Ferdinand Emmerich
Jenseits des Äquators
Ferdinand Emmerich

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Vierzehntes Kapitel

Wir wagen den Wasserweg

Strandung im Wasserfall. – Wir machen einen Gefangenen. – Ein braunes Mädel und zwei leere Konservenbüchsen.

Mitternacht war vorüber. Die silberne Mondsichel schimmerte matt über einem wogenden Nebelmeer. Aus den sumpfigen Wiesen am linken Ufer des Chilive zogen sich lange Schwaden. Sie stiegen kerzengerade empor, knickten in dem scharfen Luftzug, der von den fernen Bergriesen herüberwehte, zusammen und lagerten sich müde auf die undurchdringliche weiße Schicht. Immer höher wuchs die feuchte Mauer in den Äther. Immer weiter rückte sie gegen den Fluß vor.

»In solchen Nächten wagt sich kein Wilder auf den Fluß!« Felipe brach das lange Schweigen, das unserer Aussprache, ob wir das Wagnis unternehmen wollten oder nicht, gefolgt war. – Wir standen vor der Wahl: ein viele Tagereisen langer, beschwerlicher Fußmarsch durch ein von feindseligen Indianern durchschwärmtes Land, mit einem schweren Tragsack auf dem Rücken, oder die Kanufahrt auf dem rasch fließenden Strom, mitten durch das Gebiet der Jibarros. In vierundzwanzig Stunden konnten wir unter den Pumayas schlafen.

»Wagen wir es!« rief ich schließlich. »Der Nebel wird uns schützen. Hier können wir nicht bleiben. Die frischen Spuren, das noch glimmende Feuer, das wir kurz vor Sonnenuntergang bei den Felsen fanden, sagen uns deutlich genug, daß wir den Tag hier nicht erwarten dürfen.«

»Denn mit Gott!« brummte der Doktor. Er stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den Baum und rollte ihn mit unserer Unterstützung in den Fluß. In Erinnerung an ähnliche Fahrten in der Südsee hatte ich die Bordwände unseres Einbaumes derart mit Zweigen besteckt, daß ein oberflächlicher Beobachter sich vielleicht täuschen ließ. Und da wir bei Tagesanbruch irgendwo im ruhigen Wasser den Tag über bis zum nächsten Mondaufgang rasten wollten, konnte es das Glück vielleicht geben, daß unsere List gelang.

Man glaubt ja gern, man könne erreichen, was man sehnlichst erhofft.

In der Mitte des Chilive faßte uns eine heftige Strömung, die unser Fahrzeug pfeilschnell durch das Wasser jagte. Wir lagen auf den Knien, durch Bordwand und Büsche gegen Sicht von außen gedeckt. Ich steuerte. Felipe lag vorn im Ausguck und meldete die auftauchenden Hindernisse. So ging die Fahrt flott vonstatten. Wir durcheilten dichte schwarze Wälder, schossen durch beängstigend hohe Felsentore und tauchten wieder in Nebelwände ein.

Aus dem Felsenmeer im Osten hob sich der goldene Sonnenball. Weiter riß uns die starke Strömung. Die weiße Schutzmauer geriet in wogende Wallung. Wird sie erst das Land oder erst das Ufer freilegen?

Da drang ein donnerndes Geräusch vom rechten Ufer herüber. Die tanzenden Nebelmassen wälzten sich wie kochender Schaum über das Land. Wie von Milliarden Diamanten durchsetzt, funkelte eine schneeige Wolke über dem Fluß. Und mit dem Tosen wuchs der feine Wasserdunst, der sich über unsern Körper legte.

»Doktor! Ein Wasserfall!« schrie ich gellend durch den Lärm.

Dr. Perez schoß bei diesem Schreckensruf so schnell in die Höhe, daß auf ein Haar das Kanu sein Gleichgewicht verloren hätte. »Wo? Um Gottes willen, stoppt das Boot!« rief er.

»Nicht im Fluß! Zur Rechten!« brüllte Felipe. Und schon donnerte ein Regenguß auf uns hernieder, der unser Boot sofort bis zum Rand füllte. Wie ein leichter Span wirbelte das Fahrzeug in der kochenden Flut. Dann ein Ruck, ein Knirschen, und unter dem donnernden Gebrüll des stürzenden Wassers krochen wir, halb ertrunken, auf eine vorspringende Felszacke.

Wir waren regelrecht gestrandet. Gestrandet in dem Becken eines von rechts sich in den Chilive ergießenden Wasserfalles. Unser Kanu hatte sich in die von den wirbelnden Wassern gegen das Ufer geschleuderten Sandmassen eingewühlt, und nur dadurch waren wir aus dem Strudel gerettet worden.

Es dauerte eine geraume Weile, bis wir die Sprache wiederfanden. Stumm, geistesabwesend, den Kopf von dem wirbelnden Tanz des Einbaumes benommen, unwillkürlich auf ein Nachlassen des ohrenbetäubenden Lärmes wartend, kauerten wir auf dem felsigen Vorsprung. Unsere Blicke kreuzten sich. Sie flogen von den gespannten Mienen des Gefährten zu dem schwankenden Fahrzeug, das allein unsere Rettung aus diesem Hexenkessel ermöglichte. Jeder erwog bei sich, wie der schwere Baum flottzumachen wäre ....

Ich kroch dicht an den neben mir liegenden Doktor und brüllte ihm meine Vorschläge ins Ohr. »Wir müssen den Kahn retten, sonst versandet er! Felipe muß ins Wasser und den Baum quer zu legen versuchen. Wir helfen ihm von dieser Seite. Dann heraus mit dem Gepäck, sonst fürchte ich für die Haltbarkeit der wasserdichten Überzüge. – Vor den Wilden, falls sie sich hier aufhalten, sind wir durch den dichten Wasservorhang gedeckt, und jedes Geräusch geht in dem Tosen verloren.«

Während Dr. Perez Felipe verständigte, sprang ich in die schäumende Flut. Vorsichtig watete ich durch die metertiefe Rinne, die das in dünnen Fäden an den Felswänden herniederrieselnde Wasser zwischen Wand und Sandbank gegraben hatte. Mehr als einmal drohte mich der wirbelnde Sog niederzuziehen, doch erreichte ich endlich das Hinterteil des Kanus, das ziemlich hoch auf dem Sande lag.

Meine erste Sorge galt den Waffen. Gottlob, sie lagen noch dort, wo ich sie, zum sofortigen Gebrauch bereit, befestigt hatte. Zwar waren die Läufe der Büchsen bis zum Rande vollgelaufen, die Revolver saßen aber in ihren dichten Umhüllungen.

Nachdem ich mit des Doktors Hilfe unser gesamtes Gepäck auf die Sandbank gebracht, war das Heben des Fahrzeuges leicht. Schon nach einer halben Stunde schwamm es in der Rinne. Wir vertauschten alsbald unsern harten Felsensitz mit dem Kanu und begannen dann, Vorbereitungen zu unserer Befreiung aus dem nassen Gefängnis zu treffen. Dazu mußten wir vor allen Dingen unsere Umgebung kennenlernen. Der Doktor und Felipe erkletterten, der eine von rechts, der andere von links, die Randfelsen um das vor uns liegende Gelände, auf unsere Sicherheit hin zu erkunden. Ich selbst bemühte mich inzwischen, die Waffen instand zu setzen und für die Zusammenstellung eines tüchtigen Mahles zu sorgen. Das war eine schwere Aufgabe. Nur das, was in wasserdichten Säckchen, Schweinsblasen oder Blechbüchsen aufbewahrt wurde, konnte noch gebraucht werden. Allerdings schwammen in der Rinne prächtige Fische. Sie zu fangen hatte aber keinen Zweck, weil keine Möglichkeit war, sie zuzubereiten. Mit der Munition hatte ich mehr Glück. Nur wenige Patronen waren verdorben. Immerhin war der Verlust derselben äußerst schmerzlich in einer Gegend, in der an eine Ergänzung nicht zu denken war.

Der Doktor kam zuerst zurück. Seine Meldung lautete wenig tröstlich. Der Wasserfall entsprang einem stufenförmig über unsern Köpfen aufgebauten Felsenriesen, dessen Gipfel sich in den Wolken verlor. Auf dem jenseitigen Flußufer, in etwa einem Kilometer Entfernung, lag das Dorf eines Indianerstammes. An Stelle der Hütten begnügten sich diese Eingeborenen mit offenen, aus Zweigen hergestellten Ranchos. Ein Zeichen für ihr Nomadentum. In geringem Abstand vom Wasserfall, flußaufwärts, waren einige Männer beim Fischfang mittels Wurfspeeren. Sie benutzten dazu Kanus, die durch eine Art Anker auf einer Stelle festgehalten wurden.

»Wahrscheinlich sind diese Wilden keine Jibarros«, schloß Dr. Perez, »denn soviel ich mich erinnere, sollen letztere seßhaft sein und daher in Hütten wohnen. Ein Besuch bei den Leuten scheint mir indessen nicht ratsam, solange uns noch ein Weg bleibt, ungesehen weiterzukommen.«

»Ganz meiner Meinung, lieber Doktor. Es wäre aber möglich, daß wir uns bereits im Gebiet der Pumayas befinden. Dann hätte es keinen Zweck, uns zu verbergen. Der Stamm soll uns ja freundschaftlich gesinnt sein.«

»Quien sabe! Doch dort kommt Felipe. Ich sehe seine Beine in dem Spalt baumeln – dort – links von dem hellen Zacken«, brüllte der Doktor.

»Alle Wetter! Das ist Felipe nicht!« rief ich, sprang über Bord und watete auf die Stelle zu, an der ein Paar braune Beine sich sichtlich um einen Stützpunkt bemühten. – Als sie eben festen Halt gefunden hatten, fiel uns ein Speer vor die Füße, dem eine Matte folgte. Unmittelbar darauf hielten wir einen Indianer in den Händen, der vor abergläubischem Entsetzen zusammenklappte und einen lauten Schreckensruf ausstieß. Zum Glück konnte der Schrei nicht gehört werden.

»Grüß' Gott, Braunfell!« rief ich dem zitternden Mann zu, indes der Doktor daran ging, ihm die Arme an den Körper zu schnüren. »Es tut mir leid, daß wir dich nicht höflicher empfangen können. Bist du ein Sohn der Jibarros oder der Pumayas?«

Von der ganzen Rede verstand der völlig nackte Wilde natürlich nur die beiden Stammesbezeichnungen. Er antwortete jedoch nicht sofort, sondern sah sich erst forschend um. Beim Anblick des Kanus dämmerte es ihm doch wohl, daß er nicht etwa Geister, sondern leibhaftige Menschen, wenn auch von einer andern Rasse, vor sich habe. Sein Gesicht nahm eine geringschätzende Miene an. Dann drückte er durch Handbewegungen seine Verachtung über die genannten beiden Stamme aus.

»Wer bist du denn sonst? Leben hier noch andere Wilde? Bist du ein Caupolican?« fragte ich, mit dem Finger auf seine Brust deutend.

Auch diese Frage wurde mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan. Der junge Mensch begann aber zu sprechen und rief uns mit lauter Stimme eine Anzahl abgehackter Worte zu, in denen der Name »Canilos« einige Male vorkam. – Ich erinnerte mich, von dem Stamm schon gehört zu haben.

»Also du bist ein Canilos?«

Er nickte so heftig, daß es aussah, als müsse ihm der Kopf davonfliegen.

Wir überlegten noch, was wir mit dem Gefangenen beginnen sollten, als Felipe aus dem Wasser auftauchte.

»Hallo, wen habt ihr denn da?« fragte er erstaunt. Er ging auf den Mann zu und betrachtete aufmerksam seine Bemalung.

»Von der Sorte liegen auf dieser Seite sechzehn Männer und fünf Frauen. Drüben laufen noch mehrere umher. Alle sind mit Speeren, Keulen und Bogen bewaffnet. Was mich am meisten wunderte – ich schlich mich ziemlich nahe an die Gruppe heran – ist aber, daß die Indianer Christen sein müssen, denn sie schienen zu beten und machten dabei das Zeichen des Kreuzes. Nur stimmt damit die Kleidung nicht. Die Missionare werden es nie erlauben, daß die Frauen nackt umherlaufen.«

Bei den Worten »cristianos« horchte der Wilde auf. Unverzüglich machten wir nun die Probe und sagten ihm das Vaterunser erst auf spanisch, dann auf lateinisch vor. Das verstand er nicht. Felipe holte nun aus seinem nassen Hemd ein kleines Kruzifix und zeigte es dem Wilden. Er betrachtete aufmerksam die Darstellung, dann beugte er das Knie und versuchte seine Hände zu falten.

»Ein Canilos ist das«, rief Felipe, als ich von meinem Untersuchungsverhör berichtete, »von denen hat mir das Indianermädchen etwas erzählt – aber was nun? – hm – ja, daß sie den Jibarros an Falschheit ebenbürtig sind.«

»Aber jetzt wollen wir vor allen Dingen essen und dabei beraten, was wir mit dem Braunfell anfangen«, erwiderte ich. »Was hast du da draußen entdeckt?«

»Nur diese Gesellschaft – und ich denke, wir schenken den Brüdern nicht allzu großes Vertrauen. – Da iß«, unterbrach er sich, indem er dem Canilo ein Stück dürres Fleisch in den Mund, schob. »Du wirst auch Hunger haben, und ich vermute stark, daß du heute noch eine lange Reise machen mußt.«

»Wieso – was meinst du damit?«

»Daß wir den Mann als Geisel mitnehmen. Wenn die Burschen uns feindlich gegenübertreten, zeigen wir ihnen ihren Stammesbruder. Sie werden sich dann besinnen, uns anzugreifen.«

»Hm, der Gedanke ist nicht schlecht. Suche nun aber zuerst aus dem Menschen herauszubringen, wo die Jibarros und wo die Pumayas wohnen. Wir können es von dem am besten erfahren.«

Da wir das Tageslicht für die Ausfahrt aus unserm Gefängnis benutzen mußten, hatten Dr. Perez und ich alle Hände voll zu tun, um den Kahn wieder instand zu setzen. Das Gepäck wurde besonders sorgfältig verstaut und durch Felle und Matten vor dem zu erwartenden Sturzbad nach Möglichkeit gesichert.

Felipe glaubte von unserem Gefangenen verstanden zu haben, daß wir erst beim Zusammenfluß von zwei Strömen sowohl auf Jibarros als auf Pumayas stoßen würden. Die größere Gefahr drohe uns jedoch von den Canilos, die den jungen Mann wahrscheinlich bereits vermißten. Die Wilden konnten uns ganz bequem die Schädel einschlagen, wenn sie sich dort am Ufer aufstellten, wo es für uns den einzigen Weg zum Ausbruch aus unserm Gefängnis gab. Und daß sie das tun würden, sobald sie uns aufgespürt hatten, darauf konnten wir schwören.

Demnach mußten wir sofort aufbrechen. Wir machten uns reisefertig und luden den jungen Wilden in das Boot. Kaum merkte er jedoch, daß er mit uns fahren sollte, als er sich so wild herumwarf, daß der Baum beinahe kenterte. Vergebens bemühten wir uns, dem Indianer begreiflich zu machen, daß ihm kein Leid geschehe. Er gebärdete sich wie ein Wahnsinniger und schrie und tobte, als ob er schon das Messer an der Kehle hätte.

»Es hilft nichts, wir müssen den Kerl hierlassen«, rief ich endlich. »Er glaubt sicher, wir brächten ihn zu den Jibarros, und die scheint er ebenso zu fürchten wie – na, wie wir. Felipe, wirf ihn über Bord und setze ihn auf den Felsblock. Seine Kumpane werden ihn schon holen.«

Nunmehr schoben wir den Kahn vorsichtig am Ufer, entlang. Kurz vor dem Durchbruch durch den nassen Vorhang trieben ihn unsere vereinten Kräfte zu schnellster Fahrt – ein prasselnder Regen, dann schwammen wir in blendendem Sonnenschein in ruhigem Schaukeln der Mitte des Chilive zu.

Sofort bemerkten uns die Indianer. Ein einziger Schrei des Erstaunens durchzitterte die Luft. Man sah in dem Gebahren der Menschen den abergläubischen Schrecken, den ihnen das plötzlich auftauchende Fahrzeug einflößte. Die auf dem Flusse vor und hinter uns ankernden Kähne lösten sich und strebten eiligst dem Ufer zu, während jene Männer, die noch zu weit vom Land entfernt waren, einfach ins Wasser sprangen und ans Ufer schwammen. Erst als wir die Personen kaum noch erkennen konnten, wagten sich die Canilos wieder auf den Fluß.


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