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Zwölftes Kapitel

Wie kalt ist es! – In den Straßen der Residenz liegt hoher Schnee. Pelzvermummte Gestalten eilen hastig vorüber, Dienstmänner und Droschkenkutscher hauchen in die Hände und stampfen frierend mit den Füßen. Schlitten klingeln hin und her, Lastwagen rollen mit plumpen Rädern durch den quietschenden Schnee.

Hinter den verhängten Spiegelfenstern der ersten Etagen pulsiert das warme, gesellige Leben voll Luxus, Geschmack und Karnevalslust, – sich im Lichtgefunkel abstufend und dämpfend, je höher die Stockwerke der palastartigen Bauten emporragen.

Unter dem Dache brennt kaum noch ein spärliches Flämmchen. Hier wohnt, hungert und friert die Armut. – Von hier aus schleicht das Elend hinab in die Gassen, von hier aus ringt sich manch später so hell blinkendes Sternlein eines Selfmadelebens aus den Lumpen, – hier verlischt manch strahlende Leuchte, die ehedem die Welt geblendet, ehe sie in Nacht, Unglück und Vergessenheit unterging. Da, wo die Teppiche auf den goldgegitterten Treppen aufhören, wo nur noch eine Gasflamme in bescheidener Glasschale brennt, ist eine Visitenkarte gegen eine der Flurtüren geheftet.

»Roman Ermönyi.«

Hier droben hinter der Flurtür klingt leises, klagendes Kindergeschrei.

In der Schlafstube steht ein sehr eleganter Kinderwagen neben einem sehr dürftigen Bett.

Soweit es der spärliche Schein des Nachtlichtes erkennen läßt, ist die Einrichtung des Zimmers ein wunderliches Gemisch von luxuriöser Pracht und kümmerlichster Armut.

Auf einer prächtigen Samtottomane liegen Kissen, teils mit wenig sauberen, teils ganz ohne Überzüge, die es verraten, daß hier ein nächtliches Ruhelager aufgeschlagen wird. Zwei Rokokosessel stehen vor einem Tisch, dem die Decke fehlt, und der durch verschiedene Brandmale zeigt, daß manche Speise auf dem Spirituskocher auf ihm bereitet worden war.

Hinter einem großen Badelaken an der Wand hängen kostbare, bunte Kleidungsstücke, die Garderobe einer Sängerin. – Der goldgewirkte Schleier, der ehemals, beifallsumbraust, die Elfengestalt der »Todgeweihten« auf der Bühne umhüllte, hängt schmutzig und zerrissen über dem Kinderwagen. Ein kleines, blasses, kümmerliches Würmchen regt schreiend die abgemagerten Händchen darunter, und eine schemenhafte Frauengestalt hebt sich kraftlos aus den Kissen des Bettes, eine Klingel zu rühren.

Marga Daja! – Sie! – Und doch nicht sie. »Ich bin nur noch der Schatten der Marga!« steht wie in unheimlicher Schrift auf dem abgezehrten farblosen Angesicht. Die blonden Haare hängen ihr wirr in die Stirn, tiefliegende Augen flackern wie im Irrsinn hinter dunkle Schatten.

Ein Mädchen erscheint auf der Schwelle.

»Das Kind schreit – gib mir die Flasche herüber!« stößt Frau Ermönyi hastig hervor; »es ist doch hoffentlich noch Milch da?«

»Viel nicht; ich werde wohl noch für die Nacht Fenchel aufbrühen müssen!«

»Fenchel! Fenchel! Allmächtiger Gott, das gibt doch dem Unglückswürmchen keine Kraft und Nahrung!« schluchzt die junge Mutter verzweifelt. »Gehen Sie, Berta, nehmen Sie die Brokatschleppe vom Haken. Sie hat einst sechshundert Mark gekostet! Vielleicht gibt Ihnen der Händler im Keller hundert – oder fünfzig Mark dafür! Ich muß Milch für das Kind kaufen, und Kohlen! Besorge auch Kohlen, Berta, ich friere unter dem Federbett, und das Kind holt sich eine neue Krankheit!«

»Wird der Herr nicht schimpfen, wenn das Kleid versetzt wird?« fragte Berta ängstlich, das kostbare Stück über den Arm nehmend.

»Es ist mein Eigentum!« stößt Marga rauh hervor. »Wer weiß, ob er es überhaupt merkt! Wenn du weg bist, Berta, schließe ich mich hier ein! Mein Mann kommt vielleicht wieder angetrunken nach Hause und mißhandelt das Kind, wenn es schreit. Das ertrage ich nicht mehr, – ich bin so schwach, so schwach –«

Da zieht ihr gemordetes, vernichtetes Leben in wüsten Bildern vorüber.

Wie weit ist es mit ihr gekommen! Wo ist all das Glück geblieben, das sie an jenem stolzen Erfolgsabend mit Lorbeer und Gold erkaufte!

Hier, in Armut und trostloser Verlassenheit, hat es geendet.

Schritt um Schritt ist es bergab gegangen.

Anfänglich lebten sie wie törichte Kinder in den Tag hinein. Marga mußte ununterbrochen Gastspielreisen machen, die Oper ihres Mannes auf den verschiedenen Bühnen einzubürgern. Zumeist hatten wohl sie und ihr Gastspiel Erfolg, die Oper aber blieb den Repertoiren fern.

Die Unruhe, die Anstrengungen des Reisens bei ungünstiger Witterung schadeten der zarten Gesundheit Margas. Als sie zum erstenmal an der X.er Bühne, die sie engagiert, auftrat, war sie heiser, und ihre Aufnahme eine kühle.

Roman tobte vor Wut. Was er an Margas glänzender Laufbahn erlebte, waren Enttäuschungen, ihre Gastspiele hatten nicht annähernd den Erfolg, den er erwartet hatte, ihr Mißerfolg am hiesigen Theater war von weittragendster Bedeutung.

Seine brutale Roheit trat von Tag zu Tag schroffer zutage. Die anstrengende Tätigkeit eines Dirigenten war ihm schon in den ersten Wochen verhaßt, und sein rücksichtsloses Benehmen, das die Direktion in verschiedenartige Verlegenheiten setzte, trug ihm die Kündigung der Stelle ein. Er war brotlos und lediglich auf seine Operneinnahmen und den Verdienst seiner Frau angewiesen. Dieser war zu behaglichem Leben ausreichend, solange Marga ihren Verpflichtungen nachkommen konnte; als sie aber mehr und mehr kränkelte, als sie schließlich nach der Geburt ihres Kindes so entkräftet war, daß sie kaum noch eine anstrengende Opernpartie übernehmen konnte, fing das Elend an.

Roman Ermönyi bekümmerte sich nicht mehr um seine Familie. Er verbrachte seine Einnahmen in schlechter Gesellschaft, die noch die letzten Keime von Ehr- und Pflichtgefühl in ihm erstickte.

Zu ernster Arbeit war er untauglich geworden, sein niemals bedeutendes Talent war erschöpft. So sank er haltlos von Stufe zu Stufe.

Er spielte und trank und mißhandelte Frau und Kind, wenn er sein wüstes und verkommenes Heim betrat.

Ein langwieriger Katarrh, der in Kopfneuralgie und Heiserkeit ausartete, machte ein ferneres Auftreten als Sängerin unmöglich. Die Theaterdirektion bewilligte einen vierteljährlichen Urlaub, der jungen Frau in liebenswürdigster Weise die Möglichkeit an die Hand gebend, ihre angegriffene Gesundheit wieder zu erlangen. Da aber die notwendigen Mittel zu einer Reise oder Kur fehlten, verrann die kostbare Zeit, ohne ausgenutzt werden zu können, und als sie verstrichen, und Marga kränker als je die Bühne abermals betreten wollte, zeigte es sich schon auf der Probe, daß es eine Unmöglichkeit sei.

Entbehrungen, Gram, Aufregungen und Kinderpflege hatten die zarte Natur der Kranken vollends aufgerieben, und die Kollegen starrten voll tiefer Wehmut die gebeugte, elende Gestalt an, die die ehemals so reizende, berückende und verwöhnte Diva sein sollte!

Roman Ermönyi stand zwischen den Kulissen, die Hände in die Taschen seines Jacketts gesenkt, das verlebte Gesicht voll beinahe gehässigen Ausdrucks nach dem gebrochenen Weib gerichtet.

Seine herzlosen und boshaften Bemerkungen über die verlorene Schönheit und Stimme empörten selbst die frivolsten Anwesenden und machten den Komponisten noch unbeliebter, als er es bereits gewesen.

So groß das Mitgefühl für Marga Daja auch war, sah sich die Direktion doch gezwungen, ihre Verbindlichkeiten zu der Sängerin zu lösen, und dieser neue entsetzliche Schicksalsschlag besiegelte das Unglück der beklagenswerten Frau.

Roman Ermönyi erging sich in wüsten Schmähungen und verfluchte die Stunde, die ihm diesen nichtsnutzigen Ballast von Weib und Kind auf den Nacken gebürdet. Seine Rücksichtslosigkeit kannte keine Grenzen mehr, und was Marga für ihre eigene Person vielleicht voll stumpfer Resignation ertragen hätte – für ihr Kind konnte sie es nicht erdulden!

Alle Folterqualen, die ein Mutterherz leiden kann, marterten sie Tag und Nacht und machten sie immer kränker, immer verzweifelter und mutloser.

Was sollte aus ihr, was aus dem unglücklichen Geschöpfchen werden, wenn Roman fortfuhr, sie derart zu behandeln, sie darben und frieren und verkommen zu lassen? – Oft hat eine leidenschaftliche Sehnsucht sie erfaßt, sie hat die Arme geöffnet und mit fieberglänzendem Blick die Namen derer gerufen, die sie voll empörender Undankbarkeit und Verblendung selber von sich gestoßen!

Wie oft hat sie in den bittersten Stunden der Qual das Haupt auf die gefalteten Hände gedrückt und an Adalbert Eckert gedacht, wie an einen Heiligen, vor dem sie in demütiger Abbitte niederknien muß!

Jetzt, nachdem sie es voll wilden Hasses, voll leidenschaftlicher Empörung mit ansehen muß, wie ihr Mann sein schwaches, hilfloses Kind mißhandelt, jetzt erst lernt sie einsehen, mit welch törichter, gottvergessener Herzlosigkeit sie ehemals den treuesten und zärtlichsten Vater verhöhnte!

Marga drückt schauernd, in heißer Scham erglühend, das Antlitz in die Kissen. In welche Abgründe würde sie getaumelt sein, wenn ihre stolze Ehrenhaftigkeit nicht größer gewesen wäre, wie ihres Mannes Geldgier! Wenn sie sich nicht selber hoch gehalten hätte, da er sie preisgeben wollte! Das war der erste unheilbare Riß, der ihren Ehering und ihr Glück in Stücke springen ließ, – das war die erste wüste Szene mit dem Sklavenhändler Ermönyi, der das Weib, das er selber für Lorbeer und Gold erhandelt, um Geschmeide und Brillanten willen weiter verkaufen wollte, an jeden, der es begehrte!

Marga preßt die geballten Hände gegen die Stirn. Ja, er liebte sie auf seine Art. – Er liebte sie, wie ein gewissenloser Wüstling eine Rose abriß, um sie sonder Scham und Scheu von Hand zu Hand zu werfen, bis sie entblättert.

Gibt es ein Opfer, das zu groß für ein Mutterherz wäre? – Nein!

Und wenn Benedikta, wenn Onkel und Tante Dallberg auch wahrlich zu unversöhnlich sein sollten, der Heimkehrenden Kind aufzunehmen, – einer wird ihm sicher die Arme entgegenbreiten, es voll warmer inniger Rührung an ein Herz nehmen, die so voll von Vaterliebe für die Kleinen schlägt, – er, Adalbert Eckert!

Zu ihm will sie ihr Kind bringen! Will ihn um Vergebung bitten für all die törichten, kindischen Worte, mit denen sie ihn ehemals kränkte, will ihm die Hände küssen und ihn anflehen: »Nimm mein Kind zu dir! Sei ihm, dem vaterlosen, ein zweiter Vater! Liebe es nur halb so, wie du die eigenen Kleinen liebst, und mein Mädchen wird reich und glücklich sein! Ach gib ihm Liebe! Liebe! treue Väterliche! Es ist so bettelarm daran! Dein Herz ist treu und brav, es wird sich erbarmen und Mitleid mit einer Waise haben, die dir der letzte Hilfeschrei einer Mutter in den Arm legt!«

So wird sie sprechen, und Tränen des Mitgefühls werden in den Augen des schlichten Mannes glänzen. Er wird ihr Kind aufnehmen und es lieben, – dann ist es geborgen und beschützt, dann haben Gottes Engel ihm den Weg bereitet.

Und sie? Was wird sie beginnen?

Auch mit ihr wird einer Mitleid haben, – der kleine See, der fernab, still und grundlos tief im Walde liegt.

Sie will ausruhen und schlafen, sie ist müde zum Sterben. Warum noch länger dieses Elend tragen?

Jede Minute ist eine Qual, die sie noch in die Nähe von Roman Ermönyi bannte

Fort, fort, es muß zu Ende kommen!

Wie heiße Glut rinnt es plötzlich durch Margas Adern: der Gedanke, erlöst zu werden aus aller Pein, hat etwas neu Belebendes für sie, und der feste Entschluß, den sie endlich, nach dem langen, langen Ringen und Kämpfen gefaßt, stärkt und beruhigt ihre Nerven. Sie überlegt voll ungeduldigen Eifers den Plan ihrer Reise.

Wenn sie alles verkauft, was sie noch besitzt, erlangt sie genügende Mittel, um die weite Fahrt unternehmen zu können. Nur der Gedanke, unterwegs krank liegen zu bleiben, quält sie. Wird sie überall sofort Aufnahme in einem Hospital finden? Vielleicht hilft es, wenn der Theaterarzt, – der Armenarzt, – ihr ein Attest schreibt?

Jenen unheilvollen Zettel, auf dem er bescheinigt hat, daß Marga ihres Kehlkopfleidens und ihres heftigen Katarrhs wegen dienstunfähig geworden, hat ihr der Direktor als Belag für seine Kündigung mitgeschickt. Vielleicht nutzt auch er ihr.

Berta kommt freudestrahlend zurück. Sie hat die schöne Schleppe zu der ersten Sängerin getragen, die ihr volle zweihundert Mark für das kostbare Stück gezahlt und gefragt hat, ob Frau Ermönyi noch mehr von ihrer Garderobe verkaufen wolle?

Marga wird dunkelrot. Verlegenheit und Scham wollen ihr noch einmal die Kehle zuschnüren. Sie geniert sich, daß die Welt von ihrem Elend erfahren wird. Aber nur einen Augenblick, dann streicht sie mit der Hand über die Stirn und seufzt tief auf.

Wozu noch dieser falsche, lächerliche Hochmut? Was liegt ihr an dem Gerede der Leute? Sie hat mit der Welt abgeschlossen.

Voll dankbarer Freude lobt sie Bertas gute Idee, direkt zu der Sängerin gegangen zu sein. Deren Wunsch, mehr zu kaufen, kommt ihr äußerst gelegen, und die beiden Geldscheine in ihrer Hand wiegen so schwer, als könne sie das viele Geld gar nicht heben.

Der Arzt kommt am andern Vormittag und findet die junge Frau außer Bett. Er freut sich ihres lebhaft angeregten Wesens und des Entschlusses, zu ihren Verwandten reisen zu wollen.

Marga erzählt dem wohlwollenden älteren Herrn rückhaltlos ihr ganzes Unglück, von Anfang ihrer Ehe bis auf den heutigen Tag.

Ein Armenarzt tut manch tiefen Einblick in häusliches Elend, aber die körperliche und seelische Not dieser unglücklichen

Mutter schneidet ihm weher in das Herz wie alles andere Leid, dessen Zeuge er geworden. Er verspricht ihr, einen persönlichen Empfehlungsbrief zu schreiben, den sie an den betreffenden Arzt, in dessen Hospital sie aufgenommen werden möchte, im Fall einer Verschlimmerung ihres Leidens während der Reise, abgeben solle.

Marga sieht ihn flehend an: »Dann bitte ich Sie um eine Freundlichkeit, Herr Doktor, nennen Sie nicht den allzu bekannten Namen meines Mannes; es würde mir quälend sein, durch ihn besondere Aufmerksamkeit zu erregen, da ich meine Gastspiele als Madame Ermönyi absolvierte. Mein Mädchenname ist weniger bekannt geworden, – außerhalb der Residenz hat wohl kaum eine Menschenseele etwas von Marga Daja erfahren. Wollen Sie die Liebenswürdigkeit haben und mich in Ihrem Schreiben nur ›die Sängerin Marga Daja‹, ohne Zusatz von Frau oder Fräulein, nennen?«

Der Arzt versprach, ihren Wunsch zu erfüllen, und schickte ihr noch an demselben Tag einen unterzeichneten und untersiegelten Brief, in dem er bat, »der Sängerin Marga Daja, die durch ihr langwieriges Leiden bühnen- und sangesunfähig geworben, wenn irgend möglich, Aufnahme in der p. p. Klinik oder Krankenhaus zu ermöglichen, und zwar, wenn irgend angängig, kostenfrei, da sich die Künstlerin in äußerst bedrängten Verhältnissen befindet.«

Marga war unbeschreiblich dankbar und barg den Brief als wertvolles Kleinod auf der Brust.

Zum letzten Male saß sie allein und von allen verlassen in ihrem kahlen, ausgeräumten Stübchen. Zum letzten Male sollte sie mit ihrem Liebling unter dem Dache ihres Mannes schlafen, dieses Erbärmlichen, dem sie ihren Fluch und Haß als einziges Andenken zurückließ.

Das blonde Haar war in spärlichem Knoten an dem Hinterhaupt geschürzt, silberweiße Streifen färbten es an den Schläfen, und das schwarze Kleid hob die marmorne Masse, die Abgezehrtheit ihres Gesichtchens, das schmal und welk wie der Kelch einer verschmachtenden Blume auf die Brust niedersank. Ein kleines Bündel mit den notwendigsten Habseligkeiten für das Kind lag neben ihr auf der Erde, die Kleine selbst lag mit großen, offenen, wehmütig blickenden Augen auf ihrem Schoß.

Gegenüber, schräg an der Wand, hing der große Rasierspiegel ihres Mannes. Er warf das Bild von Frau und Kind zurück.

Margas Blick traf ihn, – schaudernd wandte sie das Haupt, und bittere Tränen stürzten haltlos über ihre Wangen.

Der Wind schrillte um das Haus. Klang nicht eine Melodie aus ihm hervor? »Hell wie das Morgenlicht lächelt die Ferne, glückliche Sterne täuschet uns nicht!«

Marga trocknet die Augen und blickt wie in stummer, verzweifelter Anklage zum Himmel.

Der Stern der Liebe hatte sie getäuscht, es war ein Irrlicht gewesen, das sie tückisch verlockt hatte, in Nacht und Tod hinaus zu taumeln.

Welke Lorbeerkränze hängen an der Wand. In jäh aufquellender Bitterkeit reißt sie Marga herab und tritt sie unter die Füße. Sie waren an jenem Premierenabend der Kaufpreis ihres falschen Glücks. Es stirbt im Staub, wie er, – es stirbt, wie auch Marga sterben wird. – Fort, fort! Die Zeit ist um!

 

Die gelbe Postchaise, die von der Bahnstation nach der kleinen Kreisstadt in den Bergen fuhr, hatte um diese frühe Frühlingszeit wenig Passagiere zu befördern, und der Postillon riß erstaunt die Augen auf, als eine blasse, schlicht gekleidete Frau, ein sorgsam eingehülltes Kind im Arm, über den Perron schritt, um in die Postkutsche einzusteigen.

Marga stieg ein, und nach kurzer Rast setzte sich die Kutsche in gemächliche Bewegung.

Die Sonne stand schon tief, und ihre Strahlen malten schräge, gelbzitternde Streifen auf das schwarzfeuchte Waldmoos, aus dem der frische, herbe Erdgeruch des Frühlings emporstieg.

Von den kahlen Zweigen tropfte es noch in blinkenden Perlen, und der Weg war weich und grundlos, bedeckt von zahllosen Wasserlachen, die der Regen auf ihm gebildet.

Ein paar Vogelstimmen, – ein leises Rascheln und Knistern in der niederen Kiefernschonung zur Rechten der Straße, sonst tiefe, friedliche Stille.

Eine tiefe, unbeschreibliche Wehmut überkommt die verlassene, verratene Frau.

Wie mit Zaubergewalt steigt die schöne alte Zeit vor ihren geistigen Augen empor, wo sie noch als glückseliges, jubelndes Kind durch diese Wälder und Felder gestreift, wo die Welt so weit offen vor ihr lag, wie ein lachendes Paradies, in dem weder Schlange noch Sünde lauert!

Wie anders, wie furchtbar anders ist alles gekommen! Die Erinnerung an die erste Begegnung mit Eckert füllt ihr die Seele mit unauslöschlicher Qual. Damals und jetzt! – Sie sieht wieder den Blick heißen Entzückens, mit dem er ihre reizende Gestalt umfaßt, in naivem Märchenglauben eine Waldelfe in ihr vermutend, und sie gedenkt des Ausdruckes im Gesicht des Kutschers soeben, als er sie voll Mitleid und Erbarmen unentgeltlich noch ein Stückchen Weges weiter fahren wollte!

Wo sind die Zeiten hin, da Marga Dajas eigenartige Schönheit die Männeraugen voll Zaubergewalt fesselte?

Was ist von ihr geblieben?

Die junge Frau schauert zusammen wie im Fieberfrost. Häßlich, krank, arm – verlassen und verloren. Keine Liebe! Keine Bewunderung, kein anbetendes Entzücken, – nur noch Mitleid und Jammer um das unglückselige, kümmerliche Weib, das den Tod im Antlitz trägt.

Eine grausame, fürchterliche Wandlung.

Margas Herz schreit wild auf unter den Qualen der Scham und Demütigung.

Wie wird Eckert sie bei diesem Wiedersehen anblicken? Ebenso mitleidig, – so gerührt und erbarmungsvoll wie der Postillon, dem das Elend der unbekannten jungen Mutter an das Herz gegriffen?

Wer weiß es? – Auch Eckert ist ein Mensch, ein schwacher, sündhafter Mensch, in dessen Seele die Rache schlummert, dessen verschmähtes Herz nach Vergeltung lechzt, dessen verletzter Stolz über den Sturz und das Unglück der Feindin triumphieren will! Ist das nicht natürlich und gerechtfertigt? Würde es Marga anders gemacht haben, stände sie an seiner Stelle?

Er schied dermalen im Groll und Zorn von ihr. Der Bruch mit den Verwandten, der schnöde Undank gegen Benedikta werden seinen rechtlichen Sinn vollends empört und gegen sie gekehrt haben!

Wie konnte sie nur in wahnwitzigen Fieberphantasien wähnen, Adalbert Eckert werde sich ihres Kindes erbarmen?

Er würde es wohl aufnehmen, wenn sie, die Bettlerin, ihn kniefällig darum anflehen würde, aber sein Blick würde alles ausdrücken, was sein Inneres erfüllt, er würde keine Huldigung mehr, sondern eine Beleidigung für Marga Daja sein.

Heiße Glut steigt schwindelnd in die Schläfen der Einsamen. Sie schämt sich vor Adalbert Eckert! Ihr Stolz bäumt sich wild auf gegen die Demütigung, die sie von ihm erdulden muß.

Jetzt, wo jeder Baum, jede Berglinie sie an die Zeit ihres Triumphes, ihres Übermutes, ihrer Höhe gemahnt, jetzt empfindet sie es doppelt qualvoll, wie tief herabgesunken sie ist, wie armselig, wie verächtlich sie geworden.

Es ist so schwer, so bitter schwer, voll Reue als verlornes Kind in die Heimat zurückzukehren!

Sie fürchtet sich vor den Vorwürfen, sie graut sich vor dem Gnadenbrot, das sie im Hause der Verwandten essen soll.

Welch eine trostlose Zukunft! Wie niederdrückend! Wie peinigend für sie, nutzlos und hilflos durch die Welt zu gehen. Das kann und will sie nicht. Sie will sterben! – Sterben! Sie zittert in dem Gedanken an ein Wiedersehen mit all jenen Leuten im Schloß; warum soll sie sich die Qual, ihnen die Genugtuung bereiten?

Warum soll sie den Leidensbecher bis zur Hefe leeren und noch bitten?

Die Sonne ist gesunken, Nebelschleier verhüllen die Berge, tiefe, wehmütige Schatten decken das Tal.

Das Lied des Postillons ist verklungen. Mühsam haben sich die Pferde die steile Straße emporgeschleppt, dann geht es in flottem Tempo wieder bergab, und nun ragen dunkle Tannen zu beiden Seiten des Weges und künden die Nähe des Floringhofer Parkes an.

Der Wagen hält, und der Postillon knallt zum Zeichen mit der Peitsche. Er springt herab und öffnet den Schlag.

Sie steigt schwerfällig aus und umklammert das leise weinende Kind mit den Armen.

Der Postillon will sprechen, aber eine unbekannte Scheu verschließt seine Lippen. Er sieht der schmächtigen Gestalt schweigend nach, wie sie hastig den nassen Weg entlang wankt.

Wie haben ihre Augen so tot und glanzlos geblickt! Wer ist sie und was will sie in Floringhof? – Ihn fröstelt. Gott erbarme sich ihrer, sie geht keinen leichten Gang.

Nachdenklich steigt er wieder auf und zuckt die Zügel, – die Post rollt lautlos davon. –

Marga schreitet hastig aus. Sie beruhigt das Kind und küßt voll leidenschaftlicher Zärtlichkeit das verkümmerte kleine Gesichtchen.

Ein wehes Lächeln fliegt über ihr Antlitz, als es wieder an ihrer Brust einschläft, – zum letzten Male wohl.

Dort glänzen Lichter, dort winkt das Schloß.

Es ist Essensstunde. Die Leute sind in der Gesindeküche versammelt. Onkel und Tante Dallberg sitzen in der traulichen Wohnstube, – Flur und Treppen werden leer sein.

Marga schluchzt auf und beschleunigt ihre Schritte. –

Währenddessen sitzt der neue Gutspächter in seinem Arbeitszimmer und starrt nachdenklich in die Dämmerung.

Ein tiefer Seufzer hebt die Brust des einsamen Mannes. Ja, sein Haus ist jetzt schön und traulich, weit und groß, ohne Mangel und Sorge, aber es ist dennoch nur ein toter Körper, dem die Seele fehlt.

Die kleine, weiche Frauenhand fehlt, die belebend über dieses kühle, starre Heim streicht, die Liebe der Gattin und Mutter fehlt, die in den duftlosen Kranz die unverwelklichen Blüten des Glückes flicht.

Er sollte heiraten! – Von allen Seiten drängt man ihn und redete ihm zu. Junge, blühende, liebenswürdige Mädchen lächeln ihn an, als ob sie durch stumme Blicke sagen wollten: »Komm und wirb um mich, – es soll nicht vergebens sein!« – Aber Adalbert Eckert schüttelt traurig das Haupt. Sein Herz schlägt keiner von allen entgegen.

Er streicht mit der Hand über die Stirn, als wolle er die Träume fortwischen und wieder zur Wirklichkeit erwachen. Was hatte er doch heute abend besorgen wollen?

Richtig, – den Hühnerhof!

Die Wirtschafterin klagt neuerdings so sehr, daß die Füchse aus dem nahen Wald allzu kecke Raubzüge in den Geflügelhof unternehmen! Der Volontär hat schon ein paar Abende mit der Büchse auf Anstand gesessen, aber es ist nicht möglich, den schlauen Rotröcken beizukommen.

Nun will Eckert ein paar Fuchseisen stellen und sehen, ob diese ihre Sache besser machen werden als der Volontär.

Er erhebt sich, um die Fallen von dem Boden herunterzuholen, – er findet sie im Dunkeln, weiß, wo sie liegen.

Die beiden Eisen in der Hand, steigt er langsam die Treppe wieder herab. Droben auf dem Absatz, wo die Strahlen der kleinen Flurlampe bereits hinreichen, bleibt er stehen, den Mechanismus zu prüfen.

Eine halbe Treppe tiefer liegt der weite, viereckige Korridor vor ihm, auf den die Türen seiner Wohnung münden, und zu dem die gewundene Steintreppe vom Hausflur, rechter Hand, emporführt. Tiefe, feierliche Stille. Plötzlich ein Laut, ein leiser, scheuer Schritt.

Eckert kennt ihn nicht. Wer schleicht so vorsichtig herzu?

Er tritt weiter in den Schatten zurück und späht mit scharfem Blick zu dem Kommenden herab.

Eine Frauengestalt?

Er kennt weder den dunklen, weiten Mantel, noch das schwarze Tuch, das den Kopf umhüllt. Das Gesicht kann er nicht sehen.

Die Fremde trägt sehr vorsichtig ein Bündel, lugt scheu und zaghaft nach allen Seiten, – huschte jählings vor und legt ihre Last vor der Stubentür nieder. Ein gurgelndes, kurzes Aufschluchzen, – ein Stöhnen wie das eines Sterbenden, – und dann wendet sich das fremde Weib, zieht das Tuch tief über das Antlitz und stürzt in wilder Hast die Treppe wieder hinab. Was bedeutet das?

Mit zwei Sprüngen steht Eckert neben dem Kleiderbündel und faßt es. – Ein Kind! Ein lebendes, aufweinendes Kind!

Er reißt die Zimmertür auf. »Hanne! Hanne! Sorgen Sie für das kleine Wesen hier!« schreit er mit bebender Stimme, und dann stürmt er voll haltloser Erregung hinter der Fremden her.

Er sieht die dunkle Gestalt just hinter der Gartenpforte verschwinden, als er die Haustür erreicht. Ohne Besinnen hastet er ihr nach.

Vor ihm, im matten Windeslicht, flieht das Weib, Wer ist sie? Wer kommt nächtlicherweile, ein kleines, hilfloses Kind vor seiner Schwelle auszusetzen?

Eine Floringhoferin ist's nicht – und doch, die Enteilende scheint genau Bescheid zu wissen, sie wählt voll großer Sicherheit den Weg zum Wald.

Dieser Pfad führt nach dem Teich!

Ein jähes, lähmendes Entsetzen packt Eckert. Nun weiß er es plötzlich, wohin die Unglückliche vor ihm strebt. Ein wilder Schreck, ein unbeschreibliches Weh preßt ihm das Herz zusammen. Schnell, schnell, ehe das unglückselige Weib ihre grausige Tat ausführen kann!

Mit der Kraft der Verzweiflung eilt er vorwärts, Ein rauher Schrei bricht aus seiner Kehle.

Die Verfolgte hört ihn, schrickt zusammen und wendet sich nach ihm um. Wie in schaudernder Abwehr hebt sie beide Arme wider ihn, strauchelt und stürzt. Aber sie reißt sich wieder empor und taumelt dem Wasser entgegen, das schon dicht vor ihr durch das laublose Gehölz blinkt.

Ihre Kräfte schwinden, sie wankt – ein herzzerreißender Klagelaut tönt von ihren Lippen. Sie klammert sich an einen Buchenstamm und preßt das Antlitz gegen die feuchte Rinde.

Da steht Eckert neben ihr und packt in zitternder Aufregung ihre Arme: »Wohin, du Gottverlassene?« stößt er mit bebenden Lippen hervor.

Sie will weiter, – sie kann es nicht, – sie will sich regen, – ihre Glieder versagen den Dienst. Sie will voll Verzweiflung gegen ihn ringen, das Kopftuch gleitet herab, ihr Antlitz starrt ihn an. Wohl ist es bis zur Unkenntlichkeit entstellt, aber Adalbert fühlt es, weiß es, wer sie ist.

»Marga!« – schreit er auf, er gibt sie frei und taumelt zurück.

Da sieht er, wie ihre frostgeschüttelte Gestalt schwer vornüber auf seine Füße zusammensinkt. Die umklammernden Hände lösen sich und gleiten auf das regenfeuchte Moos.

Das bringt ihn wieder zum Bewußtsein.

Voll bebender Angst faßte er ihre federleichte, elende, kleine Gestalt auf die Arme und wendet sich hastig nach dem Weg zum Schlosse zurück.

Der See blitzt im Mondschein grell auf, – Adalbert wendet schaudernd den Blick und stürmt mit seiner traurigen Last heimwärts.

Wie der Frühlingswind ihm so kühl über die Stirne streicht, wie es so seltsam aus dem Moos emporduftet! Wolken jagen am Himmel, ein neuer Regenschauer tropft wie kalte, schwere Tränen auf die beiden einsamen Menschen nieder.

Regungslos hängt der Frauenkörper auf seinen Armen,

Das geisterhaft bleiche Antlitz ist zurückgesunken, die blonden Haarsträhnen fallen wirr und tief über Stirn und Wangen.

Ist sie bewußtlos? Hat die furchtbare Qual dieser Stunde die zarte Menschenblüte geknickt?

Voll unaussprechlicher Sorge, mit stockendem Herzschlag blickt Eckert auf die geschlossenen Augen nieder, neigt das Haupt und lauscht auf die Atemzüge, die schwach, wie erlöschende Seufzer, ihre Brust heben. – Sie lebt!

Dem barmherzigen Gott sei Lob und Dank dafür!

Der Pächter von Floringhof weiß es nicht, wie er das Schloß erreichte, er weiß es nicht, wie er mit seiner unglückseligen Bürde in das stille Zimmer kam. Das Händeringen und die Schreckensrufe der alten Hanne mahnen ihn zuerst wieder an seine Umgebung. Er bettet die Ohnmächtige behutsam in die Kissen, er ruft mit leiser Stimme nach der Mamsell, daß sie der Kranken die ersten Hilfsleistungen angedeihen lasse.

Hanne schickt er zu Baroneß Floringhoven mit der dringenden Bitte: »Baroneß möge ihm mit Rat und Tat bei der Pflege einer Unglücklichen helfen!«

Hanne hat auf den ersten Blick, mit wahrem Entsetzen, Marga Dallberg erkannt. Allmächtiger Gott, wie kommt das arme, arme Frauchen zu ihnen zurück! – Nun weiß sie auch, wem das jammervolle Würmchen zugehört, das sie soeben vom Flur aufgenommen und mitleidig getränkt und warm gebettet haben.

Benedikta und Gräfin Lotzenburg eilen durch den breiten Verbindungskorridor unverzüglich herzu. Eckert tritt ihnen mit verstörtem Gesicht, farblos wie ein Sterbender, entgegen. Er vermag kaum zu sprechen.

Gräfin Lotzenburg starrt entsetzt auf dieses junge verzweifelte Geschöpf, das jetzt wohl den starren Todesschlaf tief unten im Wasser schlief, wenn nicht Gottes weiser Wille es anders beschlossen.

Sie ist ein leicht erregtes, für alles Außergewöhnliche und Sensationelle sehr empfängliches Gemüt, und so legt sie voll eifriger Fürsorge sofort selber mit Hand an, die Beklagenswerte zu entkleiden und ihr Stirn und Schläfen mit belebenden Essenzen einzureiben. Eckert hat sich selber auf ein Pferd geworfen, dem Wagen vorauszueilen und den Arzt zu benachrichtigen. Er hat die inständige Bitte an die Damen gerichtet, das traurige Vorhaben der Kranken sowohl dem Doktor, wie allen Floringhovern vorzuenthalten.

Gräfin Lotzenburg nestelt sorglich die Taille Margas auf, und wie sie ein Papier unter ihren Fingern knistern hört, nimmt sie vorsichtig den Brief, der fraglos geschrieben ist, Aufschlüsse über die Person und die Tat der Selbstmörderin zu geben, von der Brust der Kranken und läßt ihn in ihre Tasche gleiten, damit er in keine unrechte Hände falle.

Frau Ermönyi öffnet mit tiefem Seufzer die Augen und blickt wild um sich. »Wo ist Ada? Wo ist mein Kind?« schreit sie auf.

Benedikta faßte ihre Hände und blickt ihr in die Augen. »Es schläft, Marga, und ist wohl behütet, ebenso sicher geborgen und beschützt wie Sie!«

Einen Augenblick brennt der Blick der Genannten verständnislos auf dem Antlitz der Sprecherin, dann läuft ein Zittern durch ihre Glieder, sie sinkt in die Kissen zurück und schluchzt leise auf: »Benedikta! Ach Benedikta!«

Fräulein von Floringhoven umschließt die eiskalten kleinen Hände voll inniger Zärtlichkeit.

»Ich bin bei Ihnen, Sie arme, liebe kleine Frau! Wir alle, Ihre treuen Freunde sind hier und heißen Sie von ganzem Herzen in der Heimat willkommen! Regen Sie sich jetzt nicht auf! Denken Sie nicht, – schlafen Sie in dem süßen Bewußtsein, wohlgebettet daheim zu sein!«

Als der Arzt spät nach Mitternacht an ihr Lager tritt, starrt er voll wehmütiger Teilnahme in das abgezehrte, farblose Gesicht.

»Sie fiebert nicht stark, es ist wohl irgendeine große Gemütserregung, Entkräftung und Überanstrengung der Reise, die diesen Zustand hervorrufen. Wenn sie erwacht, bitte ich, ihr dieses Pulver zu geben, es wird sie beruhigen. Alsdann dürfte sehr kräftige Ernährung und unbedingte Ruhe die beste Arznei für die sehr ermattete junge Frau sein; ob irgendein andres, tieferes Leiden vorliegt, kann ich jetzt selbstverständlich nicht konstatieren, hoffe es aber nicht.«

Auch das Kind sah er an. Hanne hatte unter Tränen versichert, das elende Würmchen könne kaum den Morgen erleben, es sei ja nur eine Handvoll Knöchelchen und beinahe zu schwach, um trinken zu können!

Da Gräfin Lotzenburg fürs erste keine Gelegenheit fand, sich bei der Krankenpflege nützlich zu machen, zog sie sich in ihre Zimmer zurück.

Sie setzte sich in den Sessel neben dem summenden Teekessel nieder und zog den Brief Margas aus der Tasche, ihn aufmerksam zu betrachten.

Er war nicht verschlossen.

Ein Gemisch von lebhaftem Interesse und etwas Neugierde, vielleicht die Beweggründe zu dem unfaßlichen Vorsatz der Lebensmüden zu erfahren, nahm sie den Bogen aus dem Umschlag und öffnete ihn.

Überrascht neigt sie sich vor.

Ein ärztlich unterschriebenes und gesiegeltes Attest? Was ist das?

Sie überfliegt den Inhalt mit den Blicken, und plötzlich schnellt ihr Haupt empor und starrt mit weit offnen Augen in das Leere, just, als staune Gräfin Lotzenburg einen ganz außerordentlichen, genialen Gedanken an, der ihr plötzlich wie eine gebratene Taube aus dem Schlaraffenland in den Schoß gefallen.

War es ein Traum, was sie hier las?

Die Bitte und Befürwortung eines Arztes an einen ungenannten Hospitalvorstand, sich der kranken, vermögenslosen, in höchst bedrängten Verhältnissen lebenden Sängerin Marga Daja barmherzig anzunehmen und ihr, wenn möglich, Aufnahme, ärztliche Behandlung und Pflege angedeihen zu lassen.

Das, was der Gräfin Lotzenburg ein wenig unerfüllbarer Wunsch geschienen, das Attest eines Armenarztes, hielt sie plötzlich, unerwartet und unvermutet, in den Händen.

Marga Daja ging unter in dem Namen der Madame Ermönyi, die auch ihrerseits nur ein paar flüchtige Gastspiele absolvierte.

Wer kennt und weiß in dieser schnellebenden Welt noch etwas von Marga Daja?

Prinz Percy am wenigsten, er liebt das Theater nicht und besucht es nicht, – mußte er auf Befehl einmal einer Oper beiwohnen, in welcher Marga Daja sang, hat er weder ihren Namen auf dem Zettel gelesen, noch die Sängerin eines längeren Blickes gewürdigt. Die Assistenzärzte seiner Klinik aber sind zumeist Süddeutsche oder Österreicher, die fraglos nie den Namen noch die Person einer Marga Daja auf der Bühne kennengelernt.


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