Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel

Prinz Percy saß in seinem Studierzimmer. Es war schlicht und so klein, daß er kaum Platz hatte, sich umzudrehen. Er befand sich in eifriger Lektüre über einem neuen wissenschaftlichen Werk, das sein höchstes Interesse erregte.

Die grünen Friesvorhänge waren weit an ihren Bronzeringen zurückgerollt und gewährten den warmen Frühlingssonnenstrahlen Einlaß. Sie flimmerten auch über das dunkelblonde Haar des tiefgeneigten Hauptes, über die hohe, edel gewölbte Stirn, über das blasse, geistvolle Antlitz. Nur seine Augen konnten sie noch nicht schauen, die versteckten sich hinter den dunklen Wimpern, die sich gleich langen Schatten auf die Wangen senkten.

An der Tür klopft es, und der Prinz blickt auf. Große, stahlblaue Augen mit dem schwarzen Rand, der die Iris begrenzt, wenden sich dem Eintretenden zu.

»Ah, Sie selber, lieber Doktor! Was bringen Sie?«

Er erhebt sich und tritt dem jungen Assistenzarzt entgegen, der mit respektvoller Verneigung in der Nähe der Tür verharrt.

»Die Briefschaften, Hoheit.«

»Bereits durchgesehen?«

»Befehl, Hoheit.«

»Etwas Wichtiges darunter? Bittschriften?«

»Leider, Hoheit.«

»Warum ›leider‹?«

»Die Klinik ist bis unter das Dach besetzt, wir können niemand, absolut niemand mehr aufnehmen.«

»So, so. Wer wünscht unsre Hilfe, lieber Doktor?«

»Ein Fabrikinspektor, dem beim Platzen eines Ventils der Kopf verletzt wurde; es scheint eine Verletzung des Trommelfells vorzuliegen.«

»Ist der Mann völlig mittellos?«

»Er ist nicht glänzend gestellt, aber auch nicht direkt arm. Außerdem ist es eine Gemeinheit des Fabrikbesitzers, den Mann, für den er die ärztliche Behandlung zu bezahlen hat, an die Adresse Eurer Hoheit zu verweisen!«

»Er versucht's. Kennen Sie den Namen des Besitzers?«

»Befehl, königliche Hoheit.«

»Ist er in der Lage, für seinen Inspektor zahlen zu können?«

»Fraglos; er ist als einer der reichsten Großindustriellen bekannt.«

»Ah!« – Die Brauen des Prinzen zogen sich unmutig zusammen. »Haben Sie die Güte, das Gesuch abzulehnen. Und was weiter? Wer meldet sich noch?«

»Eine Sängerin namens Marga Daja.«

»Marga Daja?« Der königliche Arzt blickte nachdenklich geradeaus und wiederholte langsam, als müßte er sich auf etwas besinnen: »Marga Daja? Woher?«

»Ehemalige Opernsängerin in der Residenz, später an dem Stadttheater zu X., das seine Verbindlichkeiten zu der Dame löste, weil ihre Krankheit sie leistungsunfähig machte.«

»Ist sie bedürftig?«

»In hohem Grade, direkt mittellos. Sie sendet eine Empfehlung des Theater-Armenarztes sowie den Kündigungsbrief der Direktion mit.«

»Marga Daja?« Prinz Percy schritt nachdenklich in dem schmalen Raum auf und nieder. »Wo habe ich den Namen bereits gehört? Er klingt mir so sehr bekannt ... Marga Daja ... Welches Leiden plagt sie?«

»Ein Ohrenleiden. Die Dame war vollständig taub, eine Zeitlang in Behandlung des Professors X....«

»Des Professors! – Richtig! – Marga Daja!« – Der Prinz schaute jählings empor, lebhaftes Interesse sprach aus seinem Blick. »Ganz recht, jetzt weiß ich, woher ich den Namen kenne, ich sah das junge Mädchen dermalen in der Klinik! – Große, schlanke Gestalt, – dunkle Augen, hm, schade für die Bühne. Und sie ist jetzt völlig verarmt?«

»Allerdings, Hoheit, da sie nicht mehr singen kann, ist sie außerstande, sich ihr Brot zu verdienen.«

»Traurig, sehr traurig. Und wir können niemand, wahrlich niemand mehr aufnehmen?«

»Drei Krankenwärter schlafen bereits in einer Bodenkammer zusammen.«

»Fatal. Es ist sehr hart, die Arme abzuweisen. Lassen Sie mich überlegen ..., ja, das wäre ein Ausweg. Bitte, schreiben Sie der Dame, sie solle sich bei dem Professor Doorn in Wien anmelden, – die Kosten ihrer dortigen Aufnahme und Behandlung sollten von uns bestritten werden.«

»Befehl, Hoheit.«

– – – – Zwei Tage waren vergangen. Wieder betrat der Assistenzarzt das Studierzimmer des Prinzen. Er trug einen Brief in der Hand.

»Schon wieder Anmeldungen?« seufzte der hohe Herr bei seinem Anblick.

»Halten zu Gnaden, Hoheit – ein Antwortschreiben der Sängerin Marga Daja.«

»Sie bedankt sich? – Schon gut – schon gut.«

»Verzeihung, Hoheit, sie kann keinen Gebrauch von der Gnade Eurer Hoheit machen.«

»Wie?« der Prinz schnellte herum. »Inwiefern das?«

»Die Dame befindet sich bereits hier und ist so sehr leidend, daß sie eine weitere Reise momentan nicht antreten kann. Auch bekennt sie ehrlich, daß sie der festen Überzeugung lebe, nur in unsrer Klinik, durch die Meisterschaft Eurer Hoheit hergestellt zu werden. Sie bittet um die hohe Vergünstigung, warten zu dürfen, bis ein Zimmer der Anstalt frei wird.«

Prinz Percy nagte an der Lippe, sein Haupt neigte sich zur Brust.

»Was soll ich antworten, Hoheit? – Der Brief ist in solch herzbewegendem Ton geschrieben –,« der Arzt reichte ihn mit fürbittendem Blick dar –, »und wenn Hoheit gnädigst gestatten, kann ich eine Garçonwohnung in der Nähe beziehen und dem Fräulein mein Zimmer abtreten!« Percy schob den Brief zurück und erhob sich. Er atmete tief auf und reichte dem Sprecher die Hand, »Ich danke Ihnen herzlich, lieber Hobrecht, halte es aber für sehr riskiert, Sie auszuquartieren. Wir haben Schwerkranke, die jeden Augenblick zu einer dringenden und gefährlichen Operation zwingen können, – einen der Herren Assistenzärzte muß ich unbedingt zu jeder Stunde erreichen können. Ich werde ihr mein Eßzimmer einräumen und während der Zeit ihrer Anwesenheit in dem Salon speisen.«

»Hoheit!«

Percy wehrte heftig in der ihm eigenen, etwas nervösen Art ab: »Es wird sich nur um Tage handeln, da ich beabsichtigte, eine kleine Erholungsreise zu unternehmen.«

Die Tür schloß sich, und der Prinz trat an das Fenster.

Ein gewisses Etwas treibt ihn fort von hier, ein Unbehagen, das er empfindet, wenn er an Marga Daja denkt.

Er kann die Künstlerinnen vom Theater nun einmal nicht leiden. Er hat nie eine hohe Meinung von ihnen gehabt und hat sie auch von Marga Daja nicht. Ihr Äußeres freilich ist so ganz und gar anders wie das ihrer Kolleginnen, aber gerade das birgt eine doppelte Gefahr. – Wer sagt ihm, ob es nicht lediglich eine Maske ist, die Koketterie und Berechnung ihr aufgedrückt?

Warum verlangt die Künstlerin, gerade von ihm behandelt zu werden? Träumt sie irgendeinen kleinen Roman, zu dessen Helden Prinz Percy ausersehen ist? Dann gilt solche Berechnung lediglich seinem Namen und seiner Stellung? Denn persönlich ist er den Frauen stets langweilig und uninteressant gewesen. – Die Stirn des Denkenden furcht sich. Nichts ist ihm so verhaßt wie ein derartiger Gedanke.

Dennoch ordnete er mit einer außergewöhnlichen Sorgfalt die Umräumung der Zimmer an.

Der Prinz stand zufällig in seinem Salon am Fenster, das den Blick auf die Straße gewährte, als eine Droschke zweiter Klasse vorfuhr.

Es war die zwölfte Stunde, die Zeit, die Fräulein Daja zum Eintreffen bestimmt war.

Sollte sie es sein?

Undenkbar! Dieses kleine Köfferchen ist doch nicht das Gepäck einer Sängerin?

Er neigt sich vor und blickt hinab. Eine große, schlanke Gestalt in schwarzem Kleid steigt aus, ein grober, schwarzer Strohhut, in der Form eines sehr schlichten Gartenhutes, verhüllt mit breitem Rand das Haupt.

Sie reicht dem Kutscher das Fahrgeld: sie nimmt die Tasche, Plaidrolle und Schirm. Welch stolze, majestätische Figur, welch schöner Gang! Er ist gut einstudiert und sieht beinahe natürlich aus, aber es ist doch nur Bühnenschick.

Also immer noch im schwarzen Kleid! – Sie scheint permanent zu trauern, weil ihr die dunkle Farbe am besten steht und sie interessant macht.


Als Dr. Hobrecht am nächsten Morgen zum Krankenbericht in das Zimmer des hohen Herrn trat, schaute ihm Prinz Percy kaum entgegen.

»Nun, lieber Doktor, wie geht's und steht's? Sahen Sie die Kranken bereits?«

Er ließ die Wimpern tief über die Augen sinken und richtete eifrig an dem Zeiger seiner Uhr.

»Jawohl, Hoheit, ich gestehe ehrlich ein, daß ich recht neugierig war, den Zuwachs unsrer Schutzbefohlenen zu sehen und zu beobachten!«

»Sieh, sieh! – Nun, und welches Resultat?«

»Bei der Diva ein überraschend günstiges, Hoheit!«

»Torheit, lieber Hobrecht, neue Besen kehren gut! Die Krallen der Kätzchen sieht man nicht auf den ersten Blick, man fühlt sie erst mit der Zeit!«

»Wohl möglich, Hoheit.«

Eine kurze Pause. Der Prinz erhob sich und trat vor den Bücherschrank. Während er einen Band zu suchen schien, versenkte er die Hände in die Taschen seines Jaketts und fragte, ohne sich umzusehen: »Nun, so erzählen Sie doch, Doktorchen, wo Sie die ›Göttliche‹ sahen und beobachteten!«

»Während des Nachtessens, Hoheit. Ich hatte mich in dem Nebenzimmer aufgestellt und hoffte, mich an der sittlichen Entrüstung der verwöhnten Hofopernsängerin erfreuen zu können. Ohne von ihr bemerkt zu werden, konnte ich jede Miene, jede Regung von ihr ungeniert betrachten. Wir hatten uns den Witz gemacht, sie neben den alten Kilian und die ›Lumpenmarie‹ zu setzen. Aber es war leider kein Witz, sondern ein recht verblüffender Ernst. Als Fräulein Daja durch den Saal schritt, hingen aller Augen an ihr. Viele standen auf und grüßten sie, weil wohl niemand eine ›Genossin‹ in ihr vermutete. Ehrlich gestanden, Hoheit, kam es mir vor wie eine Brutalität, diese weiße Rose zwischen all das – doch recht oft unerträgliche – Wegekraut zu reihen. Die freche Zudringlichkeit der Lumpenmarie lag in einem unerklärlichen Bann. Sie rückte, so weit sie konnte, von der feinen Nachbarin ab, und vergaß, selber zu essen, weil sie voll starrer Neugierde zusah, wie die Sängerin so ganz anders wie sie ihre Kartoffeln schälte, ihren Hering schnitt und am Tisch saß wie sie.«

Der Prinz wandte sich unruhig zurück. »Ich werde mich selber überzeugen, ob man dem Fräulein ein Ungehöriges zumutet oder nicht,« sprach er kurz, »ich werde heute während des Mittagsmahls Ihren Lauscherposten teilen, lieber Hobrecht, nicht lediglich aus Neugierde,« setzte er lächelnd hinzu, »sondern um mir ein unbefangenes Urteil bilden zu können! Gehen Sie nachher zu Fräulein Daja zurück und melden Sie ihr, daß Dr. Wacknitz und ich vielleicht gegen elf Uhr das Fräulein zu sprechen wünschten.«

»Befehl, Hoheit.«

Dr. Hobrecht meldet, daß Fräulein Daja in dem Operationszimmer anwesend sei.

»Das arme Wesen scheint sich unbeschreiblich zu ängstigen,« fügt er teilnehmend hinzu, «sie sieht leichenblaß aus und vermag kaum zu sprechen! Hoffentlich können wir sie bald von Ihrem Marterstuhl erlösen!«

Der Prinz erhebt sich augenblicklich: »Ich komme!« sagt er kurz und schreitet seinem Assistenzarzt voraus.

Das Sonnenlicht fällt hell und unbehindert durch die hohen Bogenfenster des Operationszimmers. Es brennt in goldenen Fünkchen auf dem leichtgelockten Haar Benediktas und säumt das weiche Oval ihres Gesichtes, das sich dem Eintretenden zuwendet.

Sie verneigt sich respektvoll, und wie es stets seine Art ist, neue Patienten zu begrüßen, schreitet er ihr entgegen und reicht ihr die Hand mit ein paar freundlichen Worten, daß er sich freue, sie hier zu sehen und das Beste für den Erfolg des Aufenthaltes hoffe!

Die weiche, schlanke Hand, die momentan in der seinen ruht, erbebt, und das kurze: »Ich danke Eurer Hoheit von ganzem Herzen!« klingt sehr schlicht und leise. Heiße Glut ist in ihre Wangen gestiegen, und die dunklen Wimpern liegen tief auf den Wangen.

Ist es abermals Koketterie, daß sie ihn nicht ansieht? Percys Blick weilt in scharfem Forschen auf ihrem Antlitz. Welch eine Scheu und Verlegenheit!

Nein, es ist unmöglich, daß auch dieses Erröten, diese unbezwingliche Befangenheit einstudiert ist. Sie wird echt sein, – der Respekt vor dem »Prinzen« verursacht sie. »Darf ich bitten, Fräulein Daja, uns die Ursache Ihrer starken Erkältung zu erzählen« – fährt Percy fort und deutet auf einen Stuhl, selber der Patientin gegenüber Platz nehmend.

Da trifft ihn zum erstenmal ihr Blick, in hilfloser Bitte: »Wollen Hoheit die Gnade haben, sehr laut mit mir zu sprechen!«

Er wiederholt seine Worte und fügt lächelnd hinzu: »Haben Sie sich beim Tanzen zu sehr erhitzt, oder bei dem Schlittschuhlaufen, – oder war die Bühne zu kalt und zugig?«

Seltsam, warum zuckt sie zusammen und wird noch röter denn zuvor? Ein beinahe entsetzter Ausdruck tritt in ihre ernsten Züge, dann blickt sie abermals unter sich und teilt wie unter großer Überwindung mit, daß sie sich die Erkältung an einem sehr kalten stürmischen Wintertag zugezogen, als sie gezwungen gewesen sei, unbedeckten Hauptes zwei Stunden weit über Land zu gehen.

»Welch absonderliches Mißgeschick! Hatte der Sturm Ihnen den Hut entführt?«

Wieder diese ratlose Verlegenheit. Dann umgeht sie seine Frage und versichert, das Wetter sei allerdings danach angetan gewesen.

Warum erzählt sie nicht ausführlich? Will sie ihm die Unwahrheit sagen? Dann muß er zu ihrer Ehre gestehen, daß sie das Lügen noch recht schlecht versteht. Gewiß ein romantisches kleines Abenteuer, das nicht in die Rolle der ehrbaren und keuschen Künstlerin paßt.

Percy fragt nicht weiter. Er geht auf die Behandlung des Professors X. über.

Ihre Augen leuchten voll warmer, herzlicher Verehrung und Dankbarkeit, als sie seiner gedenkt, und als sie im Schildern und Beschreiben ihrer Kur lebhafter wird, als sie den Tod des Professors voll schmerzlicher Teilnahme beklagt, schaut der Prinz immer nachdenklicher in ihr Antlitz. Dieser Zug wehmütiger Trauer ist ihm so bekannt in diesem Gesicht. Just so schwebt es ihm seit längerer Zeit vor wie ein Traum. Wo hat er es schon gesehen? Abermals überkommt ihn das Verlangen, dieses Rätsel zu lösen, aber es wird in den Hintergrund gedrängt durch das lebhafte Interesse, das die Behandlung seines so hochverehrten, verstorbenen Lehrers in ihm erweckt.

Er wendet sich zu seinen beiden Assistenzärzten und spricht mit leiserer Stimme erregt auf sie ein. Sollte gar Fräulein Daja der »eigenartige Fall« sein, den der Professor in verschiedenen Briefen erwähnte? – Wohl möglich. – Er wünscht sofort eine Untersuchung vorzunehmen.

»Ich bitte um Vergebung, Fräulein Daja, wenn ich Sie jetzt so barbarisch behandeln und Ihnen unvermeidliche Schmerzen bereiten muß«, – sagt er höflich, »Bitte, schreien Sie ungeniert auf, – weinen, zürnen Sie! – Es ist immerhin eine Erleichterung für den Patienten!«

Sie lächelt. – Geduldig, ohne den leisesten Klagelaut neigt sie das Köpfchen seinen Händen.

Der Prinz ist in diesem Augenblick nur der passionierte Arzt. Die Untersuchung nimmt seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Erst als er geendet, als er hochatmend zurücktritt und mit dem Batisttuch über die Stirne streicht, trifft sein Blick ihr Auge.

Er zuckt jäh zusammen. Große, leuchtende Tränen füllen es. Jetzt erst gedenkt er wieder der Kranken selbst. Sie hat sehr gelitten, ihre farblosen Wangen beweisen es. Und dennoch kein Laut, kein Seufzer, kein angstvolles Wehren gegen die Hand des Peinigers. Die meisten – wohl sämtliche Patienten des Prinzen sind Leute sehr niederer Bildung, solche, die der Armenarzt aus der Hefe des Volkes aufliest, sie dem barmherzigen Samariter unter das Dach zu schicken; sie verstehen weder sich selbst, noch ihre Empfindungen zu beherrschen.

Sinnloses Schreien, Umsichschlagen. Heulen und Zetern begleitet die kleinsten Unbequemlichkeiten, die die Behandlung des Arztes verursacht, namentlich bei den Frauen, die schon anfangen zu lamentieren, wenn sie nur die »gräßlich unheimliche Stube« betreten müssen.

Diese Lammesgeduld, diese außerordentliche Selbstbeherrschung Benediktas sind ihm völlig neu und verfehlen ihre Wirkung nicht. Ein Gefühl der Rührung beschleicht ihn.

Nein, so weit reicht die Kunst denn doch nicht, um selbst in Augenblicken des heftigsten, körperlichen Schmerzes eine Sanftmut zu heucheln, die dem Wesen und Charakter sonst fremd ist.

Die Tränen an den dunklen Wimpern glänzen echte Wahrheit, und die eiskalten, bebenden Hände versichern es, daß Marga Daja, leiden kann, ohne zu klagen.

Dr. Hobrecht hat es voll aufrichtiger Teilnahme und Bewunderung beobachtet. Er tritt hastig an einen Nebentisch, füllt ein Glas mit Portwein und bietet es der jungen Dame an.

Ohne Prüderie trinkt Benedikta einen Schluck, richtet sich auf und dankt lächelnd; Wangen und Lippen schimmern wieder in zartem Rot, und ihr Blick trifft in stummer Frage den Prinzen. Er versteht sie. Wie aus einem Traum erwachend, hebt er das nachdenklich geneigte Haupt: »Ich hoffe das Beste. Fräulein Daja; mit Gottes Hilfe werden wir eine Besserung Ihres Leidens erzielen. Wollen Sie jetzt Ihr Zimmer aufsuchen und eine Stunde ruhen. Ich lasse Ihnen unsre Bestimmungen über die Art und Weise Ihrer Kur zugehen, nachdem ich mich mit den Herren besprochen habe.«

Sie erhebt sich und tritt zurück, so weit, daß der Prinz ihr diesmal nicht die Hand reichen kann, verneigt sich und schreitet zur Tür, die Hobrecht sehr höflich vor ihr öffnet.

Percys Blick folgt ihr. Welch eine gleichmäßige, vornehme Ruhe, welch ein tadelloses Benehmen! Hobrecht hat recht, es liegt ein aristokratisches- Etwas in ihrer ganzen Erscheinung, die angeboren sein muß. – Schade, schade, daß es nur seine Triumphe auf den Brettern feiert!

Es ist außergewöhnlich spät geworden. Die Schelle rasselt auf dem Korridor und meldet den Kranken die Tischstunde. Wacknitz empfiehlt sich hastig, da er bei einem Patienten in der Stadt erwartet wird, und der Prinz und Hobrecht wenden sich ebenfalls zur Tür.

»Hoheit wollten sich überzeugen, wie deplaciert Fräulein Daja an der Seite Kilians und der Lumpenmarie ihr Mittagbrot verspeist!« erinnert Hobrecht mit einem Ausdruck in der Stimme, der ein ganzes Register von Bitten enthält. ,

»Ah so! – Ganz recht. Gehen wir sogleich, es läutet zum ersten Zeichen.«

Die Herren stiegen die Treppe hinab und betraten das kleine Portierstübchen, dessen Fensterchen den Blick in den Speisesaal gewährte.

»Was mag heute auf dem Menü stehen, lieber Doktor?« fragte der hohe Herr.

»Hoheit gestatten, daß ich mich erkundige.« Der junge Arzt eilte auf den Korridor zurück, der Prinz aber trat an die Scheibe und blickte in den großen, säulengetragenen Raum, der, sehr schmucklos und einfach, dazu bestimmt war, die nicht bettlägerigen Kranken auf Kosten ihres Hausherrn zu speisen.

Noch waren nur die bedienenden Küchenmädchen, Hausburschen und Krankenwärter anwesend, und auch diese verschwanden soeben auf das Glockenzeichen des Kochs, um die Suppe in Empfang zu nehmen und an dem langen Holzbüffet auszuschöpfen. Gleichzeitig öffnete sich die Tür, und Marga Daja trat ein. Sie war noch unbekannt und hatte das »Melden« der Klingel schon als Ruf zu Tisch betrachtet. Überrascht blickte sie sich in dem großen, menschenleeren Raum um, zog die Uhr und sah darauf nieder; dann trat sie an den Tisch heran, wartend vor ihm auf und ab zu schreiten.

Sie ahnte nicht, daß zwei Augen wie in trotziger Herausforderung auf ihr hafteten, daß Prinz Percy begierig schaute, wie die junge Dame sich wohl ohne »Publikum« benehmen werde. Es würde ihm eine Genugtuung gewesen sein, wenn Marga Daja von dem Glorienschein, den sie so geschickt um sich zu weben verstand, recht viel eingebüßt hätte.

Aber nein. Sie schritt ebenso elastisch und vornehm ruhig daher, wie vorhin, als sie durch sein Zimmer gegangen war. Ihr Antlitz trug einen Ausdruck weicher, lächelnder Milde, die ihm neu war, und der ihr noch viel besser anstand, als die schüchterne, zitternde Verlegenheit in der Operationsstube,

Ihr Blick schweift durch die Halle. Nicht spöttisch, nicht verächtlich über die große Einfachheit hinweggleitend, sondern in seltsam innigem Aufstrahlen, wie eine Elisabeth wohl die teure Sängerlaube der Wartburg mit Entzücken begrüßt. – Das ist völlig echt, denn Marga Daja wähnt sich ganz allein.

Warum dieser Ausdruck in ihrem Gesicht?

Ist sie wirklich so glücklich, so dankbar erfreut, hier zu sein? – Es scheint tatsächlich so.

Aus welchem Grunde? - Was treibt sie hierher? Nur der Prinzentitel ihres Arztes, nur die Eitelkeit, von ihm behandelt zu werden? – Je nun, das soll sich schon zeigen.

Jetzt nimmt sie die Serviette und reinigt eine Gabel, ehe sie dieselbe an ihren Platz legt.

Percy fühlt, wie ihm das Blut in die Wangen schießt. Man scheint es nicht so genau mit der Sauberkeit in der Küche zu nehmen.

Welch peinlicher Gedanken für eine anscheinend sehr ordnungsliebende Dame, aus solch einer Küche gespeist zu werden!

Hobrecht hat sehr wahr gesprochen, sie paßt nicht an diesen Tisch, wenngleich keine Miene ihres Gesichts verrät, daß sie sich ungern daran niedersetzt.

Es klingelt zum zweitenmal – lachend und laut schwatzend erscheinen die dienstbaren Geister mit den dampfenden Näpfen. Sie nicken der jungen Dame nicht so kordial zu, wie den andern Gästen aus den Armenhäusern, vor denen sie weder Respekt noch Achtung haben, sondern grüßen mit einer gewissen Zurückhaltung.

Marga Daja erwidert es mit freundlichstem Lächeln, und doch liegt etwas in ihrer ganzen Erscheinung und in dem Reigen ihres Hauptes, was an eine Fürstin erinnert, die einen Zug von Vasallen an sich vorüberschreiten läßt. Ist das auch unbewußte Wahrheit, oder nur das Resultat guter Studien?

Hobrecht unterbricht diesen Gedankengang. Er tritt hastig ein und meldet, daß es heute eine Kartoffelsuppe und danach Weißkraut mit Speck gäbe.

Wieder steigt es heiß in die Wangen des Prinzen.

»Solch ein Essen dürfte allerdings nicht der Geschmack einer Dame sein! Ich fürchte, Fräulein Daja wird für solche Kost danken und hungrig vom Tisch aufstehen!«

Percy wandte sich kurz ab und reichte Hobrecht die Hand. »Leben Sie wohl, Doktor, es ist die höchste Zeit, daß auch Sie an Ihre Table d'hôte denken.« Er nickt ihm zu und schritt, jede Antwort abschneidend, zur Tür.

Eine Änderung für Marga Dajas Hausordnung war nicht in seinen ruhigen, gleichmäßigen Gesichtszügen zu lesen, – sollte auch diese demütige Bescheidenheit und Anmut den Weiberfeind nicht rühren?

Dr. Hobrecht hielt es nun erst recht für seine Pflicht, sich der jungen Dame anzunehmen.

Percy trat indessen ganz wie von ungefähr in den Saal, schritt mit freundlichen Worten und der oft wiederholten Frage: »Wie schmeckt es?« um den Tisch, um hinter Fräulein Dajas Stuhl stehenzubleiben.

»Ist noch ein Plätzchen hier frei, mein Fräulein?« fragte er höflich; »mich hungert barbarisch, und ich möchte gern einen Bissen genießen, ehe ich mich auf den Weg in die Stadt begebe!«

Respektvoll rutschte die Lumpenmarie mit ihrem Stuhl bis an das äußerste Ende des Tisches, dieweil diensteifrige Hände einen Stuhl einschoben und ein Gedeck auflegten.

Benedikta schien weder überrascht noch sonderlich erregt über die Auszeichnung, die ihrer Tischgesellschaft zuteil ward; liebenswürdig wie stets unterhielt sie sich mit ihrem neuen Nachbar, aber nicht einen Hauch freundlicher oder animierter, als zuvor mit dem alten Kilian.

Und auch diese Beobachtung machte der Prinz.

Schon beginnt die außergewöhnliche Art dieser Bühnenkünstlerin ihn zu interessieren, und es ergeht ihm wie einem Gärtner, der an einem verachteten Kräutlein plötzlich verheißungsvolle Knospen wachsen sieht. Er beobachtet es voll doppelten Eifers und empfindet von Tag zu Tag mehr den Wunsch, es in voller Schöne erblühen zu sehen. – In welcher Art? In welcher Farbe? Von welchem Duft?

Er fragt es sich, so oft er's sieht, und harret gespannt der Lösung dieses Rätsels. – – – – – – –

Als der Prinz später seine Studierstube betritt, steht sein Kammerdiener wartend an der Tür. »Hoheit – darf ich um nähere Befehle bitten, welche Anzüge eingepackt werden sollen? Welche Uniform dürfte eventuell notwendig sein?«

Percy streicht nachdenklich den Schnurrbart, schreitet ein paarmal im Zimmerchen auf und nieder und tritt endlich an das Fenster, um nach dem Wetterglas zu schauen.

»Das Barometer steht schlecht, – wir werden für die nächsten Tage Wind und Regen zu erwarten haben. Das sind üble Begleiter für eine Auerhahnbalz. – Stellen Sie die Koffer noch kurze Zeit zurück, das Ende des Monats wird hoffentlich beständiger bleiben!«

»Befehl, Hoheit.«

Der Fürst saß seiner Gewohnheit gemäß am Schreibtisch, um an einer wissenschaftlichen Broschüre, die er veröffentlichen wollte, zu arbeiten. Aber er war zerstreut, hielt die Feder in der Hand, ohne zu schreiben, warf sie nieder und zog die Uhr.

Jetzt war Wacknitz bei Marga Daja.

Sie trug ein ernstes, schwieriges Leiden. Ist es nicht die Pflicht, ein solches persönlich zu überwachen? Soll das arme Mädchen unter einem Vorurteil leiden, das ihm den Verkehr mit Bühnenkünstlerinnen unangenehm macht?

Das wäre die erste Versäumnis, die sich der gewissenhafte Professor mit der Fürstenkrone zuschulden kommen lassen würde.

Er geht ja nicht zu der Sängerin Marga Daja, sondern zu seiner hilfsbedürftigen Patientin, zu der Armen, die er barmherzig unter sein Dach genommen.

Mit hastigem Ruck schiebt er den Sessel zurück, erhebt sich und schreitet nach der Tür.

Ihm gegenüber auf dem Korridor liegt das Zimmer der jungen Dame. Er klopft kurz an. Die Stimme des Doktor Wacknitz ruft: »Herein!«

Ein freudig überraschtes Lächeln erhellt die Züge des alten Herrn, als er den Prinzen erblickt.

»Ah, vortrefflich, Hoheit! Ich stehe gerade im Begriff, mir hilfreiche Hand zu holen! Fräulein Daja hält zwar so rührend still, wie ein Lämmchen, aber es würde mir doch zur Beruhigung dienen, wenn ihr der Kopf während meiner kleinen Prozedur gehalten würde!«

»Ich stehe gern zur Verfügung.«

Percy nimmt das schlanke Köpfchen zwischen seine kühlen Hände. Da fühlt er, wie alles Blut siedend heiß in ihre Wangen schießt.

Weich wie Samt sind sie, und der Feuerstrom, der von ihnen ausgeht, teilt sich den Händen des Prinzen mit und wallt auch ihm jählings durch die Adern. – Nie zuvor hat er eine gleiche Empfindung gehabt, wenn er das Haupt einer Patientin gehalten. Sie hat die Augenlider gesenkt, er kann ungeniert auf ihr blütenreines Antlitz niederblicken, durch das das warme Leben leuchtet, wie Purpurlicht durch ein Rosenblatt.

Ihm ist's, als fühle er ihr Herz in jedem Pulsschlag, er empfindet das leise Zittern, das ihre Gestalt durchbebt.

Da schießt ihm die Glut selber in die Wangen. Er beißt unwillig die Zähne zusammen und gibt ihr Köpfchen frei. Seine Stimme klingt sehr ruhig, als er Wacknitz das kleine Instrument aus der Hand nimmt und sagt: »Geben Sie her, lieber Doktor! Sie wissen, ich kann nicht gut zusehen! Lassen Sie uns die Rollen tauschen!«

Nun ist er wieder Arzt, nur Arzt. Jeder andre Gedanke weicht wissenschaftlichem Interesse.

Wacknitz bittet, noch einmal das Experiment zu wiederholen. »Ich glaube, Hoheit, es wird doch ein kleiner operativer Eingriff notwendig werden!« sagt er.

»Ergibt sich das, werden wir es riskieren, oder vertrauen Sie sich unserm Messer nicht an, Fräulein Daja?«

Zum erstenmal blickt sie zu ihm auf. Sie lächelt, obwohl der Schmerz ihr wieder Tränen in die Augen getrieben hat. »Mein ganzer Glauben, meine ganze Hoffnung auf Genesung liegt ja nur in den Händen Eurer Hoheit!« – Sie sagt es schlicht und einfach, dennoch trifft der Ton warmer Anerkennung und Zuversicht sein Herz.

»So Gott will, soll Sie dieser Glauben nicht täuschen!« antwortete er kurz.

»Wie ist eine solch schwere Erkältung nur möglich gewesen!« – sagt Wacknitz.

»Vor allen Dingen, wie konnte es möglich sein, daß eine junge Dame schutzlos während so langer Zeit einem Schneesturm preisgegeben sein konnte! Sie müssen uns dieses Mißgeschick noch erzählen, Fräulein Daja!« – Während der Prinz spricht, trifft sie ein seltsam forschender Blick – und richtig! Das junge Mädchen erglüht abermals in flammender Nöte und stottert ein paar ungereimte Dinge.

Percys Stirn bewölkt sich. Also doch ein dunkler Punkt in Marga Dajas Leben, den sie mit dem Mantel der Liebe und Verschwiegenheit zudecken muß. Es schien eine Knospe, die der Wurm gestochen!

»Stehen Sie allein in der Welt, Fräulein Daja?« fragt Wacknitz teilnehmend.

»Ganz allein.«

»Sie trauern noch?«

»Um meinen Großvater, – die Eltern starben, als ich noch Kind war, – ich habe sie nie gekannt.«

»Ihr Herr Großvater erzog Sie?«

»Ich habe ständig bei ihm gelebt!«

»Auch als Künstlerin? Ließ sich das mit Ihrer Laufbahn vereinen?«

Wieder diese tödliche Verlegenheit, dieses Verstummen und Erglühen. – Der Blick des Prinzen streift abermals forschend ihr Antlitz, er preßt die Lippen zusammen und nimmt nicht teil an der Unterhaltung.

»Großvater ist schon seit zwei Jahren tot!« sagt sie endlich leise, voll tiefer Wehmut.

»So, so! Da erlebte er Ihre Anstellung als Sängerin nicht mehr. Und Sie trauern so lange Zeit um ihn?«

»Ich verlor alles mit ihm, ich werde um ihn klagen und trauern, solange ich lebe.«

»Nun, nun! So Gott will, wird das Glück Ihnen lächeln und Ihnen den Verlust seiner Vaterliebe durch eine andere, ebenso treue und wahre Liebe ersetzen.«

Wie verlegen sie wird! Welch süße Scham und Verwirrung sich in ihrem reinen Antlitz, in den klaren Augen spiegelt! – Das ist nun wieder keine Komödie, sondern reizende Wahrheit!

Welche Widersprüche in ihr! Welch ein Kampf zwischen Glauben und Mißtrauen in dem Herzen ihres Beobachters!

»Werden Sie nach Ihrer Herstellung zum Theater zurückkehren, Fräulein Daja?« - fragte der Prinz unvermittelt. Sie starrt ihn beinahe entsetzt an und schüttet den Kopf.

»Niemals, niemals!« – und mit wunderlichem Lächeln und einem sinnenden Blick an ihm vorüber, fügt sie flüsternd hinzu: »So Gott will, wird Marga Daja eine bessere Heimat finden als die Bühne!«

»Das denke ich auch!« stößt Percy mit rauher Stimme hervor.

Er sprach hastig, trat zurück und streifte noch einmal mit schnellem Blick seine Patientin. Es schien ihm angenehm zu sein, daß sie ihn nicht ansah, sondern das Köpfchen tief zur Brust neigte. Sie machte wenig Gebrauch von ihren schönen Augen.

In tiefes Sinnen verloren schritt er in sein Zimmer zurück, setzte sich vor dem Schreibtisch nieder und stützte den Kopf in die Hand.

Sonnenstrahlen leuchteten wieder durch das Fenster, und die regenüberflutete Welt lachte ihm mit taufend verheißungsvollen Knospen entgegen.

Wasmuth trat ein und blieb respektvoll an der Tür stehen.

Der Prinz hob jählings das Haupt. »Was gibt es?«

»Das Wetter ist wieder prachtvoll, Hoheit, und das Barometer steht auf ›beständig‹. Da wollte ich mir die gehorsamste Anfrage erlauben, ob Hoheit morgen früh zu reisen befehlen?«

»Morgen ist Sonntag?« – Der junge Fürst sprang wie in jähem, gewaltsamem Entschlüsse empor. »Gut, – packen Sie, – ich werde um neun Uhr mit dem Kurierzuge fahren.«

»Befehl, Hoheit.«


 << zurück weiter >>