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Neununddreißigstes Kapitel

Der nächtliche Gast

Asbjörn Krag war so leise ins Zimmer getreten, daß Sonja ihn erst entdeckte, als er drinnen war. Sie stand halb gebeugt, den Rücken zur Tür gewandt, ganz in ihre Beschäftigung vertieft; Brief nach Brief flog in das flackernde Feuer. Sie wurde erst auf Krag aufmerksam, als er die Tür hinter sich zuzog und den Schlüssel umdrehte. Mit einem Schrei fuhr sie zurück. Sie streckte beide Hände von sich, als ob sie ein Gespenst sähe oder einen Angriff erwarte. Als sie ihn aber erkannte, sagte sie, indem sie erleichtert aufatmete:

»Ach, Sie sind es. Sie sind es nur.«

Im nächsten Augenblick aber wurde ihr das Seltsame der Lage klar, und indem sie zum Glockenzug eilte, rief sie:

»Ein Verrückter!«

Krag aber, der alles vorgesehen hatte, war schneller als sie, und stellte sich zwischen sie und den Glockenzug. Er war ernst und bestimmt und sprach wie einer, der keinen Widerspruch duldet.

»Ich will Ihnen nichts Böses tun,« sagte er, »das habe ich Ihnen schon einmal versichert. Hören Sie mich ruhig an!«

Sie stand einen Augenblick, starrte ihm ins Gesicht und blickte sich darauf um, als ob sie nach einer Waffe oder einem Weg zur Flucht suchte.

»Lassen Sie nur die Fenster,« sagte Krag, »ich stelle mich Ihnen doch in den Weg, bevor Sie sie erreicht haben. Ich bin nicht verrückt. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Mein Eindringen ist etwas seltsam; aber Sie müssen zugeben, daß man Ihrer nur schwer habhaft werden kam. Ich bin Ihnen durch ganz Dänemark und Schweden gefolgt und kann Sie, wie gesagt, von Ihrem Hund grüßen.«

»Ach,« sagte sie, indem sie mühsam lächelte, »sind Sie vielleicht auch in mich verliebt?«

»Sie glauben immer noch, daß ich verrückt bin. Setzen Sie sich und hören Sie mich ruhig an, dann werde ich Sie vom Gegenteil überzeugen! Und dann werde ich Ihnen erzählen, wie ich Ihnen helfen will.«

»Gott behüte,« sagte sie, »alle Menschen wollen mir helfen.«

»Vielleicht habe ich Ihnen schon mehr geholfen, als Sie glauben.«

»Wie wollen Sie mich davon überzeugen?«

»Ich brauche Ihnen wohl nur zu sagen,« antwortete Krag, »daß ich Ihre Feinde kenne.«

Sie fuhr zusammen.

Krag schob ihr einen Stuhl hin.

»Ich sehe, daß Sie Ihre Geistesgegenwart wiedergewonnen haben,« sagte er, »es wird Ihnen darum nicht schwer fallen, mir zuzuhören.«

Sie nahm zögernd Platz, und er setzte sich ihr gegenüber.

Er sah auf seine Uhr.

»Wir haben höchstens eine Viertelstunde Zeit,« sagte er. Sie sah ihn fragend an. »In dieser Viertelstunde muß ich Ihnen alles erzählt haben.«

»Und dann?« fragte sie.

»Dann wird etwas eintreffen,« antwortete Krag ernst.

»Ich verstehe Sie nicht. Aber wollen Sie mir nicht mitteilen, warum Sie mir den ganzen Weg gefolgt sind?«

»Mein Freund, der Polizeileutnant,« antwortete Krag, »hat mir Ihre lange und seltsame Geschichte erzählt.«

»Ich hätte ihn für verschwiegener gehalten.«

»Er glaubte Sie in Gefahr. Und außerdem hatten Sie ihm ja gestattet, Ihnen zu helfen.«

»Ich habe keine Hilfe nötig. Wenigstens jetzt nicht mehr.«

»Ich verstehe, was Sie meinen,« sagte Krag, indem er auf den Kamin zeigte, wo noch einige Brieffetzen lagen. »Sie wollen Selbstmord begehen. Und diesmal im Ernst.« Als er den vergrämten Ausdruck ihres Gesichtes sah, fügte er hinzu: »Es ist nötig, daß wir ohne Rückhalt reden, um zu einem Verständnis zu kommen. Sie wollen mir wahrscheinlich nicht erzählen, warum Sie den Selbstmord vorgetäuscht haben?«

»Ich sehe nicht ein, warum ich es tun sollte.«

»Ich habe eine eigene Methode,« antwortete Krag, »wodurch ich die Wahrheit dennoch erfahren könnte.«

»Was ist daß für eine Methode?«

»Ich habe wenig Zeit. Aber ich werde sie Ihnen dennoch sagen. Ich erzähle selbst, was ich von dem Betreffenden zu erfahren wünsche.«

»Abgesehen von den Indiskretionen Ihres Freundes wissen Sie sicher nicht viel von mir.«

»Was ich Ihnen jetzt erzählen will, ahnt der Polizeileutnant gar nicht. Ich bin Ihrer Sache mit dem größten Interesse gefolgt. Anfangs war ich ganz ohne Richtung, später habe ich mich häufig geirrt. Aber ich habe den wahren Zusammenhang der Sache doch schon lange geahnt, und jetzt bin ich davon überzeugt. Ich weiß, warum Sie diese Komödie spielten, und ich weiß auch, warum Sie Ihren Mann nicht einweihten.«

»Warum? Lassen Sie hören.«

Sie beugte sich interessiert zu ihm.

»Um sein Leben und daß Ihres Kindes zu retten,« sagte Krag.

Sie erhob sich plötzlich vom Stuhl. Sie wurde noch blasser als vorher, und ihre Lippen bebten, als ob sie anfangen wollte zu weinen.

»Setzen Sie sich!« sagte Krag. »Jetzt haben Sie den Beweis, daß meine Methode richtig war. Sie haben sich selbst verraten. Soll ich Ihnen noch mehr erzählen?«

»Sagen Sie mir erst, wer Sie sind!«

»Ich bin Ihr Freund. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen. Glauben Sie mir, oder glauben Sie mir nicht?«

Frau Sonja blickte ihm einen Augenblick prüfend ins Gesicht.

»Sie sprechen wie ein Arzt,« antwortete Sie, »ich fühle mich fast geborgen. Aber sagen Sie mir auch, wer meine Feinde sind!«

Kennen Sie den Österreicher Kraus?« fragte Krag.

Sie schüttelte den Kopf, und es ging wie eine Enttäuschung über ihre Züge.

»Kennen Sie Jean Guyot?« fragte Krag weiter.

Sie schüttelte abermals den Kopf; doch als sie den französischen Namen hörte, wurde sie aufmerksamer.

Jetzt wußte Krag keine Namen des Apachen mehr. Aber er begann ihn zu beschreiben, so wie er aussah, als er ihn zum erstenmal in der Eisenbahn getroffen hatte. Krag war Meister im Beschreiben; er vergaß nichts und verlor sich nicht in unwesentliche Einzelheiten. Frau Sonja lauschte und wurde immer erstaunter und erschrockener.

»Kennen Sie ihn?« fragte Krag.

»Ja,« flüsterte sie, »ich kenne ihn.«

»Ist es der Mann aus Kiew?«

»Ja, und was schlimmer ist, es ist der Mann aus Paris, aus Reims, aus Asnières, aus Marseille. Es ist mein Feind.«

»Und dennoch strebt er Ihnen nicht nach dem Leben?«

»Nein, das ist gerade das Furchtbare.«

»Aber nach dem Leben Ihres Mannes und Kindes?«

»Ja.«

»Und warum?« fragte Krag.

»Sie kennen ihn also doch nicht genau, sonst würden Sie nicht fragen.«

»Ich kenne ihn nicht bei seinem richtigen Namen.«

»Den kennt keiner. Wir nannten ihn eine Zeitlang Pierre noir, den schwarzen Peter.«

Krag lächelte.

»Da haben Sie sich wieder verraten,« sagte er. »Ich sehe, daß meine Methode unfehlbar ist. ›Wir nannten ihn‹, damit haben Sie sich verraten. Erzählen Sie mir alles!«

»Warum sehen Sie die ganze Zeit nach der Uhr?« fragte Frau Sonja erregt.

»Weil wir einen nächtlichen Gast erwarten können.«

»Wen?«

»Den schwarzen Peter,« antwortete Krag.

 


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