, auf denen hin und zurück der regste Verkehr herrscht. Einige Arten benutzen auch die eine Straße, um zu den Ernteplätzen zu gelangen und eine andere, um von diesen zur Stadt zurückzukehren. Sie sammeln nicht nur die Samenkörner, die am Boden liegen; sie sind auch regelrechte Schnitterinnen, die auf die Halme steigen und die reifen Samen, oft ganze Ähren, abschneiden. Fast jeder Samen ist ihnen lieb – wie sie auch jedes Insekt, das ihnen auf ihren Landstraßen oder bei den Erntefeldern begegnet, töten und als willkommene Beute mitnehmen.

Außerordentlich ausgebildet ist die Arbeitsteilung – so sind die Arbeiterinnen in manchen Formen da: jede übernimmt die Arbeit, die sich für sie am besten schickt. Sowohl das Sammeln wie das Aufbewahren der Samenkörner erfordert eine vielseitige Tätigkeit. Da sind Tiere, die nur die Samen von den Halmen abschneiden: Schnitterinnen. Andere wieder tragen die Samenkörner nach Hause: Lastträgerinnen. Sie geben ihre Last gleich hinter dem Stadttore ab, dort wird sie von anderen Emsen in Empfang genommen, die die Körner von ihrer Umhüllung befreien – die Hülsen werden sofort wieder aus dem Neste hinausgetragen und auf den manchmal sehr großen Abfallhaufen in der Nähe des Nestes geworfen. Stets kann man beobachten, daß die Lastemsen auch manchmal Dinge heranbringen, die in keiner Weise weder zum Essen noch zu einem anderen Zwecke geeignet sind – diese werden am Tore abgegeben, nach kürzester Frist aber wieder von andern hinausgeschafft. Das erweckt bei jedem Laien den Eindruck, als ob da drinnen eine weise Aufpaßtante säße, die bestimmt, was man gebrauchen kann und was nicht. Nun, sehr viel anders ist es auch nicht. Die Emsen, die am Stadttore alles in Empfang nehmen, wissen ganz genau, was dienlich ist; sie sind zweifellos gescheiter als die Lastträgerinnen. Ich gab diesen oft die unmöglichsten Dinge, Streichhölzer, Glasperlen, leere Schneckenhäuschen: die Gescheiteren ließen sie liegen oder schafften sie von der Straße fort, die Dummchen schleppten sie ins Nest. Dort freilich wurden sie stets zurückgewiesen. Übrigens tragen die Emsen auch häufig noch grüne Samen, kleine Blüten, Blätter von Rosen und andern Blumen in ihr Nest, die sie nach einigen Tagen wieder hinauswerfen. Zum Futter dienen diese also nicht – erfüllen aber bestimmt einen besonderen Zweck, der uns freilich noch unbekannt ist. Wieder andere Emsen schälen die Samenkörner aus ihren Hülsen, noch andere tragen die leeren Hülsen auf den Kehrichthaufen. Kleinere Tiere tragen die Körner in die Speicher, ganz kleine ordnen sie ein. Daß außerdem noch andere als Ammen, Kinderfrauen und Dienerinnen die Brut und die Königin füttern und pflegen und waschen und reinigen, kurz alle Hausarbeit übernehmen, ist selbstverständlich.

Die Kornkammern – oft hundert und mehr – sind tief unten an möglichst trockenen Stellen angelegt; dennoch kommt es oft vor, daß die Samen feucht werden und zu keimen beginnen. Die Emsen beißen dann die jungen Keime ab, bringen die Körner hinaus und legen sie zum Trocknen in die Sonne. Wenn sie aber von ihren Vorräten essen wollen, so befeuchten sie selbst die Samenkörner, um sie künstlich zum Keimen zu bringen, nagen die Keime ab und trocknen die Samen wieder: dann erst werden diese verzehrt. Sicherlich werden die Ameisen nicht wissen, daß sich beim Keimungsprozeß der ›Stärkegehalt der Samen in Zucker verwandelt‹ und daß ›das Austrocknen genau dem Darrprozeß bei der Malzbereitung entspricht‹ – aber sie wissen gut, daß die so behandelten Körner süßer schmecken, und daß sie sich viel leichter schälen lassen.

Bäckerinnen

Brioni, die Insel, auf der ich dies schreibe, ist voll von Ernteameisen; wenn ich vom Schreibtisch aufstehe, habe ich nur wenige Minuten zu ihren Städten. Durch den Tierpark – da werfe ich den Affen und Bären ein paar Apfelsinen zu. Aber den großen weißen Kakadu nehme ich heraus aus seinem Käfig; der freut sich, wenn er mitdarf, sitzt auf meiner Schulter und erzählt mir Geschichten. Zu dem großen Springgarten gehn wir; wenn nicht gerade ein paar Reiter über die Wälle und Gräben setzen, ist er voll von Hasen und Rehen, von Fasanen und den hübschen kleinen Axishirschen. Meine Tiere freilich, die Ameisen, scheren sich nicht um ein paar springende Pferde, flüchten nicht in den Wald, gehn ruhig ihrer gewohnten Arbeit nach.

Der Herzog von Civitella hat unter sich die Ställe und die Pferde der Insel. Erst hat er mich für verrückt gehalten, wenn er mich da, stundenlang auf der Wiese hockend, die häßlichen Sechsbeiner betrachten sah, während er mit hübschen Frauen über die Hürden flitzte. Nun aber steigt er herab von seinem Gaul, wenn er mich sieht. Über die Steinmauer springt er auch nicht mehr und läßt keinen drüber springen – denn gerade da wohnt ein großes Emsenvolk, dem ich Weizen und Reis bringe.

»Don Peppino,« sag ich zu ihm, »nun will ich Ihnen was Neues zeigen. Diese lieben Tierchen können nicht nur Getreide ernten, sie können auch daraus Brötchen backen.«

Der lange Herzog läßt seinen Gaul grasen, legt sich hin und starrt auf den Boden. »Sehen Sie den Trockenplatz, Don Peppino?« zeig ich. »Und nun passen Sie auf, wie sie ihre Brötchen holen, die die Sonne knusprig gebacken hat.«

Civitella nimmt eines, kostet es. »Ein klein wenig bitter«, meint er.

Ich nicke. »Da haben Sie recht, Herzog! Aber vermutlich sind sie noch nicht fertig, die Brötchen! Werden im Neste selbst wieder versüßt.«

Nie im Leben hat Don Peppino etwas anders getan, als sich mit Pferden beschäftigt – höchstens, so zwischendurch, auch mit kleinen Mädchen. Er schüttelt den Kopf, seufzt: »Daß ich mich um Ameisen bekümmre! Das ist mir auch nicht an der Wiege gesungen worden.«

Die Samenkörner haben gekeimt, sind dann geschält worden. Nun aber werden sie zerkleinert, wird mit Hilfe von Speichel ein Teig daraus geknetet. Rosabraune Brötchen werden daraus geformt, wie ein Pfefferkorn so groß; diese werden auf den Trockenplatz in der Sonne gebracht: das ist der Backofen der kleinen Bäckerinnen.

 

Daß die Körnersammlerinnen auch gerne da ernten, wo die Ernte schon einem andern gehört, ist nicht verwunderlich. Die Ameisenheit hat straffe Gebote und befolgt sie viel genauer, als die Christenheit die zehn Gebote Mosis. Freilich ist das Emsengesetz nicht geschrieben – aber eine jede einzelne Bürgerin jedes Volkes fühlt und lebt dieses Gesetz in jedem Augenblick ihres Lebens. Es lautet: »Tue alles, was du tust, für das Wohl deines Volkes – tue nichts gegen deines Volkes Wohl.« Wenn also ein Ernteameisenvolk die Vorratskammern eines andern Volkes mit Gewalt plündert oder aus den Kornspeichern der Menschen Körner stiehlt, so ist das im ameislichen Sinne nicht Raub und nicht Diebstahl – es ist kein Verbrechen, sondern eine gute Tat. Wir Menschen sehen das ja nicht anders an, wenn wir's ebenso machen, wenn wir den Bienen ihren Honig, den Ameisen ihre Körner rauben.

Denn auch das tun wir – ja, wir haben gar die knifflige Frage, wem eigentlich das Getreide in den Ameisennestern gehört, gesetzlich geregelt. Daß es den Eigentümern, den Emsen, nicht gehört, ist uns ja von vornherein klar – betrachten wir Menschen doch alles, was auf der Erde ist, als unser ausschließliches Eigentum. Streiten können wir also nur darum, ob diesem oder jenem Menschen die Kornvorräte der Emsen gehören.

So entscheidet das jüdische Gesetz diese Frage:

 

»Die Körner in den Ameisennestern, die sich innerhalb des stehenden Getreides vorfinden, gehören dem Eigentümer (des Feldes). Befinden sie (die Ameisennester) sich aber hinter den Schnittern, so gehört das Obere (d.h. das oben am Eingang des Nestes liegende Korn) den Armen; das Untere (in den Kammern befindliche Getreide) dem Eigentümer. Rabbi Meir dagegen sagt: ›Alles gehört den Armen, denn zweifelhafte Nachlese gilt als Nachlese.‹«

(Mischna Peah, Perek IV, Minbnah II.)

 

Um das verstehn zu können, muß man wissen, daß das mosaische Gesetz gebietet, daß drei Dinge bei jeder Ernte nicht dem Feldbesitzer, sondern den Armen gehören: die Nachlese (also das, was die Schnitter fallen lassen), das Vergessene (das sind die Garben, die versehentlich liegenbleiben) und eine Ecke des Feldes, die man ungeschnitten für die Armen stehnlassen mußte. Die Körner nun, die oben beim Eingang des Ameisennestes liegen, haben die Schnitter bei dem Einbringen der Garben fallen lassen – das ist also regelrechte Nachlese, die stets den Armen gehört. Das Getreide aber, das sich in den Kornkammern unten im Neste befindet, kann schon vor der Schnitterarbeit von den Emsen eingebracht worden sein. Ist also das Getreide noch nicht geschnitten, so gehört dies Korn dem Eigentümer, da ja bis dahin von einer Nachlese noch nicht die Rede sein kann. Ist aber das Feld gemäht (sind die Nester ›hinter der Reihe der Schnitter‹), so gehöre das Obere zweifellos den Armen, das Untere dem Eigentümer. Dies letztere wird nun von einigen Gesetzesauslegern bestritten; so sagt Rabbi Meir (der die Ansicht vertritt, daß ›zweifelhafte‹ Nachlese zugunsten der Armen stets als regelrechte Nachlese betrachtet werden soll), daß auch das Untere den Armen gehöre, weil es möglich sei, daß einige Körner in den Kornkammern erst nach dem Schneiden des Getreides von den Ameisen eingebracht worden seien.

Na, allzuviel Freude werden weder die Armen noch der Eigentümer des Feldes von dieser Gesetzbestimmung gehabt und sich höchstens theoretisch darüber gestritten haben. Es ist garnicht so leicht, so ein Nest auszugraben, um die Kornkammern zu finden; die paar Handvoll Weizenkörner lohnen dazu die Mühe nicht. Die Ernteemsen werden also, trotz allen höchst juristisch-gescheiten Menschenwitzes, wem ihr Schatz wirklich gehöre, sich stets ruhig ihres Besitzes erfreut haben.

Bartjungfrauen

Immerhin ist es interessant, bis zu welchem Grade die Ernteameisen gerade die Weisen der Mittelmeerländer beschäftigt haben. Es ist daher auffallend, daß den jüdischen, christlichen, arabischen Propheten ein äußerliches Merkmal entging, das für die am Rande der Wüsten hausenden Ameisen ebenso bezeichnend ist, wie für diese Propheten selber. ›Beim Barte des Propheten‹ schwören heute noch die frommen Muselmanen – wenn die Ernteameisen die Gewohnheit des Schwörens hätten, möchten sie wohl dieselbe Formel gebrauchen. Denn sie haben – richtige Bärte.

Dem Mann ist der Bart vielleicht eine schöne Zierde – von irgendeinem Nutzen ist er ihm sicherlich nicht. Anders bei den Wüstentöchtern vom Ameisenstamme: ihr Borstenbart ist ihnen von ganz entschiedenem Vorteil. Von ihren Erntezügen heimkehrend, sind die Arbeiterinnen bedeckt mit Sand und Staub; ihre erste Sorge ist also, sich selbst und die Gefährtinnen zu reinigen. Sie tun das mit der Bürste, die sie an den Vorderbeinen haben; aber nun läßt es sich nicht vermeiden, daß schließlich die Bürste selbst sich voll Schmutz und Staub setzt und ihrerseits einer Reinigung bedarf. Sie ziehen diese dann – ganz ähnlich wie wir unsere Kämme reinigen – durch den Bart. Damit aber ist die Nützlichkeit dieses borstigen Bartes nicht erschöpft. Die Städte der Ernteameisen sind in Sand gebaut, jedes einzelne Körnchen Sandes muß also aus der Erde herausgeschafft werden. Mit dem Munde könnten sie nur wenige Körnchen tragen – ein Sack, in den sie gleich eine Menge Sandes werfen könnten, würde ihnen also treffliche Dienste leisten. Nun, zu solchem Sacke dienen die Borsten ihres Bartes. Sie schließen sich unten zusammen, halten dicht genug fest: so trägt jede Emse eine Tasche bei sich, die sie bei der Bauarbeit mit Sand füllen kann und die ihr manch langen Weg erspart.

Säerinnen

Die Ameisen, ohne Unterschied, sind undankbare Geschöpfe. Ich habe einmal einen Klumpen Feuerameisen aus dem Wasser geholt – die machen es nämlich gerade wie die Nomadenemsen bei Überschwemmungen, sie ballen sich in mächtigen Klumpen zusammen und lassen sich treiben. Zum Danke für die Rettung haben sie mich elend zerstochen. Und meine warme Liebe zu den mexikanischen und texanischen Bartameisen haben mir die auch nur mit wilden Stichen gelohnt. Dennoch will ich Böses mit Gutem vergelten und die Ameisen gegen die Gelehrten unserer Tage in Schutz nehmen, die ihre Beschreibungen dadurch zu würzen glauben, daß sie die Sechsbeiner so schlecht wie nur möglich machen und sie, wo sich nur eine Gelegenheit dazu gibt, als äußerst dumm und blöd hinstellen.

Eine solche Gelegenheit finden sie nun bei der texanischen Bartameise. Von ihr hat in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts ein Forscher behauptet, daß sie nicht nur ernte, sondern auch säe, und zwar rings um ihr Nest herum, das sogenannte Ameisengras (Aristida), dessen Samenkörner sie besonders schätze. Er schloß dies daraus, daß in der Tat auf den Höfen ihrer Nester, die allgemein von den Ernteameisen völlig kahl geschoren werden, häufig dies Gras – und nur dieses – wächst. Seine Beobachtung bekam dadurch Bedeutung, daß kein geringerer als Darwin sie aufnahm und veröffentlichte.

Das ist nun, meint die exakte Naturwissenschaft von heute, weiter nichts als ein frommes Märchen, ein fauler Witz, über den jeder texanische Schuljunge lache. Die Sache erklärt sich so, sagt die Exakte, daß Aristidasamen im Nest feucht werden und nun keimen, und daß dies Keimen schon zu weit gegangen sei, um eine Trockenlegung zu lohnen. Die so im Neste unbrauchbar gewordenen Samenkörner würfen die Emsen auf den Abfallhaufen – dort schlügen sie eben Wurzel. Als weitere Gründe gegen die Annahme, daß die Ameisen selbst den Samen säen, wird noch mit großem Scharfsinn folgendes angeführt: erstens, daß manche Nester der Bärtigen kein Aristidabeet zeigen. Zweitens, daß auch fern von allen Ameisennestern Aristida zuweilen in dichten Massen wächst. Drittens, daß die Emsen zuweilen bis zu dreißig Meter weit von jedem Felde ab, auf Landstraßen usw., ihr Nest bauen. Viertens, daß der Aristidagarten um das Nest durchaus nicht genügen würde, um das zahlreiche Volk der Bärtigen mit Nahrung zu versorgen – sie müßten also dennoch lange Straßen bauen: das Vorhandensein solcher Straßen allein genüge, um das Märchen von der ›säenden‹ Ameise ad absurdum zu führen.

Diese schlagende Beweisführung wird nun von einem Professor stets dem andern nachgeschrieben, jeder ist froh, daß wieder einmal das Anzeichen einer besonderen Intelligenz der Ameisen zerstört ist.

Gemach, meine Herren Professoren, wir wollen uns diese Gründe einmal etwas näher ansehen. Zunächst: die ›Exakte Wissenschaft‹ hat von jeher und in jeder Beziehung es sich angelegen sein lassen, Märchen und Legenden, die von Laienbeobachtern erzählt wurden, zu zerstören. Sehr häufig hat sich dann später herausgestellt, daß die Laien, die Reisenden, Dichter, Naturliebhaber, doch recht hatten! Das ist ganz besonders in der Ameisenforschung der Fall gewesen – und hier wieder gerade bei den Ernteameisen. Seitdem es eine wissenschaftliche Ameisenforschung gibt, also etwa seit 1750, haben die Gelehrten sich über alles lustig gemacht, was die alten Dichter, die Hesiod, Aesop, Plutarch, die Aelian, Plautus, Horaz, die Vergil, Ovid, Plinius und viele andere über die Gewohnheiten der Emsen erzählten. Alles sei eitel Schwindel und Humbug, sei nur dichterische Phantasie! Ganz besonders sei es ein blühendes Märchen, daß Ameisen zur Ernte auszögen und das Getreide in Kornspeichern aufbewahrten, es vor dem Keimen schützten und in der Sonne trockneten. Nun: die Forschung der letzten Jahrzehnte hat dann klipp und klar bewiesen, daß jede einzelne Beobachtung der alten Märchenerzähler durchaus richtig war!

Doch zurück zu den bärtigen Texanerinnen! Glauben Sie, meine Herren Professoren, denn gar soviel gegen die Intelligenz der Ameisen gesagt zu haben, wenn Sie gerade dieser Art die Voraussicht, daß ›wer sät auch ernten kann‹, absprechen, während Sie doch an andern Stellen selbst erzählen, daß andere Arten eine ähnliche Voraussicht sehr wohl haben?! Wenn Sie wenige Seiten vorher berichten, daß die Gärtnerameisen in ihren hängenden Ampeln Pflanzen säen, deren Wurzelwerk den runden, erdenen Hängegärten erst die nötige Festigkeit verleihe? Wenn Sie einige Seiten später erzählen, daß eine ganze Reihe von Ameisen Pilze züchte, um sich von ihnen zu ernähren? Das alles leugnen Sie nicht – nun, warum denn nicht ehrlich zugeben, daß ein solches Handeln genau soviel bewußte oder unbewußte Voraussicht verlangt, wie das ›Säen, um zu ernten‹ der Aristidazüchterinnen?!

Was nun aber die vier Gründe anbetrifft, die gegen das Säen unserer Ackerbäuerinnen sprechen sollen, so muß ich gestehn, daß ich eine fadenscheinigere Beweisführung selten gesehen habe. Zugegeben, daß manche Samen des Ameisengrases rings um das Nest herum von selber keimen – kein Mensch würde es anders erwartet haben und gerade dieser Vorgang mag zu dem Säen der Ameisen die erste Veranlassung gegeben haben. Warum aber schneiden dann die Emsen diese Gräser nicht ab – während sie doch sonst in weitem Umkreise um das Nest alles Wachstum vernichten? Zugegeben, daß Aristidagras auch sonst gelegentlich dicht wächst – warum soll es nicht? Zugegeben, daß die Ameisen manchmal auch auf Landstraßen weitab vom Felde bauen – besonders, wenn eine Farm in der Nähe ist, wo sie leicht Körner finden können – was soll das? Zugegeben, daß manche Städte der Bärtigen keine Aristidabestände zeigen – es ist eine in der Ameisenheit sich hundertmal wiederholende Tatsache, daß ein Volk eine Gewohnheit hat, die ein anderes Volk derselben Art nicht mehr hat oder noch nicht erworben hat. Zugegeben endlich, daß der Vorrat, den die beim Nest befindlichen Ameisengrasbestände liefern, nicht entfernt hinreichen würde, das Volk zu speisen – reichen etwa die in der Nähe unserer menschlichen Großstädte befindlichen Getreidefelder hin, um die Bevölkerung zu ernähren? Bauen nicht auch wir Menschen nach allen Seiten Straßen hin zu den Gegenden, woher wir das Korn beziehen? Holen wir nicht über Land und Wasser aus den entferntesten Gegenden der Erde unsere Nahrung zusammen? Und ist das nun etwa ein Beweis dafür, daß die Getreidefelder in der Nähe der großen Städte lediglich dem Zufall ihr Dasein verdanken? Und wie ist zu erklären, daß bei den Nestern der Bartjungfrauen nur Aristidagras, nie aber eine andere Pflanze wächst?

Nein, meine Herren Professoren, so zerstören Sie keine ›Legenden‹! Damit mögen Sie bei Schuljungen Erfolg haben – ich muß gestehn, daß ich auf die Autorität von Schuljungen (und gar texanischen!) herzlich wenig Gewicht lege. Die Schwindelgeschichten der Aesop, Salomon, Vergil erwiesen sich als lautere Wahrheiten, selbst der vertrotteltste Gelehrte wagt es heute nicht mehr, das Märchen der Ernteameise zu leugnen.

Wenn die Wissenschaft all das, was Laien, was Reisende, Künstler, Dichter der Natur ablauschten und absahen, mit fast gehässiger Skepsis aufnimmt – mag sie: es ist ihr gutes Recht. Aber sie darf uns Künstlern dann auch nicht verübeln, wenn wir unsererseits das, was uns die Gelehrten erzählen, auch nur als das nehmen, was es ist: stümperhafte Menschenarbeit, der dabei die Gabe des Künstlers, etwas intuitiv zu erfassen – von ganz seltenen Fällen abgesehen – völlig fehlt. Sie sollte wirklich einmal anfangen, ein wenig bescheidener zu werden, die Dame Wissenschaft.

Ich aber will an das schöne Märchen von der säenden Ameise glauben. Und ich bin überzeugt, daß die zukünftige Forschung seine Wahrheit genau so bestätigen wird, wie die Ameisenlegenden der alten Dichter.

Großer Heilerfolg, erzielt durch weisen Rat

Nun stehe ich auf dieser Insel in starkem Geruch der Weisheit.

So kam das. Vor einiger Zeit kam eine alte holländische Dame zu mir, die um meinen Rat bat. Der Kurarzt hatte mich schon gewarnt; sie lief zu jedem, von dem sie annahm, daß er etwas mit Gelehrsamkeit zu tun habe; klagte ihr Leid und schwatzte stundenlang.

Also die alte recht kurzsichtige Dame kam; sagte, wie sehr sie seit vielen Jahren unter der bösen Migräne litte. Tag und Nacht, und ohne Unterbrechung – und ob ich denn garnichts wisse?

Also, um sie recht bald los zu werden, sagte ich, daß ich ein sicheres Mittel kenne. Sie brauche nur hinauszugehn in den Wald, dreimal am Tage, sich einen recht schönen Ameisenhaufen zu suchen und davor niederzuknien. Dann müsse sie mit geöffneten Handflächen leise dagegen schlagen und nun die mit Ameisensäure geschwängerte Luft tief in Mund und Nase einatmen: dieser erfrischende Duft würde ihr im Augenblick Erleichterung verschaffen, dann aber auf die Dauer ihre Migräne vollends vertreiben.

Die alte Dame sah mich etwas zweifelhaft an, bedankte sich und ging.

Das war vor etwa drei Wochen. Gestern nun kam sie wieder in mein Arbeitszimmer mit einem mächtigen Busch von weißen Rosen bewaffnet, den sie mir als Zeichen ihrer Dankbarkeit überreichte. Mein Rat habe Wunder getan: der herrlich frische Geruch habe ihr gleich das erstemal Linderung gebracht; dann sei es von Tag zu Tag besser geworden. Nun empfinde sie nicht den geringsten Kopfschmerz mehr und sei überzeugt, daß sie ein für alle mal ihre Migräneanfälle los sei.

Ich starrte sie an – was in aller Welt hatte die Frau nur gemacht? Denn auf dieser Insel gibt es zwar viele tausend Ameisennester – aber keinen einzigen Ameisen haufen. Alle Ameisen hier sind Schnitterinnen, die in glatten Boden ihre Löcher graben und ringsherum alle Pflanzen und Gräser abschneiden. Ich fragte sie also, wo sie denn ihren Heilhaufen gefunden habe? Sie habe lange suchen müssen, sagte sie, dann aber habe sie doch einen schönen Haufen gefunden. Sie beschrieb mir die Stelle genau; ich machte mich sogleich auf, um mir diesen sonderbaren Haufen anzusehen.

Ich fand ihn auch; es war ein richtiger Bau deutscher Waldameisen, die durch einen Zufall hierher verschlagen sein mochten. Ich kniete gleich nieder, um einen Teil des Volkes mit nach Hause zu nehmen, das ich gerade gut gebrauchen konnte.

Aber – ich fand nicht eine einzige. Ich untersuchte den Bau näher – es war gewiß, daß er schon seit über einem Jahre verlassen war. Allerdings roch er, sehr stark sogar. Freilich nicht nach erfrischender Ameisensäure. Wohl aber nach einer toten, halbverwesten Ratte, die neben ihm lag.

Was machte es? Ameisensäureduft oder Rattenaasgestank – wenn's nur half!

Ich aber gelte auf dieser Insel sowie in Alkmaar in Holland als der beste Migränedoktor der Welt.


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