Ferdinand Emmerich
Jenseits des Äquators
Ferdinand Emmerich

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Sechstes Kapitel

Eine gestörte Untersuchung

»Und das sagen Sie erst jetzt?« – Eine Martermatratze. – Die eigenen Knochen sind doch wertvoller als alle alten Mumien.

Der Doktor berichtete, daß Antonio sich und seine Barke vor dem Sturm rechtzeitig in Sicherheit gebracht habe und uns heute wieder abholen wolle.

»Und was beginnen wir unterdessen?« fragte ich. »Bei Tage dürfen wir die Arbeit an der Chulpa nicht wieder aufnehmen. Ich möchte die Mühe aber auch nicht umsonst gehabt haben und schlage daher vor, mit Einbruch der Dunkelheit den Gang soweit wie möglich vorzutreiben. Es ist nicht anzunehmen, daß uns ein Indianer in den Kanal folgt, und wenn schon...«

»Dann wird er freundlichst eingeladen, bei uns zu bleiben«, ergänzte der Doktor.

»Wie soll ich das verstehen?«

»Na, es liegt doch auf der Hand, daß wir ihn nicht freilassen können, bevor wir nicht selbst in Sicherheit sind...«

»Aber es darf dem Menschen kein Schaden zugefügt werden!« sagte ich.

»Das ist doch selbstverständlich.«

Beim Aufstieg auf die Höhen erwähnte ich so beiläufig meine Begegnung mit dem Indianer, dessen Spur ich in dem nassen Grase verloren hatte.

»Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der Mann den Zweck meiner Arbeit in dem Dornengewirr richtig erkannt hat«, fügte ich hinzu. »Also können wir ziemlich sicher auf unerwünschten Besuch rechnen.«

»Daß der Indianer den Inhalt des Grabmals kennt, glaube ich nicht«, erwiderte der Doktor. »Die heutigen Aymara sind so habgierig, daß sie auch vor einem Grabe keine Scheu an den Tag legen würden, wenn ihnen dort irgendein Gewinn winkt. Ihr Widerstand gilt viel eher den Weißen überhaupt, weil sie mit den Schatzsuchern böse Erfahrungen gemacht haben. Wenn der Aymara einen Weißen in seinem Gebiete findet, so wird er in erster Linie an das Vorhandensein von Schätzen glauben. Diese betrachtet er dann als sein Eigentum und sieht in dem Fremden den Eindringling, den Feind, den zu beseitigen ihm sein Gesetz erlaubt. In diesem Sinne handelten auch die Eingeborenen, die uns bei Chulpamac sowie drüben auf dem Ostufer des Titicacasees so hart zusetzten. Von dem Inhalt der Gräber, soweit es sich nicht um Edelmetalle handelt, wollen sie nichts wissen.«

»Demnach wäre es am einfachsten, wenn wir ein paar Aymaras mit in den Bau nähmen?«

»Die bringen Sie nie dazu! Erstens haben sie eine abergläubische Furcht vor Begräbnisstätten überhaupt, und dann fürchten sie sich auch, mit Weißen in unbekannte Tiefen hinabzusteigen. Den Beweis dafür haben Sie vor kurzem in den Bergen gehabt. Dort an der Inkastraße liegt das alte Goldbergwerk. Seit Jahrhunderten wohnen die Aymaras in den Ruinen der alten Wohnstädten. Sie leiden oft Hunger, trotzdem sie mit leichter Mühe Gold genug aus den alten Schächten hätten holen können. Selbst als sie sahen, daß der schlaue Spanier mit ein paar goldhaltigen Quarzstücken aus dem Stollen zurückkehrte, waren sie nicht zu bewegen, seinem Beispiel zu folgen. Sie zogen vor, den unvorsichtigen Hispaniolen zu ermorden und sich auf diese Weise in den Besitz des Goldes zu setzen.«

»Nun, dann brauchen wir unsere hiesigen Nachbarn nur davon zu überzeugen, daß es uns nicht um Edelmetalle, sondern um die Mumien zu tun ist, die wir in der Chulpa finden werden. Zu dem Zwecke brauchen wir unsern Felipe. Der versteht die Sprache und ist allen Indianern an Gerissenheit über. – Wenn nur das Boot endlich käme! Entdecken Sie es noch nicht?«

»Segel sehe ich genug«, entgegnete der Doktor. »Ob aber unsere ›Misericordia‹ darunter ist, kann ich nicht unterscheiden.«

»Wenn wir ein Signal aufpflanzten? Antonio wird froh sein, wenn er nicht auf gut Glück in den Klippen herumsuchen muß.«

»Sie haben recht! Ein großes Feuer aus grünem Holz wird eine weithin sichtbare Rauchsäule entwickeln...«

»Da weiß ich viel Besseres«, entgegnete ich. »Meine Kleider sind noch nicht trocken. Wir binden sie an ein paar Äste und lassen sie im Winde flattern. Das ist ein nicht mißzuverstehendes Zeichen unserer Anwesenheit und verschafft mir gleichzeitig, trockene Kleidung. – Im übrigen sind wir ja allein hier oben!«

Wir mußten lange warten, bis sich ein Erfolg unserer optischen Telegraphie zeigte. Es ging schon auf die Mittagsstunde, als wir endlich bemerkten, wie ein Segler sich aus der Fischerflotte löste. Mit vollen Segeln glitt er auf die Küste zu, und eine halbe Stunde später konnte der Doktor durch das Glas feststellen, daß es tatsächlich die »Misericordia« war. Wir erwarteten Felipe oben auf der Anhöhe. In seiner Begleitung erschien der Schiffsknecht, der uns zur Eile antrieb.

Sein Patron könne nicht lange warten, da er bereits eine neue Heuer angenommen habe.

Dr. Perez übernahm es, mit Antonio zu verhandeln. Er wollte gleichzeitig die erforderlichen Geräte und Lebensmittel ausschiffen. Felipe blieb bei mir.

Als die beiden abgezogen waren, weihte ich Felipe in unser Vorhaben ein.

»Du hältst mir die Indianer vom Halse, während ich in dem Gange weiterarbeite. Was du ihnen als Grund meiner Anstrengungen angibst, ist mir einerlei. Nur sorge dafür, daß mir keiner in den Tunnel nachkriecht. Sollte der Doktor zurückkehren, dann zünde vor dem Eingang ein Feuer an. Das ist unauffällig. Gleichzeitig kochst du das Mittagsmahl, denn ich bin schon jetzt halb verhungert.«

»Alles in Ordnung, Don Fernando«, erwiderte Felipe. »Wenn ich aufpasse, wird Ihnen schon nichts zustoßen.«

Das Innere meines dornigen Kanals erwies sich heute belebter als gestern. Durch das Abhauen der Büsche war dem Licht Zugang geschaffen worden, und es wimmelte da drinnen von allen Arten mehr oder weniger bissiger Insekten. Auch einige Skorpione hatten bereits ihre Wohnung unter den Steinen aufgeschlagen und hoben bei meiner Annäherung drohend den giftigen Haken an ihrem Schwanzende. Ein Schlangenpärchen lag eng ineinandergeringelt inmitten des Weges. Mit schläfrigen Bewegungen haschten sie nach vorübereilenden Käfern, ohne von meinem Vordringen Notiz zu nehmen. All diesen friedlichen Zuständen mußte ich mit rauher Hand ein Ende bereiten, bevor die ersten Schläge meines Messers über die Hügel hallten.

Je weiter ich in den Dornbusch eindrang, um so unangenehmer wurde die Arbeit, nicht nur die Stämme wurden härter und stärker, sondern auch die Pflanzen schienen dem Eindringling wehren zu wollen. Da in dem Tunnel ein Halbdunkel herrschte und ich nicht viel sehen konnte, so mußte ich manch schmerzhaften Stich verbeißen und manchen Hautriß geduldig hinnehmen. Einmal griff ich kräftig in die Äste einer Kaktusart und war im nächsten Augenblick von den nichtswürdigen Stacheln so festgehalten, daß ich nur mit großer Mühe die Hand aus der Umklammerung freimachen konnte. Natürlich war sie so mit den spitzen, widerhakigen Nadeln gespickt, daß ich gezwungen war, den Rückzug anzutreten.

So ganz ungeschoren sollte ich aber das Tageslicht noch nicht erreichen. Auf irgendeine Weise war eine Wespenfamilie in meinen Tunnel gelangt. Sie hing, wie ich später feststellte, in einer Traube mitten im Gang. Als ich nun, rückwärtskriechend, mit der Gesellschaft in unsanfte Berührung geriet, fielen die erbosten Tierchen wütend über mich her und hatten mich im Handumdrehen derartig zerstochen, daß ich vor Schmerz laut aufschrie. Bis zur Unkenntlichkeit verschwollen, gelangte ich endlich ins Freie.

Dort saßen neben Felipe zwei Indianer, die bei meinem Erscheinen erschreckt aufsprangen und davonliefen.

Meine erste Frage war nach dem Gepäck. Ich brauchte dringend Salmiak, denn ich fühlte, daß mein Gesicht in wenigen Minuten jede Form verlieren würde. Leider war der Doktor noch nicht da. Ich mußte mich in das Unvermeidliche fügen. Um die brennenden Schmerzen in der Hand loszuwerden, gab ich Felipe die Pinzette und befahl ihm, die Stacheln aus der Haut zu ziehen.

Während er sich eifrig der Beschäftigung hingab, fragte ich ihn, warum denn die Eingeborenen so plötzlich davongelaufen wären.

»Sie werden Furcht gehabt haben!« antwortete Felipe mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck.

»Warum denn? Sehe ich denn so furchtbar aus?«

»Das gerade nicht«, erwiderte er mit einem prüfenden Blick in mein geschwollenes Gesicht. »Denn vorhin sahen Sie noch nicht so aus wie jetzt. Aber die Männer wollten wissen, wer dort in dem Dickicht sei.«

»Nun – und was sagtest du?«

»Ein Weißer.«

»Und was weiter?«

»Sie wollten wissen, warum der Weiße den Gang schlüge.«

»Was antwortetest du darauf?«

»Ja – Don Fernando – das war nun schwer zu erklären, ohne daß sie Verdacht bekamen. Da habe ich eben etwas sagen müssen, was sie erschreckte...«

»Und was hast du da gesagt?«

»Sie müssen verzeihen, Don Fernando, aber es ging nicht anders..., ich mußte ihnen Furcht einjagen, und weil ich weiß, wovor sie am meisten Angst haben, da sagte ich ihnen...«

»Aber so sprich doch endlich, was hast du denn gesagt?«

»Der weiße Mann sei verrückt geworden, habe ich ihnen erklärt – es blieb mir weiter nichts übrig.«

Einen Augenblick war ich starr, dann lachte ich laut los.

»Mensch, du bist gut!« rief ich. »Allerdings, wenn ich mich in meinem jetzigen Zustande betrachte, dann kann ich dir gar nicht so unrecht geben. Das war die einzige richtige Auskunft, die du erteilen konntest.«

»Was ist denn hier los?« fragte der Doktor, der eben schweißtriefend und keuchend unter der Last des schweren Rucksacks um die Steine bog.

»Doktor, wissen Sie, wie uns Felipe den Eingeborenen gegenüber hingestellt hat? Als Verrückte, die, einer fixen Idee folgend, Gänge in Dornbüsche hauen und dort hineinkriechen.«

»Hm, wenn man Sie so ansieht, kann man ihm nicht so unrecht geben. Sie sehen kaum noch einem Menschen ähnlich!«

»Danke sehr, Doktor. Felipe sprach auch von Ihnen. Vom Standpunkt der Wilden aus muß unsere Arbeit ja auch wirklich als die Tat von Verrückten angesehen werden!«

»Um so mehr, als wir den Gang gar nicht brauchen, um auf die Chulpa zu gelangen«, erwiderte Perez.

»Was sagen Sie da?« fuhr ich auf.

»Das wir von der andern Seite bequem auf das Dach des Grabmals klettern können. Ich war schon oben!«

»Und das sagen Sie jetzt erst? Und lassen mich wie wahnsinnig in den Dornen arbeiten?«

»Ging leider nicht anders, da ich den Weg eben erst entdeckte, als ich mich in der Richtung auf Sie ein wenig irrte. Na, Sie haben dafür ja hübsche Insektenbekanntschaften gemacht, wie ich sehe, und das entschädigt Sie doch sicher für die paar Stunden Arbeit, nicht wahr?«

Ich würdigte ihn keiner Antwort auf diesen blutigen Spott hin, sondern bat ihn höflichst, er möge mir wenigstens jetzt seine Entdeckung möglichst schnell vorführen, denn der Tag ging zur Neige, und in der Dunkelheit hätten wir den Einstieg nicht gefunden.

Mit einem wehmütigen Blick auf den mit so saurem Schweiß hergestellten »Kanal« verließ ich den Platz, und wir erreichten wirklich ohne besondere Mühe die Kämme der Felsen, in deren Gabelung die Chulpa eingebettet lag.

Hier fesselte mich zunächst das unvergleichlich schöne Panorama. Das Auge schweifte frei über die gewaltige blaue Wasserfläche, deren Spiegel von zahlreichen Segeln bedeckt war. Drüben im Osten erhob sich aus einem Kranz wogender Nebelschichten der schneebedeckte Gipfel des 6500 Meter hohen Sorata. Fern im Süden zeichnete sich der nicht minder hohe Illimani gegen den Horizont. Beide Berge bestieg damals Dr. Güßfeld als erster. Drohend, von schwarzen Gewitterwolken umgeben, schob sich, wie eine massive Mauer, im Nordosten der Grenzgebirgszug gegen Bolivien in den Vorgrund. Von seinem höchsten Gipfel, dem sich auf 5400 Meter erhebenden Sunchulli, sah man nur einen wuchtigen Zacken. Ungleich mehr Interesse erweckte in uns die südwestlich gelegene Kette der Ubinasberge sowie das Atasaragebirge. In ersterem bestanden wir vor wenigen Wochen unangenehme Scharmützel mit Indianern. Die Schluchten des letzteren bargen das Kirchlein des Padre Facinto. In den Antasarabergen lag auch die Chulpa, um deren Erforschung wir durch die Eingeborenen gebracht wurden.

Heute schien uns das Glück günstig zu sein. Kein Indianer ließ sich blicken. Das dankten wir wahrscheinlich Felipes Erzählung von den verrückten Weißen, vor deren Zaubereien sie Angst hatten. Er hatte mal wieder das Richtige getroffen, und dafür war ich ihm dankbar. Ob in seiner eigenen Auffassung von unserer Arbeit nicht doch ein Körnchen von seiner weitergegebenen Weisheit enthalten war – das wollte ich lieber nicht so genau untersuchen.

Wir machten uns also alsbald an die Arbeit. Felipe sollte als Wachtposten unten bleiben, während Dr. Perez mir den neu entdeckten Weg zeigte.

Es waren nur wenige Meter bis zum Dache des Grabmals. Aber hier standen die Dornen womöglich noch dichter als unten. Denn hier oben fanden die Pflanzen ihre Lebensbedingungen im reichsten Maße, und kein Stäubchen Erde gab es da, auf dem nicht eine üppige Vegetation wucherte.

Dr. Perez fiel der Hauptanteil an der Arbeit zu. Ich litt noch an meinen Wunden. Die Kaktusstacheln konnten nur unvollkommen aus meiner Haut entfernt werden, und ich mußte mich darauf beschränken, das wegzuräumen, was der Doktor zusammenhieb. Auch ihm blieben Überraschungen nicht erspart. Er störte einen Schwarm der großen schwarzen Wespen auf und konnte sich nur durch schleunige Flucht vor deren Stichen retten. Immerhin trug er ein paar recht ansehnliche Beulen davon.

Als die Sonne sich anschickte, hinter den Chilabergen zu verschwinden, war der obere Teil der Chulpa freigelegt. Wir sahen nun, daß es sich um einen elliptischen Bau handelte, dessen Entstehen mein fachkundiger Gefährte in das neunte Jahrhundert nach Christi Geburt verlegte. Das Grabmal hatte eine Höhe von etwa acht Meter und bestand aus gewaltigen, sorgfältig behauenen Porphyrblöcken, die aufeinandergetürmt und in den Fugen mit Mörtel verbunden waren. Den oberen Abschluß bildete eine einzige Steinplatte. Sie maß über zwei Meter im Quadrat und konnte etwa vierzig Zentimeter dick sein. Um den Abfluß des Regens zu ermöglichen, hatte man den Stein glatt behauen und in eine geneigte Lage gebracht.

Staunend fragt man sich, wie es möglich war, daß ein Volk, dem der Gebrauch des Eisens unbekannt war und das weder über Pferde noch Zugtiere verfügte, derartige gigantische Blöcke bearbeiten und in ihre heutige Lage bringen konnte. Dabei passen die Kanten der Blöcke haarscharf aufeinander, und die Bearbeitung ist so peinlich genau ausgeführt, daß wir es mit unseren heutigen vollkommenen Werkzeugen auch nicht besser machen könnten.

Unsere erste Sorge war die Auffindung der Öffnung über der Eingangstür, aus der die Leiber bei der Auferstehung hinausgelangen sollten.

Diese fensterartige Öffnung entdeckten wir an der Ostseite der Chulpa. Genau wieder an jener Stelle, wo die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne die Öffnung treffen mußten. Sie befand sich etwa zwei Meter unterhalb des Daches. Um zu ihr zu gelangen, mußten wir versuchen, von dem an dieser Stelle überhängenden Monolithen auf einen Felszacken hinüberzuturnen. Von dort führten die Äste eines Feigenbaumes bis dicht vor den gesuchten Eingang.

»Glauben Sie, den Sprung wagen zu können?« fragte Perez, als wir die weiter einzuschlagenden Schritte beraten hatten.

Ich maß die Entfernung mit den Augen.

»Die zwei Meter Breite würden mich nicht abschrecken«, erwiderte ich. »Nur fürchte ich, den Zacken zu verfehlen. Er ist kaum einen halben Meter breit, und in dem Zwielicht springt es sich schlecht. Allerdings bieten die Sträucher genügend Halt, wenn es wirklich zu einem Fehlsprung kommen sollte.«

»Nun, dann los! Das Gewehr können Sie hier liegenlassen. Das stiehlt Ihnen niemand.«

»Nein, nein, Doktor. Von der Waffe trenne ich mich nicht. Wer weiß, wo ich drüben lande. Wir sehen wohl den grünen Wust dort unten, aber wir wissen nicht, was er unseren Blicken verbirgt. Ich habe gelernt, in solchen Fällen vorsichtig zu sein.«

»Na, tiefer als acht Meter können Sie nicht fallen. So hoch ist die Chulpa, und die schwebt doch nicht in der Luft.«

»Mag sein, Doktor. Wenn ich drüben bin, reden wir weiter. Legen Sie nur das Seil zurecht, damit ich die Verbindung herstellen kann. – Also: Los! Hoffentlich geht alles glatt ab.«

Ich befestigte die Büchse auf dem Rücken, nahm einen Anlauf und sauste einige Sekunden später mit dem Gesicht voran in ein dichtes Myrtengebüsch. Den Zacken hatte ich zwar richtig erreicht, durch den Anprall löste sich aber ein Stück ab, und ich saß nun rittlings auf dem kurzen verbliebenen Bruchteil. Der heftige Schmerz machte mich für einige Sekunden unfähig, auch nur ein Glied zu rühren. Erst als ich bemerkte, daß die schwachen Zweige, in die ich mich instinktiv eingekrallt hatte, nachgaben, biß ich die Zähne zusammen, stemmte das Knie gegen die steile Wand und versuchte, mich auf die Füße zu stellen. Eine ganze Weile tastete mein Fuß vergeblich nach einem Halt. Ich rutschte dabei langsam tiefer in die Büsche...

Der Doktor hatte mit begreiflicher Unruhe meinen Bemühungen zugeschaut. Von seinem erhöhten Stande aus konnte er die Möglichkeiten einer Rettung aus meiner verzweifelten Lage besser beurteilen. Er rief mir zu: »Wenn Sie eine halbe Drehung nach rechts ausführen, können Sie einen Ast des Feigenbaumes erfassen!«

Ich versuchte, den Rat zu befolgen. Mit zusammengebissenen Zähnen, die heftigen Schmerzen in den Schenkeln überwindend, bog ich mich in der angegebenen Richtung zur Seite. Dadurch brachte ich meinen Kopf unter den Ast. Ich ließ die Myrtenzweige fahren und griff hastig nach der stärkeren Stütze. Unter der Last bog sich der Ast weit nach unten. Ich machte die verzweifeltsten Anstrengungen, wenigstens den einen Fuß, der noch auf dem Steinstück hing, als Stütze zu verwenden. – Vergebliche Mühe! Eine Minute später schwebte ich, an den Händen hängend, frei in den Blättern des grünen Mantels. Tiefer bog sich der Ast. Der Halt entglitt meinen Händen, und mit dumpfem Krachen fiel ich in das Buschwerk, das splitternd und brechend über mir zusammenschlug.

Ich fiel nicht bis auf den Boden. Die durch die Schlingpflanzen zu einem undurchdringlichen Flechtwerk zusammengewebten Strauchmassen hielten mich fest. Ich lag wie auf einer Matratze. Als ich aber die erste Bewegung machte, fing es um mich her an zu summen. Die zahllosen Insekten, die schon zur Ruhe gegangen waren, nahmen blutige Rache an dem Störenfried. Zum zweiten Male in wenigen Stunden mußte ich einen Angriff der kleinen Wespen aushalten, der noch verstärkt wurde durch Bienen, Ameisen, Spinnen und viele andere Plagegeister.

Wohl eine Viertelstunde lang lag ich unbeweglich in meinem duftigen Grabe. Wie aus weiter Ferne drang des Doktors Stimme an mein Ohr. In seinen dringenden Ruf mischte sich auch die Stimme Felipes. Aber vor Erschöpfung konnte ich kein Lebenszeichen geben. Helfen konnten sie mir, jetzt in der Nacht, doch nicht. – Die Chulpa? Die Toten hatten sich diesmal schon im voraus gerächt. Einer der Störenfriede ihrer Grabesruhe war schon bestraft...

Ein fürchterlicher Menageriegeruch drang unvermittelt mit der warmen Ausdünstung der Pflanzen zu mir herauf. Er war mir aus den Antasarabergen nur zu gut bekannt. In meiner Nähe hielt sich ein Puma auf. Vielleicht ein Pärchen. Oder, noch schlimmer, ein Weibchen mit Jungen.

Nun griff ich zur Büchse. Unter großen Anstrengungen, die das ganze Insektenvolk wieder rebellisch machten, brachte ich sie in meine Hände. Vor allen Dingen untersuchte ich sie, um nicht im entscheidenden Augenblick einen Versager zu erleben. Dann erhob ich mich auf die Knie. Bei dem Versuch, mich auf die Füße zu stellen, brach mein Tritt durch, und nun saß ich wieder in der denkbar unbequemsten Stellung. Das linke Knie trug das ganze Körpergewicht, während das rechte Bein tief unten in dem Strauchwerk nach einem festen Stützpunkt suchte. Dabei störte ich wieder eine Menge Insekten auf. Je mehr ich aber deren Angriffe abzuwehren mich bemühte, desto zorniger wurden die Quälgeister. Es zwickte und stach, daß ich oft vor Schmerz laut aufschrie.

Diese Laute betrachtete das benachbarte Raubtier wahrscheinlich als Herausforderung zum Kampfe. Erst leise, dann zornig drang das heulende Gebrüll in mein Gefängnis. Da der Ton von verschiedenen Seiten her hörbar wurde, und ich weder das Brechen der Zweige noch sonst ein Geräusch vernahm, nahm ich an, daß ich nicht mehr weit von einem offenen Gelände sein konnte. Das gab mir meine Kraft zurück.

Ich griff zum Messer. Da mich jetzt dicke Finsternis umgab, konnte ich mich nur nach dem dumpfen Knurren der Raubtiere richten. Dorthin mußte ich mir den Weg ins Freie bahnen. Mutig ging ich ans Werk. Zuerst hieb ich meine »Matratze« zusammen. Ich mußte wieder festen Boden unter den Füßen fühlen, sonst war an eine Befreiung nicht zu denken. Wenn die Gefährten jetzt gerufen hätten, würde ich geantwortet haben. – Ich schrie und brüllte meinerseits, aber der Schall verlor sich in der grünen Wand. Nur der Puma ließ nach jedem Rufe ein kurzes Geheul hören. – Das zeigte mir wenigstens den Weg.

Plötzlich stellte ich meine Arbeit ein. Wenn die Raubtiergesellschaft hier ihr Lager hätte? Wenn sie mitten im Dickicht auf der Lauer läge? Beim ersten Schusse mußte ich dann wenigstens einen davon auf dem Halse haben. Und in einem Dickicht, das mir jede Bewegungsfreiheit nahm!

Minutenlang lauschte ich. Die ruhige Überlegung kehrte zurück. Solange ich den penetranten Geruch nicht wieder wahrnahm, lag keine unmittelbare Gefahr vor. Ein Nest befand sich also nicht in der Nähe.

Wieder hieb ich in nervöser Hast in die dornige Mauer. Zweig um Zweig sank vor mir nieder. Dann fanden meine Füße festen Halt. Und nun kam ich schneller vorwärts. Bald wurde es lichter im Busch. Ich konnte die Sterne leuchten sehen. – Da trug ein Luftzug wieder den scharfen Raubtiergeruch zu mir herüber. Rasch hieb ich um mich her Bresche, so daß ich nun im freien Gebrauch meiner Glieder nicht mehr gehindert war.

Die Büchse im Anschlag, stand ich regungslos. Das Auge gewöhnte sich nach und nach an das Halbdunkel der Nacht. Ich unterschied die Bäume und das Gestein in meiner nächsten Umgebung. Ein mächtiger schwarzer Schatten drängte sich rechts in den Vordergrund – die Chulpa! Das schwer erkämpfte Grabmal lag in greifbarer Nähe vor mir.

Irgendwo knackte ein Zweig. Die Büchse flog an die Wange. Ich fühlte, daß vor mir an der gegenüberliegenden Wand ein feindliches Wesen im Versteck lauerte. Totenstille umgab mich. Trotzdem wußte ich, daß ich nicht allein hier auf dem Platze war. Ein nicht zu bestimmendes Geräusch, wie das Nagen einer Maus, unterstrich die lautlose Stille.

Plötzlich löste sich ein Schatten von der Feldwand.

»Hallo! Doktor!« wollte ich schreien, aber das Wort erstarb mir auf den Lippen. Ein Indianer stand vor mir. Er spähte aufmerksam in die Höhe, auf den Eingang zur Grabstätte. Dann machte er ein Zeichen mit der Hand, und zwei andere Gestalten traten zu ihm. Alle drei waren bewaffnet.

Perez sitzt in der Chulpa! schoß es mir durch den Kopf. Nun galt es, ihn vor der Gefahr zu warnen. Rasch entschlossen nahm ich einen Baum neben dem Indianer zum Ziel und feuerte. Unmittelbar darauf gellte ein heulender Aufschrei durch die Nacht, und das Prasseln der Büsche verriet die eilige Flucht der Indianer.

Jetzt rief ich den Namen des Doktors.

»Gott sei Lob und Dank, daß Sie da sind!« tönte es aus der Luke der Chulpa. »Ich sitze hier bereits eine Viertelstunde und wage nicht, mich zu rühren. Die Braunfelle haben die Grabstätte umzingelt. Ohne Ihre Hilfe wäre ich ein toter Mann! Haben Sie einen erschossen?«

»Ich denke nicht daran!« rief ich. »Es war nur das Schreckensgeheul vor dem vermeintlichen Zauber, das sie ausstießen. Nun kommen Sie aber schleunigst herunter, denn lange wird die Angst bei den Kerlen nicht vorhalten.«

»Ach, wenn Sie sähen, was hier alles zu holen ist...«

»Werden Sie jetzt sofort herunterkommen, Doktor?« sagte ich bestimmt. »Sonst lasse ich Sie in der Klemme sitzen.«

»Aber werfen Sie nur einen Blick in den Raum. So etwas sahen wir noch in keinem Grabe!«

»Wenn Sie nicht augenblicklich herunterkommen, lasse ich Sie allein«, erwiderte ich. »Die Eingeborenen sind uns auf den Fersen, und – ich kann ihnen das nicht verdenken. Es sind ihre Vorfahren, deren Grabesruhe sie schützen wollen. – Also kommen Sie rasch, ehe die Indianer mit Verstärkung zurückkehren.«

»Wenn Sie die Mumien sähen...«, beharrte der Doktor.

»Meine Knochen sind mir lieber als ein Dutzend noch so schöner mumifizierter Aymaras«, rief ich zurück. »Wenn die Kerle einen Angriff unternehmen, fließt Blut, und das will ich unter allen Umständen vermeiden.«

»Dann helfen Sie mir herunter«, sagte Perez resigniert.

»Wie sind Sie überhaupt in die Öffnung gelangt?« fragte ich zurück.

»Felipe hat mich am Seile herabgelassen.«

»So! Und mich lassen Sie Hals und Beine riskieren, um einen möglichst gefährlichen und zeitraubenden Weg zu suchen? Doktor, Doktor, das vergesse ich Ihnen nicht.«

Unterdessen hatte sich Perez mit Hilfe des Seiles auf den Boden herabgelassen. Er reichte mir die Hand und bat um Verzeihung.

»Die alte Forscherkrankheit«, sagte er zu seiner Entschuldigung. »In der Hast nach Ausbeute vergißt man alles, selbst die Vorsicht.«

»Von den Freunden gar nicht zu reden«, fügte ich hinzu. »Schauen Sie mich nur an, wie ich wieder zugerichtet bin. Bei Tage wird mich selbst Felipe nicht erkennen, so verschwollen sehe ich aus.«

»Armer Kerl!« rief er bedauernd. »Mich tröstet nur das eine, daß sie den Zustand schon gewohnt sind. Solange ich die Ehre genieße, mit Ihnen zu reisen – und das mögen bald drei Monate sein –, sind Sie mindestens dreißigmal in ähnlicher Verfassung zum Lager gekommen.«

»Ich nehme das im Sinne einer Entschuldigung an. Nun aber ist genug geschwatzt worden. Geben Sie Felipe das Signal, und dann fort!«

Im ersten Morgendämmern langten wir am Strande am.

Antonio schlug bei meinem Anblick die Hände über dem Kopf zusammen.

»Misericordia, Don Fernando, wie sehen Sie aus! Wer hat Sie denn so zugerichtet?«

»Dies erzähle ich Euch während der Fahrt, Don Antonio.« Können wir jetzt segeln? Wo ist Felipe?«

»Der ist auf die Jagd gegangen.«

Schon nach wenigen Minuten kam Felipe zurück. Er schleppte fünf Enten mit, bei deren Anblick uns das Wasser im Munde zusammenlief.


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