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Drittes Kapitel

Die ungeduldigen Pferde, die nur mit Mühe von Konrad gezügelt worden waren, hoben aufschnaubend die federgeschmückten Köpfe, um mit lautem Schellenklingeln aufs neue den einsamen Weg entlang zu stürmen.

Ein Schatten lag auf Benediktas Antlitz. »Warum behandeln Sie den armen Eckert mit solch ausgesuchter Unhöflichkeit, Marga?« fragte sie vorwurfsvoll.

»Weil er mich mit allzu ausgesuchter Höflichkeit behandelt!«

»Ist das ein Vergehen?«

»Ja, ich hasse es, wenn ein Mann dasitzt wie die verkörperte Anbetung und nichts Bessres weiß, als einen anzustarren wie ein Mops den Fleischerladen. Wer gab ihm ein Recht dazu? – Ich wahrlich nicht!«

»Ob ich dich liebe, – was geht's dich an!«

»Viel, sehr viel geht es mich an, denn es geniert mich im höchsten Grade. Lächerlich, wenn dieser Unteroffizier in Zivil sich mit lyrischen Gedanken tragen wollte! Seine Kinder sind sehr niedliche, allerliebste Dinger, und weil ich aus Langeweile ein paarmal mit ihnen spielte, leidet ihr Vater plötzlich an dem Größenwahn, Marga Daja könnte ihre zweite Mutter werden!«

»Nein, Marga, das tut er nicht!«

»Tut es nicht?« – – Ihr eben noch so hochmütiges Gesichtchen sah überrascht aus. »Woraus schließen Sie das?«

»Aus mancherlei Beobachtungen. Eckert schwärmt Sie an wie einen Stern, den man nicht begehrt. Er ist viel zu vernünftig und praktisch denkend, um es sich je zu wünschen, eine verwöhnte und anspruchsvolle Sängerin unter sein bescheidenes Dach führen zu dürfen –«

»Neil die verwöhnte Sängerin au fond ein armes Mädchen ist und nicht die nötigen Mittel mitbringt, um dem Gatten zu ermöglichen, selbständig ein Gut zu pachten?« – – Ein scharfer Klang lag in der Stimme der Sprecherin. »Glauben Sie etwa, Benedikta, Herr Eckert rechnet und spekuliert nicht? Wo sitzt der Geldteufel sichrer und fester im Nest als hinter einer Bauernstirn?«

»Eckert ist kein Bauer. Er stammt aus sehr respektabler, wohlhabender Beamtenfamilie, und hätte nicht sein Schwiegervater Bankerott gemacht, säße er nach wie vor als vielbeneideter Gutsbesitzer auf dem schönen Gartlau.«

» Tempi passati – Jetzt ackert und pflügt er, wie – nun wie jeder andre untergeordnete Gutsinspektor!«

»Er findet sich mit bewundernswerter Ruhe und Selbstverleugnung in diesen herben Umschwung!«

»Und überlegt sehr klug und weise, daß eine Opernsängerin von Ruf, glänzend honoriert und – bei einiger Sparsamkeit in wenig Jahren eine höchst gute Partie ist!«

»Sollten andre Männer das nicht auch überlegen?«

Marga lachte. »Gewiß! Leider viel zuviel! Was für Heiraten haben unsre großen Divas zumeist geschlossen!«

»Und wie manch verfehlte Spekulation ist nicht an solch eine Künstlerin geknüpft worden! Hörten Sie noch nie von Sängerinnen, die über Nacht ihre Stimme verloren, und von der Höhe einer Königin in die tiefste Armut gestürzt wurden? – Warum halten Sie sich so entsetzt die Ohren zu, liebe Marga? – Gott im Himmel behüte Sie vor einem solch entsetzlichen Schicksal. Ich will Ihnen nur diese Tatsache nennen, um für Eckert in die Schranken treten zu können. Ist er tatsächlich ein solcher Spekulant und Geldmensch, wie Sie annehmen, so hat er auch diese Möglichkeit eines Mißerfolges in Ihrer Karriere erwogen. Dennoch bin ich überzeugt, daß er –« Benedikta betonte dieses Wort, und feine Röte stieg in ihre Wangen – »nie die Heirat hinauszögern würde, bis Ihr Ruf ihm eine Garantie gäbe, sondern daß er in ehrlicher Treue auch das arme, zukunftslose Mädchen zu der Seinen machen würde!«

Marga schüttelte mit ungeduldigem, etwas ärgerlichem Lächeln das Köpfchen: »Ich begreife Sie gar nicht, Benedikta, warum Sie sich plötzlich so sehr zu dem beredten Anwalt jenes blonden Riesen machen! Als ob ich Ihnen nie das Geständnis gemacht hätte, daß ich in Roman all mein Glück und den seligsten Inbegriff meiner Zukunft gefunden hätte! Ihr gutes Herz erträgt die Toggenburgmiene des Papa Adalbert nicht, – und das Mitleid macht Sie zur Verräterin an meinem herrlichen Ermönyi! Wehe Ihnen, wenn er's erfährt! Er würde Sie mit seinen Feueraugen zu Tode brennen!«

Fräulein von Floringhoven hielt den Muff vor das Antlitz – und Marga tat das gleiche. Der Schlitten verließ den Wald und fuhr eine kleine Anhöhe auf freiem Feld empor.

Der Sturm pfiff eisig über die Blöße und peitschte einen Schauer seiner Hagel- und Schneemassen in die frostgeröteten Gesichter, – der Himmel verdunkelte sich mehr und mehr, die grauen Wolken zogen so tief, als müßten sie ihre Dunstschleier an den kahlen Eichwipfeln des Waldes zerfetzen.

Pannkeuken schlug die Arme gegen den Körper, und Konrad trampelte mit den Füßen. Der Schlitten hielt auf der Anhöhe, und die Pferde stampften ärgerlich den Schnee.

»Wenn die Herren nur werklich bei dem ludermäß'gen Schnee un' der Mordskälte reiten werden!« – philosophierte Pannkeulen in pessimistischer Anwandlung. »Aber die Schneise riber sin se noch nich, wer mißte es sonst am ausgebuddelten Schnee sehn!«

Benedikta hatte sich aufgerichtet und überflog mit dem Blick die schmale Ebene, die sich zwischen den mächtigen Waldungen talabwärts zog. Neugierig hob auch Marga das Näschen aus dem Pelz und schaute lebhaft um sich.

»Wenn die Jagd tatsächlich hier vorüberkommt, können wir es vortrefflich sehen!« jubelte sie, wieder ganz und gar kindliche Naivität und Übermut. »O Himmel, wenn sie nur nicht so nahe bei uns schießen wollten – das kann ich um die Welt nicht hören!«

»Schießen? Herrejemersch, heite wird ja reene gar nich geschossen! Heute ramenten se je blus höngerdorch bei'n Schweine!«

»Still! – Hört ihr nicht Hundegebell?«

Pannkeuken lüftete hastig die dicke Pelzmütze etwas von dem Ohr und streckte lauschend den Kopf vor.

»Nee, nich 'n Fippschen! – 's is ja alles muttermeischen stille! –« schüttelte er vergnügt das pelzumstarrte Haupt.

»Doch! – doch! – Ganz fern aus dem Walde drüben.«

»Richtig! Ein Signal! – Die Wasserfanfare! – Sie werden den See umreiten!«

»Nadierlich! Abgepritscht! Se missen'um See rum« –

»Wieder ein Signal – bedeutend näher schon. – Ich höre auch die Meute dort unten in dem Hochwald!«

»Mer mißte am Ende noch e bißchen dort runter fahr'n!«

»Daß se uns in Dreck reiten!« wehrte Konrad, sein Schweigen unterbrechend, lakonisch ab.

»Nein, nein! Hier sehen wir's am besten!«

»Da unten jagen ein paar Hunde – ein Piqueur hinter ihnen! – Sie kommen!«

»Hm – den Biggör seh' ich och – wo aber de andern stecken – Potz Deitchen! Ich gloobe gar, se hocken so sacht'gen oben beim Pfaffengraben rom'! Der Biggör verkriemelt sich och wieder in' Holze!«

»Das Geläut der Meute und das Signal klingt ja plötzlich ganz fern da drüben!«

»Der Piqueur macht kehrt und jagt hierher!«

»Es ist ja gar kein Piqueur! Ich erkenne den roten Rock der Parforcereiter!«

»Jetzt saust er durch die Tannen –«

»Alle Wetter! Der is wohl reene närrsch? Was karjohlt 'n der ejal von eener Seite uff die andre?«

Hochaufgerichtet stand Fräulein von Floringhoven und schaute dem Reiter mit starrem Blick entgegen. Sie, die selbst eine vorzüglich geschulte Reiterin war, erkannte, daß die Bewegungen des Pferdes keine beeinflußten, sondern vollkommen willkürliche waren. Auch der Sitz des Jägers war kein regelrechter.

Pannkeulen grinste. »Der Musje hängt och wie e Heifchen Unglick in' Sattel! – Na, na, keen Porzlament nich! – Ich seh's schon kommen, daß 'r die scheenste Friehlingslerche mitten in Jann'ware schlägt!«

Ein leiser, zitternder Aufschrei von Benediktas Lippen. »Herr des Himmels! Er hat ja die Zügel verloren! Da ist ein Unglück passiert! Seht doch, seht, – er sinkt ganz vornüber!«

Das Pferd kam mit allen Zeichen wilder Flucht dem Schlitten entgegengerast. Sein scheues Aufschnaufen und zielloses Hin- und Herschlendern ließen erkennen, daß keine kraftvolle Hand es mehr bändigte. Wie angelockt von dem Anblick der Schlittenpferde verließ es seine Bahn längs des Waldes und jagte schnurgerade auf den Schlitten los. Konrad griff mit eisernen Fäusten die Zügel, und Pannkeuken sprang hastig zur Erde.

Leichenblaß stand Benedikta und verfolgte mit stierem Blick jede Bewegung des Reiters, während Marga mit leisem Angstschrei das Antlitz auf den Muff drückte.

»Er sinkt! Er sinkt seitlich vom Pferd!« schrie Benedikta auf. »Barmherziger Gott! – Helft, helft, daß er nicht geschleift wird!« – Schneller als der Gedanke, ehe nur Pannkeuken Hilfe leisten konnte, schwang sich die junge Dame aus dem Schlitten und stürmte dem Pferd entgegen, das durch die jählings veränderte Last des Reiters und durch die Wucht seines Niedersinkens zusammengerissen wurde. Mit wildgeblähten Nüstern brach es auf die Vorderbeine nieder, wollte wieder empor, strauchelte und sank abermals in einer tiefen Schneerinne des Ackers zusammen.

Ehe es zum zweitenmal empor konnte, packten zwei kraftvolle Mädchenhände die Trensenzügel und zwangen das aufbäumende Tier mit schier übermenschlicher Gewalt zurück.

Pannkeuken folgte in atemloser Hast seiner Herrin, er hielt den Durchgänger mit beiden Fäusten und schrie ihm sein beschwichtigendes »Hu! jo! heu – heu!« in die Ohren. Schaum trat vor das Gebiß, der Rappe zitterte an allen Gliedern und sprang auf die Füße.

»Halt ihn! Halt ihn um Himmels willen fest, Pannkeuken, der Fuß hängt noch im Bügel!« rief Benedikta mit dunkelgerötetem Antlitz, wandte sich schnell wie der Gedanke und löste, nicht ohne Mühe und Anstrengung, den Stiefel des Reiters aus dem Steigbügel.

Ein Aufatmen der Erlösung aus Todesangst. Gerettet lag der Bewußtlose in dem tiefen Schnee. Pannkeuken führte das schreckende Pferd ein paar Schritte zur Seite. »Donner und Doria, Baroneßchen, das arme Luderchen wäre raddegal zu Marmelade gewercht, wenn Se nich de Geistesgäjenwart gehabt hätten, den Racker hier zu fassen!« lobte er schmunzelnd. »Wat hat 'n der Herr ejentlich in' Sinne gehabt? – Ei du mei Jesses – ich globe werklich, 's Blut leift 'n an Koppe runter!«

Benedikta hörte es nicht. Sie kniete neben dem Verunglückten und bettete voll zitternder Angst sein Haupt in ihren Schoß. So gut es ging, trocknete sie das rinnende Blut von seiner Stirn.

»Binde das Pferd an einen Baum und hilf mir, Pannkeuken!« rief sie leise.

Und dieweil der Getreue ihrem Befehl Folge leistete, winkte sie nach dem Schlitten zurück: »Bitte bring' mir dein Taschentuch, Marga, meins reicht nicht aus!«

Voll schaudernder Abwehr hob »das Kind« die Arme. »Ich kann kein Blut sehen!« schluchzte sie und warf sich weinend auf die Pelzdecken nieder.

Fräulein von Floringhoven biß die Zähne zusammen. Sie versuchte, so gut es ging, ihr Taschentuch um den Kopf des Verletzten zu schlingen, die Wunde vor der grimmigen Kälte zu schützen. Das kleine Stückchen spitzenbesetzten Battistes reichte nicht dazu aus. Ohne Besinnen riß sie den seidenen Schal von ihrem Kopf und schlang ihn um das Haupt des Fremden. Ihr Blick blieb wie gebannt an dem leblos stillen Antlitz auf ihren Knien, und wie sie in diese bleichen, blutüberströmten Züge sah, da krampfte sich ihr Herz zusammen wie unter Todesqualen. Wie eine glühende, übergewaltige Flamme loderte es von diesem Herzen auf und füllte ihre ganze Seele, ihren ganzen Körper mit Feuergluten.

Welch eine wundersame Gewalt ging von diesem tobesstarren Antlitz aus? – Die rätselhafte, unbegreifliche und göttliche Allgewalt jener Sympathie, die geheimnisvoll und rettungslos ein Herz in den Zauberkreis des andern zieht.

Benedikta hatte es vorempfunden, daß dieser Augenblick der Entscheidung für ihr Leben kommen mußte, sie hatte gezittert vor ihm, wie vor einem drohenden Unglück, und nun, da er seine unheimliche Macht auf sie ausübte, war es, als löse sich ihre Seele auf in einem Jubelschrei unaussprechlichen Entzückens, eines Entzückens, in das sich dennoch die Todesangst der Verzweiflung mischt.

Während ihre bebenden Hände des Bewußtlosen warteten, hing ihr Blick wie in unersättlichem Schauen an dem Antlitz des Fremden, das still und ernst, selbst in der starren Ruhe der Ohnmacht unvergleichlich edel und hoheitsvoll in ihrem Schoße ruhte. – Bleiche, schmalgeschnittene Züge, Lippen, um die Wohlwollen, Liebenswürdigkeit und ein Ausdruck beinah keuscher Reinheit ihre unverkennbaren Linien zogen.

Mochte es der momentane Blutverlust sein, daß das Gesicht leidend und eingefallen aussah – oder wichen die tiefen, bläulichen Schatten unter den Augen, wenn Leben und Bewußtsein kehrten? Ein dunkelblonder Schnurrbart harmonierte mit dem Haupthaar, das sonst wohl glatt und schlicht, in diesem Augenblick aber blutverklebt und wirr in die Stirn hing, und die Hand, die gekrampft und leicht zuckend niederhängt, ist selbst unter dem Reithandschuh schlank und schmal wie die Rechte einer vornehmen Frau. Will er immer – immer noch nicht die Augen aufschlagen?

Voll hilfeflehender Angst blickte Fräulein von Floringhoven auf Pannkeuken, der heraneilt und mit seinen ewig freundlich und gutmütigen Augen prüfend auf den Verunglückten blickte.

»Hätten wir doch irgendeine belebende Essenz, Pannkeuken, daß wir ihn zum Bewußtsein bringen könnten! Die Kälte ist zu groß – er schwebt in äußerster Gefahr, Pannkeuken!«

Der Alte greift schmunzelnd in die Rocktasche: »Nur gemietlich bleiben, Baroneßchen! Alles Verzweefeln hilft da reene gar nischt! Ans Leben geht's noch beileibe nich. – Du Jemersch! Da habe ich se bei 'n Dippler Schanzen schlimmer bluten sehen! – Da hier ... was hätt' mer den hier? – So 'n Schnäpschen duht's och schon!« – Und Pannkeuken neigte sich, hielt eine kleine Feldflasche an die Lippen des Reiters und goß ohne Umstände, etwas zwangsweise nachschiebend, den Nord- häuser in seinen, Mund. Ein Zusammenzucken und tiefes Aufatmen. Die Hände greifen wehrend in die Luft, und das Haupt regt sich wie im Schauder.

»So ... nochemal, Musjöchen! Prosit! ... Das wird Sie schon uff de Beene bringen! – Na, gottlob ... da wär'n mer ja!« Der Gestürzte riß jählings die Augen auf, sein irrer, ausdrucksloser Blick traf das geneigte Antlitz Benediktas. Mit leisem Aufstöhnen gab er sich einen Ruck und stützte sich, wild um sich schauend, auf den Ellenbogen. Er sah sein Pferd, sah die weitverschneite Ebene, sah in geringer Entfernung den Schlitten halten. Das Bewußtsein schien zurückzukehren, die Erinnerung kam blitzartig wieder.

Ein leiser, gurgelnder Laut, – er tastet nach seiner Stirn und blickt auf das Blut, das seinen Handschuh färbt.

Dann sinkt sein Haupt abermals zurück auf die Knie des jungen Mädchens, und sein umschattetes Auge schlägt sich voll auf. Benedikta neigt sich über ihn, Blick ruht in Blick, so tief, so fest und unauslöschlich, als wolle er zwei Seelen für ewige Zeit verschmelzen.

Dann schauert die junge Samariterin leicht zusammen und zwingt die Gedanken, die so hohen, fernen Flug genommen, gewaltsam zu der traurigen Wirklichkeit zurück.

»Wo dürfen wir Sie hinbringen?« flüstert sie weich.

Er will sprechen ... »Altenfähre«, lallte er. – Blutstropfen perlen über seine Lippen, und mit leisem Schreckensschrei schlingt Benedikta die Arme um ihn. »Schnell, Pannkeuken! Um Gottes willen, schnell! Marga soll den Schlitten verlassen ... Der Verwundete muß so bequem als nur möglich gebettet werden!«

»Daß auch keene Menschenseele von der ganzen Jagdgesellschaft sich herbemüht!« grollte der Alte mit sorgendem Ausblick über die todesstille Ebene. »Können Sie denn den schweren Herrn tragen helfen, Baroneßchen?«

Sie nickt hastig; wie gebannt hängt ihr Blick an seinem Auge. Er möchte sich verständlich machen, erhebt die Hand und strebt mit dem Oberkörper empor. »Gehen ... gehen ...« stammelt er. Aufs neue sickert Blut über die Lippen.

»Unmöglich ... Sie dürfen nicht gehen ... Ihre Brust –« Er deutet mit dem Finger nach dem Mund ... »Nur Zunge ... nicht schlimm ...« Und als er dazu beruhigend den Kopf schütteln will, umfloren sich seine Augen abermals, das Haupt sinkt schwer zurück, und der Fremde ruht in erneuter Bewußtlosigkeit in dem Arm seiner Retterin.

Pannkeuken ist währenddessen zum Schlitten gelaufen, er hebt die schluchzende Marga heraus und breitet die Pelze und Decken sorglich über die Polster aus.

»Wenn Baroneß die Pferde halten will, kann ich ja den Herrn tragen helfen!« sagte Konrad.

Pannkeuken überfliegt mit schnellem Blick die morsche, gebrechliche Gestalt des Alten. »Nee, nee – kenn mer ganz alleene, Kunnrädchen!« Spricht's und stampft eilig durch den Schnee zurück.

Benediktas schlanke Arme scheinen von Eisen.

Sie hebt den Verwundeten an dem Oberkörper, dieweil Pannkeuken seine Füße faßt, und trägt ihn keuchend bis zu dem Schlitten. Die ungewohnte Anstrengung treibt pochende Glut in die Schläfen des jungen Mädchens. Schweißperlen rinnen von der Stirn – und dazu pfeift der eisige Schneesturm um ihr ungeschütztes Köpfchen. Niemand achtet darauf, Fräulein von Floringhoven am wenigsten. Eine schwere, saure Mühe ist es noch, den hilflosen, wuchtigen Körper des Ohnmächtigen in den Schlitten zu heben. Dann hüllt ihn Benedikta voll zarter Sorge warm und sicher ein, dieweil Pannkeuken auf ihren Befehl das Pferd des Jägers holt und dem Schlitten ankoppelt.

»So – nun in Gottes Namen so schnell wie möglich nach Altenfähre, Konrad! Pannkeuken fährt mit Ihnen, falls sie unterwegs irgendwelche Hilfe brauchen.«

Der Getreue schüttelt bedenklich den Kopf. »Und was soll aus den Damen derweil werden?«

»Wir gehen zu Fuß den Waldweg voraus. Ihr bringt den Herrn zum Jagdschloß und folgt uns so schnell wie irgendmöglich, um uns wieder aufzunehmen.« Sie neigt sich näher zu Pannkeuken: »Wenn möglich, bring mir meinen Kopfschal wieder mit, Alter.«

»Jemersch und du mei Herrgott! Se haben ja reene gar nischt ums Kepfchen, Baroneß!« – entsetzte sich der Genannte. »Wollen Se nich mei Pelzkäppchen nehmen?«

»Damit du betagter Mann dir den Tod holst!« – Sie wehrt ihn energisch ab. »Der Jugend schadet so etwas nichts,– – ich will ja den Schal auch nicht der Wärme wegen!« Und ihre Verlegenheit bezwingend, gibt sie Konrad noch einmal hastigen Befehl: »Schnell – schnell! Fahr zu, was die Pferde zu laufen vermögen, der Schnee liegt hoch, und das schnelle Fahren erschüttert nicht!«

Der Kutscher schnalzt leise mit der Zunge an, und der Schlitten fliegt wie ein Schattenbild über die breite, weißverschneite Talfläche dem Jagdschloß entgegen.

Still ringsum – totenstill. Der Lärm der Jagd ist verklungen, tiefer Frieden liegt über der graudunstigen Welt, und die Stimme des Windes schrillt allein wie bange Klage durch den laublosen Wald.

Hochaufatmend steht Benedikta und streicht über die feuchtperlende Stirn. Eisiger Schauder rieselt ihr durch die Glieder, ihre Zähne schlagen zusammen vor Kälte, sie achtet es nicht. Ihr Blick schweift wie verklärt über die Welt, als wolle er Himmel und Erde in unendlicher, grenzenloser Liebe umfassen.

Margas Hand legte sich auf ihren Arm und weckt sie aus dem träumerischen Sinnen.

»Was fangen wir denn nun an, Benedikta!« grollt sie mit weinerlicher Stimme. »Es ist ja ein entsetzlicher Gedanke, daß wir nun womöglich eine Stunde lang durch diesen kniehohen Schnee waten sollen! Ich zittere schon jetzt wie Espenlaub vor Kälte, wie soll das nun erst in einer Stunde werden!«

»Wir schreiten tüchtig aus und erwärmen uns im Gehen!«

»Sie werden sich eine schöne Erkältung holen! Bei diesem grausigen Schneesturm nichts auf dem Kopf! Das ist ja eine rasende Idee! Das Wasser läuft Ihnen schon jetzt aus den Haaren, und nicht mal ein trocknes Taschentuch, um es Ihnen um die Ohren zu binden!«

»Ich schlage den Pelzkragen so hoch wie möglich! Auch bin ich sehr abgehärtet und reibe den Kopf tüchtig ab, wenn wir nach Hause kommen!«

»Entsetzlich! – Ein solches Mißgeschick! Warum konnte nur das einfältige Kamel von einem Pferd nicht nach einer andern Gegend laufen!«

Ein jäher, leidenschaftlicher Blitz in Benediktas Augen. »Damit er einsam, hilflos, fernab im Walde läg' und womöglich seinen Wunden und der Kälte erläge, ehe Rettung kam'? Schämen Sie sich, Marga! Für eine solche herzlose Egoistin hätte ich Sie nicht gehalten!«

Das »Kind« schluchzt leise auf; ob aus Reue oder Ärger, ist nicht zu konstatieren. »Mein Gott, so schlimm meine ich es ja nicht, es hätte ihn sicher jemand anders gefunden! Oh, ich bin ganz elend von der Aufregung, ich kann kein Blut sehen, und obwohl ich gern den armen Menschen angesehen hätte, hatte ich doch nicht den Mut dazu!«

Ein paar Minuten schritten die beiden jungen Mädchen schweigend nebeneinander her. Plötzlich blieb Marga stehen und stampfte mit den Füßen wie ein ungezogenes Baby.

»Ich kann nicht weiter!« weinte sie, »ich bin todmüde! Man versinkt ja in dem Schnee und kommt nicht vorwärts! O Himmel, wie soll das enden!«

»Es würde sehr gut gewesen sein, hätte Eckert uns begleitet!«

»Inwiefern?« brauste die Kleine eigensinnig auf.

»Er würde Sie jetzt auf sein Pferd nehmen und Sie im Galopp nach Hause bringen!«

»Und Sie? – Wo bleiben Sie?«

»Ich komme wohl noch aus eigenen Kräften heim!«

»Ja, wenn man so groß und stark ist, wie Sie!« klagte das Elfchen wehleidig, »aber ich armer Liliput! Ich werde ja demnächst selber fortgepustet wie eine Schneeflocke!«

»Geben Sie mir Ihren Arm, hängen Sie sich fest ein, ich nehme Sie gern in das Schlepptau.«

»Ach, wie gut, wie gut Sie sind! Ja, Benedikta, Sie sind in allen Dingen so gut wie ein Engel, Und ich? Oh, ich bin ein abscheuliches, nichtsnutziges Ding! Ja, hätte ich Eckert mitreiten lassen!«

Und wieder schritten die beiden einsamen, sturmumtobten Mädchengestalten durch den hochverschneiten Wald. Es brauste und heulte im Geäst, hohe Schneewehen hemmten ununterbrochen den Weg, niederbrechendes Gezweig tönte unheimlich durch den dunkler und dunkler weidenden Forst.

Die Zeit verging.

Zitternd schmiegte sich Marga an ihre Begleiterin und versteckte das Gesicht in ihrem Ärmel: »Ich fürchte mich so, wir sind so allein ... ach, und es wird schon so furchtbar dämmerig!«

»Der Schlitten muß uns ja jeden Augenblick einholen!«

»Ich höre noch nichts – noch nicht eine einzige Schelle!«

»Doch ... da ... da vor uns ... da klingt etwas –«

»Richtig – aber das ist nicht der Schlitten, – es kommt uns entgegen.«

Marga sank vor Schreck beinah in die Knie. »Benedikta, wenn es Räuber wären!«

»Narrheit! Wie kann ein großes, vernünftiges Mädchen so kindisch sein! Da kommt es schon ... durch die Tannen ... sehen Sie? Ein Reiter –«

»Eckert! – Eckert!« Wie ein Jubelschrei klang es.

»Wahrlich, es ist der getreue Eckehard!«

Marga riß sich los und lief dem »Unteroffizier in Zivil« mit ausgebreiteten Armen entgegen: »Herr Eckert! Ach helfen Sie! – Retten Sie uns!«

Überrascht parierte der Gerufene seinen Apfelschimmel vor den jungen Damen.

»Allgütiger Gott! – Wie kommen Sie zu Fuß hierher? Bei diesem Unwetter ... ganz allein?«

Atemlos, sich übersprudelnd in Erregung, erzählte die junge Sängerin ihr Erlebnis – »wie wir« den Reiter retteten, wie »wir« ihn in den Schlitten schafften, wie »wir« ohne Besinnen selber zu Fuß gingen ...«

Fräulein von Floringhoven stand schweigend daneben und hörte lächelnd, welche Heldentaten »wir« vollbracht hatten. Dann schnitt sie den Wortschwall schnell ab.

»Die kleine Sängerin von Gottes Gnaden verzweifelt vor Angst, Müdigkeit und Frost! Haben Sie die Güte, Herr Eckert, Fräulein Dallberg zu sich empor in den Sattel zu heben und sie so schnell und sicher wie möglich nach Hause zu bringen!«

Namenlose Verlegenheit malte sich auf dem ehrlichen Gesicht. Aber er verneigte sich voll gehorsamen Respekts.

»Was aber soll aus Ihnen werden, gnädiges Fraulein, wenn ich Fräulein Dallberg nach Hause bringe? Sie können doch unmöglich allein hier im Walde zurückbleiben?«

»Und warum nicht?« lächelte Benedikta; »ich fürchte mich nicht. Außerdem muß der Schlitten ja bald kommen und mich aufnehmen. Ich bitte Sie dringend, Marga schleunigst in Sicherheit zu bringen!«

»Ach ja. schnell, schnell! Ich friere so!« bat das Elfchen, das im dicken Pelz und der warmen Kapotte gar nicht so aussah, als ob das möglich sein könne.

»Auf jeden Fall schicke ich sofort noch einen Wagen hierher!« richtete sich Eckert stramm auf. »Wir wissen ja, wo Baroneß zu finden sind; irregehen ist auf diesem Wege nicht möglich ...«

»Gewiß nicht! Und nun Glück zur Fahrt.«

Der Inspektor neigte sich, um die zierliche Gestalt der Sängerin zu sich emporzuheben.

»Schlingen Sie Ihren Arm um mich und halten Sie sich fest!« Er vermochte kaum zu sprechen.

»So, und nun in Gottes Namen!« Benedikta klopft dem Apfelschimmel freundlich auf den Schenkel, und behutsam, Schritt um Schritt, reitet Eckert an.

»Ich schicke sofort einen Wagen, Baroneß!« ruft er zurück.

Und dann verklingt der Hufschlag im weichen Schnee: nur ein angstvoller Aufschrei Margas, als sich das Roß in eine schnellere Gangart setzte.

 

Allein, mutterseelenallein.

Benedikta schaute nicht rechts noch links, sie schritt, unbekümmert um das Ungemach, das sie bedräute, durch die wirbelnden Flocken dahin.

Ihr starrer, leuchtender Blick war ins Leere gerichtet. Sie schaute die wüsten, unstet ziehenden Wolken an, und sah sie doch nicht, – sie lauschte dem Sausen und Schrillen des Sturmwindes, und hörte es doch nicht.

Eine halbe Stunde mochte vergangen sein.

Ihre durchnäßten Kleider froren zu Eis an ihrem Körper, in den schwarzen Haaren flimmerten die kleinen Kristalle und legten sich kalt, unaussprechlich kalt auf das Haupt.

Sie bemerkte es nicht.

Schneeklumpen ballten sich unter ihren Füßen, sie glitt und strauchelte, – tiefer, immer tiefer versank sie in dem Schnee.

Sie beachtete es nicht.

Ihre Gedanken weilten fernab – in einem traulich warmen Gemach des Jagdschlößchens Altenfähre. Ihr geistiges Auge schaute über Raum und Ferne. Sie sah, wie ein bleicher, bewußtloser Mann voll Sorge und Angst emporgetragen wird auf sein stilles Lager.

Er schlägt die Augen auf – er hält alles, was er erlebte, für ein Wahngebilde des Fiebers. Die Jagd –, den unglücklichen Ritt –, das große, schwarzäugige Mädchen, das ihn barmherzig im Schoß gehalten.

Und dann greift er nach dem Haupt und fühlt den seidenen Schal. Er löst ihn ab –, er sieht ihn an –, lange, lange, – das feine, weiche, weiße Seidengewebe, auf das sein rinnend Blut rote Rosen gemalt.

»Wem gehört dieses Tuch? Wer war meine Retterin?« will er fragen, aber er kann es nicht, rote Tropfen perlen abermals über seine Lippen.

Der Arzt kommt und untersucht hastig die Wunden Er lächelt und verbindet sie mit freundlichem Zuspruch. Dann ein paar stärkende Tropfen, ein behagliches Betten, und die schönen, sinnend ernsten Männeraugen schließen sich zu erquickendem Schlummer.

Wenn er erwacht, ist der weichseidene Schal von seinem Bett verschwunden, er sieht ihn nicht mehr und gedenkt seiner nicht mehr. Es war alles ein Traum, – die Jagd, sein Sturz vom Pferde, das große, dunkeläugige Mädchen, das die bebenden Hände auf seine Stirn gelegt und ihn so lange, lange durch Tränen angeschaut hat.

Benedikta krampft die eiskalten, erstarrten Finger in dem Muff zusammen, – sie lächelt.

Wenn er dem Leben erhalten bleibt, wenn er rechtzeitig gepflegt und gerettet in Altenfähre genesen wird, so ist es ihre Tat.

Sein Bild schwebt vor ihr; sie sieht nichts andres mehr als das so eigenartig fesselnde, hoheitsvolle Antlitz, das bleiche, todesstarre, mit den weitgeöffneten Augen, deren Blick regungslos in dem ihren geruht.

Und sie starrt wie eine Trunkene in diese Augen und wankt weiter durch Schnee und Sturm.

Seltsam – die Augen tanzen vor ihr her, werden große, dunkle Flecken, um die blutroter Nebel wallt, sie wirbeln hin und her, wie die windgejagten Flocken, sie dringen, riesengroß anwachsend, auf sie ein und legen sich wie schwarze Schatten über sie. Zentnerlasten werden es. Sie sinken nieder und drücken auf ihre Brust – zermalmend schwer – sie kann kaum noch atmen –

Wie Eis rieselt es durch ihre Adern – nur im Kopf, da glüht und hämmert und saust und braust es – Nacht, dunkle Nacht wird es um sie her.

Wirr um sich tastend greift die einsame Wanderin in die Luft – Schneeflocken – Sturm – er rast über ihre schlanke Gestalt und wirft sie nieder auf die Knie. Horch ... Stimmen? – Seine Stimme? – Nein, es ist Glockenton.

Der Schlitten! – Endlich – endlich!

Mit letzter Anstrengung rafft sich Benedikta zusammen. Sie preßt die Arme gegen die Brust und starrt ihm entgegen. Wie ein Schattenbild fliegt er heran.

Sie hört Pannkeukens Stimme, aber sie versteht nicht was er sagt. Sie sinkt mit geschlossenen Augen in seinen Armen zusammen.

Noch fühlt sie, daß er sie in den Schlitten hebt, weiche Felldecken schmiegen sich um sie, und dann es stille, dunkle Nacht.

 

Als Marga die Schloßtürme aufsteigen sah, stieg auch ihr Mut und ihre Laune um ein Beträchtliches.

Sie verleugnete ihren Spitznamen »das Kind« auch jetzt nicht. Gleich wie ein unartiges Baby sehr zahm und gefügig wird, wenn es sich allein und geängstigt im Dunkeln befindet, griff auch Marga schmeichelnd und liebenswürdig nach einer Hand, die sich ihr rettend und schützend entgegenbot, ohne lange zu fragen, ob es für gewöhnlich auf ihrem Programm stand, die Hand fortzustoßen. Jetzt, wo der erste Lichtstrahl in das Dunkel fiel und das Gefühl wiederkehrender Sicherheit ihre Lebensgeister anregte, wo die auftauchenden Schloßtürme ihr die Nähe der Heimat garantierten, glich sie abermals dem Kind, das sich undankbar und ungezogen von der leitenden Hand losreißt, wenn es sich in Sicherheit wähnt.

Die Sängerin hob aufatmend das Köpfchen.

»Wenn nun Ihr Herr Sohn schilt, daß der Papa so eigenmächtig war, ohne Konsens auszureiten?« hob sie von neuem an, und diesmal klang schon verschleierter Spott durch ihre Stimme.

Eckert war viel zu erregt und mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um es zu bemerken. Er lächelte.

»Ich werde mir alle Mühe geben, den kleinen Mann schnell zu versöhnen!« sagte er gutmütig.

»Sie verziehen Ihre Kinder in geradezu unerlaubter Weise! Glauben Sie, daß so etwas gute Früchte tragt? Ein Junge muß streng – sehr streng – ja mit eiserner Strenge erzogen werden, sonst wird nichts aus ihm!«

Er lächelte noch mehr. »Wirklich? Die Ansichten darüber sind so verschieden. Ich bin ein einfacher, schlichter Mann und kenne mich nicht auf die modernen Erziehungstheorien aus, aber ich bin ein guter Christ und weiß, daß ›die Liebe die größte unter ihnen‹ ist. Was Liebe nicht ausrichtet, erreicht auch die Strenge nicht.«

»Ein guter Christ?« – Marga bog das Köpfchen zurück und blickte ironisch in sein freundliches Gesicht empor. »Dann kennen Sie doch wohl auch das Bibelwort: Wer sein Kind lieb hat, der züchtigt es?«

Er ward plötzlich ernst. »Gewiß kenne ich es. Ich strafe jede Unart. Die Rute steckt drohend hinter dem Spiegel.«

Sie lacht leise auf. »Sie steckt – und steckt – und bleibt stecken, bis der Staub sie zudeckt!«

»Wer sagt Ihnen das, Fräulein Dallberg?«

»Meine eigenen Augen.«

»Was sahen sie? – Tatsächlich Staub auf den Birkenreisern?«

»Moralischen wenigstens! Ihre Liebe ist Schwäche, große, unmännliche, beklagenswerte Schwäche! Ich begreife nicht, wie ein herkulischer, energischer Mann sich von zwei Liliputs in Windelhöschen derart tyrannisieren lassen kann!«

Er zuckte leicht zusammen, aber er blieb vollkommen ruhig. »Sie tyrannisieren mich nicht. Was ich für die Kinder tue, ist das Ergebnis meines ureigensten Willens. Ich habe sie lieb, – sie zu hegen und zu pflegen ist meine Freude und Erquickung. Ich habe Sinn und Herz für Kinder, ich erniedere mich nicht in ihrem Dienst, sondern erhebe und erbaue mich. Ich für meine Person hasse die rohe und brutale Art von Vätern, die mit ›Liliputs in Windelhöschen‹ schon abrechnen wollen, wie mit großen, vernünftig denkenden Menschen! Mag vorläufig noch Staub auf der Rute liegen – ich schäme mich dessen nicht, denn die ›Liliputs in Windelhöschen‹ tun vorläufig weder etwas Unrechtes noch etwas Schlechtes, und nur für Bösartiges oder Schlechtes werde ich meine Kinder züchtigen. Ein wenig Eigensinn, ein beschmutztes Schürzchen, ein zerbrochener Gegenstand sind nicht der Rute wert. Ich habe mich überzeugt, daß ich durch liebevolles Zurechtweisen und Zureden ebenso weit, wenn nicht weiter komme.«

»Nun, das ist eben Ansichtssache. Ich für meine Person finde ein solches Glaubensbekenntnis im Munde einer schwachen, verliebten und zärtlichen Mutter wohl begreiflich und entschuldbar; bei dem Vater, einem Mann, der in allen Dingen, selbst, in der Kinderstube, ein ›Mann‹ sein soll, imponiert mir solch weichliche Sentimentalität durchaus nicht. Nehmen Sie mir diese Offenheit übel, Herr Eckert?«

»Nicht im mindesten.« Sein Antlitz ward selbst unter der Röte des Winterfrostes bleich. »Man muß in allen Dingen des Lebens auf Widerspruch gefaßt sein und sich damit abzufinden wissen, mit seiner Ansicht allein zu stehen. So unbegreiflich, wie Ihnen mein Handeln jetzt erscheint, so unfaßlich sind mir Ihre Worte im Munde einer Dame. Ich war der Ansicht, daß es jede Frau entzücken und beglücken müsse, ihre Kinder als Inbegriff aller Liebe und Zärtlichkeit des Vaters zu sehen. Meine Mutter hat mir oft versichert, jeder Schlag, den wir von Vaters Hand erhielten, und wenn er sehr Wohl verdient gewesen – habe ihr doch stets weher getan, als uns. Sie sind noch unverheiratet, Fräulein Dallberg, Sie kennen Mutterliebe noch nicht und sprechen wie die Blinde von der Farbe. – Es ist mir herzlich leid, daß Sie eine solch wenig gute Meinung von mir haben, aber selbst um den Preis, Ihnen zu imponieren, werde ich nie meine Ansichten oder mein Benehmen gegen meine Lieblinge änndern.«

Sie warf schnippisch das Näschen zurück. »Ich habe mir auch durchaus nicht eingebildet, aus Ihnen einen Proselyten meiner Theorien zu machen. Ich bin Ihnen von Herzen dankbar für Ihr hilfreiches Geleit und bitte Sie, mich in der Residenz zu besuchen, damit ich Sie en revanche für diesen Spazierritt in einer Droschke erster Güte spazieren fahren kann. Und nun bitte Sie, zu halten. Wir sind am Parktor, ich möchte dieses kleine Stückchen zu Fuße gehen.«

Er hielt das Pferd sofort an. Seine Lippen bebten unmerklich. »Ich erlaube mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß just hier in der Allee der Schnee sehr hoch liegt und die Passage sehr erschwert ist.«

»Gleichviel. Die Allee wird von dem Hofe aus überblickt, und ich möchte doch nicht den Leuten den Anblick einer schönen Illustration zu dem ›geretteten Königskind‹ gewähren!«

»Der Anblick ist durchaus kein häßlicher!«

»Aber ein allzu origineller für die spießbürgerliche Gesinnung dieser Provinzler!«

»Sie mögen wohl recht haben!« Vorsichtig, wie man ein zerbrechliches Püppchen anfaßt, nahm Eckert »das Kind« in seine großen, derben Landmannshände und hob sie behutsam zur Erde.

Sein Gesicht sah sehr ruhig aus, nur um den Mund ging ein leises Beben. Er schaute sie so lang und regungslos an wie immer, schweigend, weil auch sie schwieg. Marga stampfte ein paarmal mit den frosterstarrten Füßen und stützte sich momentan auf den Sockel des Parktores.

Dann flutete neues, warmes Leben durch die steifen Glieder. Sie bot ihm mit überraschend freundlichem Blick die Hand empor. »Ich danke Ihnen, Herr Eckert, für diese Hilfe in der Not, – Sie waren sehr liebenswürdig zu mir! Bitte, gedenken Sie nun auch der armen Baroneß und schicken Sie schnell einen Wagen zu ihr hinaus!«

Er hatte ihre Hand flüchtig ergriffen und ließ sie nun schnell wieder los, um salutierend an die Pelzmütze zu greifen. Er verneigte sich in stummem Gruß und drängte das Pferd zurück.

Während Marga mit noch immer unsicheren Schritten durch das Tor trat, wendete er den Apfelschimmel und trabte auf kurzem Umweg direkt in den Wirtschaftshof.

Der Blick der jungen Sängerin hatte ihn beobachtet. Ein sarkastisches Lächeln zuckte über ihr hübsches Gesicht. Wie manchmal hatte sie im Tiergarten oder Tattersall gesehen, wie die Reiter ihre Pferde kurz zusammenrissen, Sporn gaben und davonsprengten, – Eckert aber hatte auch dem wohlgenährten Gaul gegenüber dieselbe Zartheit der Behandlung, wie bei seinen Kindern.

Die Sporen hatte »Blanta« wohl noch nie gespürt, und die Reitgerte ebensowenig, wie Willy und Gretchen daheim die Rute!

Welch ein Possenspiel der Natur! In einen Körper, hoch, stramm, bärenhaft stark und trutzig, hauchte sie eine Seele, so schwach, weich und weibisch, wie bei einem lyrischst beanlagten Mägdlein!

Marga liebt einen derartigen Männercharakter nicht! Sie hat sich ihr Ideal stets voll rauher, jeder Sentimentalität fremder Mannhaftigkeit gedacht. Lieber zu schroff, als zu zart, lieber zuschlagen, wie streicheln! Das würde ihr imponieren. Es liest sich so gut in Romanen von solch trotzig rauhen Helden, die die ganze Welt mit eisernen Fäusten packen und schütteln und dann zum Schlusse doch das Haupt mit der Löwenmähne fein demütig und lammfromm auf den Schoß der Geliebten neigen!

Roman war ein derartiger Charakter. Ein Titan!

Marga hatte es voll scheuer Bewunderung mit angesehen, wie er voll Wut über eine Nachlässigkeit des Orchesters seinen teuern Geigenbogen in Stücke brach wie ein Schwefelholz! Sie hatte es erlebt, daß er sein Taschentuch zerfetzte in maßlosem Zorn, daß er bleich vor Ingrimm einem Sänger mit geballter Faust gegenüber stand.

Er klopfte einmal seinem Bernhardinerhund selber mitleidig den Rücken. »Das arme Vieh frißt ein saures Brot bei dem Künstler Ermönyi! Er ist der Blitzableiter meiner schlechten Laune und muß manchen Fußtritt auffangen, der eigentlich einem andern gilt. – Hundelos! – Was hat solch elendes Geschöpf anderes vom Leben zu erwarten, als behandelt zu werden – wie ein Hund! «

Und dann hatte er selber von seiner Jugend erzählt, wie oft die wilde Leidenschaftlichkeit des Künstlers schon damals über ihn gekommen sei, daß er sich auf ein Pferd geworfen und wie ein Wahnsinniger meilenweit durch die Pußta gejagt sei, bis sein Pferd blutend und halbtot unter ihm zusammengebrochen sei! – Dann wäre er zur Vernunft gekommen. Aber manches Roß habe er dabei zuschanden geritten!

Wie interessant war das! Wie unheimlich schön war der Sprecher dabei anzuschauen, mit den schwarzen Augen, aus denen noch jetzt das Feuer ungezähmter Wildheit sprühte, mit den schlanken, weißen Händen, die bei der kleinsten Erregung wie im Fieber zitterten!

Und er, dieser ungestüme, zügellose, himmelanstürmende Riese der Kunst, lag zu den Füßen »des Kindes« wie ein geduldiges Spielzeug, das ihre kleinen Hände tändelnd zausen, – wie ein Adler, der sich flügellahm und demütig vor dem Täubchen in den Staub duckt!

Was kann einem eitlen, hübschen Mädchen mehr schmeicheln, als, kraft seiner zauberhaften Nähe, den Tiger in ein Lamm zu wandeln?

Und Marga war eitel, grenzenlos eitel. Sie war auch verwöhnt und eigenwillig, sie verlangte, daß sie von jedermann auf Händen getragen werde, sie verlangte die zartesten, liebevollsten Rücksichten, weil sie seit Kindesbeinen auf daran gewöhnt war, die Menschen durch ihre Schönheit und Anmut wie huldigende Sklaven zu beherrschen.

Welch ein Triumph aber war größer als der, Roman Ermönyi, den Brausekopf, den Leidenschaftstollen, den Rücksichtslosesten aller Künstler, so ganz und gar wie Wachs zwischen den Fingerchen zu kneten?

Marga atmete mit leuchtenden Augen hoch auf. Sie eilte ungestüm dem Schloß entgegen, in dessen riesig großem, linkem Seitenflügel die Wohnung des Gutspächters eingerichtet war.

Herr Dallberg war ein älterer Mann, – wie er es notwendig sein mußte, wollte er auf dem »Petrefaktenhof« existenzberechtigt sein –, der mit seiner kränklichen Frau sehr still und zurückgezogen in der Einsamkeit dieses Landsitzes lebte.

Da die Ehe anfänglich kinderlos geblieben, war Marga, die Jungverwaiste, schon in ihren ersten Lebensjahren von dem vortrefflichen Ehepaar aufgenommen und mit größter Liebe und Zärtlichkeit wie ein eigenes Kind erzogen. Als nach fünf Jahren plötzlich der Klapperstorch Einkehr hielt und den entzückten Eltern einen prächtigen Jungen in die Arme legte, dem sogar nach zwei Jahren noch ein Brüderchen folgte, blieb Marga dennoch nach wie vor als allgemein verhätschelter Liebling im Hause, doppelt auf Händen getragen, weil man das arme Kind bemitleidete, dem die Erbschaft der Pflegeeltern nun entgehen mußte.

Die beiden Söhne Dallbergs befanden sich in der benachbarten Provinzialstadt in Pension, weil sie auf Wunsch des Vaters das Gymnasium besuchen sollten, und wenn die blasse, leidende Mutter so still und einsam am Fenster des Schlosses saß, blickte sie voll Sehnsucht über die reizendste aller Gebirgsgegenden, nach jener Richtung, wo ihr Liebstes weilte. Am Sonnabend leuchteten die müden Augen auf in unaussprechlicher Freude, denn am Sonnabend kamen die beiden Rotkappen als sehr junger und stets sehr aufregend lebhafter Besuch nach Schloß Floringhof. –

Marga eilte im Sturmschritte die Treppe empor, entsetzte die Tante durch ihren laut gejammerten, recht wirren Vortrag über das Geschehene und klingelte sehr ungestüm das gesamte weibliche Dienstpersonal zu ihrer persönlichen Hilfeleistung zusammen.

Heißen Tee! – Kognak! Auskleiden! Bett durchwärmen, alle Glieder mit Franzbranntwein reiben, – eine Reihe von Befehlen schwirrten über die Lippen, und der ganze stille Haushalt stand auf dem Kopf, bis die verwöhnte kleine Dame endlich in den weißen, gestickten Kissen lag, Glühwein trank und sehr behaglich in einem Romanbuch blätterte.

Auf ihren Befehl mußte jedoch sofort ein reitender Bote in die Stadt gejagt werden, um den Arzt zu holen, denn Marga ängstigte sich sehr, daß sie womöglich Schnupfen oder Halsentzündung bekommen könne.

Tante Dallberg aber war in allen Zuständen der Sorge und Verzweiflung, denn Marga verstand es, ihre Umgebung durch die düstersten Zukunftsbilder, über alles, was ihr nun passieren könne, aufzuregen.


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