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Dreizehntes Kapitel

Die Flucht

Alles dies geschah in der Nacht zum 27. August. Man wird es begreiflich finden, daß der Polizeileutnant in dieser Nacht unruhig schlief. Als er am nächsten Morgen zum ersten Frühstück herunterkam, hatte er erwartet, daß er das Gespräch des ganzen eleganten Hotels sein würde. Aber man beschäftigte sich sehr wenig mit ihm. Man hatte über ganz andere Dinge zu reden. Und an den verschiedenen Gruppen und den ernsten Mienen konnte der Polizeileutnant sehen, daß es etwas sehr Ernstes sei.

Darum setzte er sich abseits, um sein Frühstück einzunehmen und verbarg sich die ganze Zeit hinter der Zeitung, die er las. Es wunderte ihn, daß er nicht ein einzigesmal seinen Namen hörte. Dagegen sprach man laut von Advokat Aage Gade.

Als der Polizeileutnant diesen Namen hörte, fuhr er zusammen. Und da fiel eine Bemerkung am Nebentisch, die ihn erbleichen machte. Man sprach von einem Mord, der an einem Mann begangen worden sei.

Der Polizeileutnant kannte einige von der Gesellschaft. Er erhob sich darum und ging auf sie zu.

»Ich hörte, daß Sie Advokat Gades Namen nannten,« sagte er. »Es ist doch kein Unglück geschehen?«

Als der Norweger sich zeigte, wurde man gleich aufmerksam.

»Ah,« riefen sie, »hier kommt jemand, der uns gewiß Näheres von dem Drama, das heute nacht stattgefunden hat, mitteilen kann. Wissen Sie, daß ein Mord begangen worden ist?«

»Ich habe gehört, daß Sie davon sprachen,« antwortete der Polizeileutnant. »Ich selbst weiß nichts. Was ist denn geschehen?«

Er war furchtbar erschrocken und konnte seine Erregung kaum verbergen. Er war auf das Schlimmste gefaßt.

»Man hat einen Mann ermordet im Walde gefunden,« wurde ihm erwidert.

»Wer ist der Ermordete?«

»Niemand kennt ihn, er sieht aus wie ein Sportsmann.«

»In welcher Verbindung mit diesem Verbrechen aber steht Advokat Gade?«

»Man weiß es nicht genau. Die Polizei meint, daß Advokat Gade ihn kennen muß, weil man den Namen des Advokaten in der Tasche des Ermordeten gefunden hat.«

»Wie ist er getötet worden?«

»Durch einen Schuß in die Brust.«

»Wo hat man ihn gefunden?«

»Im Walde, auf dem Wege, der an Advokat Gades Villa vorbeiführt. Einer von den Milchjungen hat ihn gefunden. Er lag mit dem Kopf im Graben. Der Junge fuhr ihn gleich zum Polizeiamt. Und dort waren merkwürdigerweise schon beide Schutzleute auf den Beinen, obgleich die Uhr erst sechs war.«

Der Polizeileutnant sah nach der Uhr.

»Die Uhr ist jetzt halb zehn,« sagte er, »es ist also vor drei und einer halben Stunde geschehen. Ist es sicher, daß der Mann tot ist?«

»Ja, ziemlich sicher. Es war allerdings noch etwas Leben in ihm, als man ihn zur Polizei brachte. Doch der Arzt, der herbeigerufen wurde, sagte, daß keine Hoffnung mehr sei.«

»Und es ist sicher, daß er sich nicht selbst das Leben genommen hat?«

»Ja, das ist ganz sicher. Er ist mit einem Revolver niedergeschossen worden, und er selbst hatte keinen Revolver bei sich.«

»Ob man ihn wohl zu sehen bekommen kann?«

»Höchstwahrscheinlich. Er liegt noch auf dem Polizeiamt.«

Der Polizeileutnant wußte von seiner Wanderung heute nacht, wo das Polizeiamt lag, und ohne fertig zu frühstücken, eilte er dorthin. Unterwegs aber erwartete ihn eine neue Überraschung.

Als er an Advokat Gades Villa vorbeikam, war dieser gerade im Begriff, sie in Begleitung des einen Schutzmanns zu verlassen. Der Advokat sah ganz verstört aus; aber einen noch verstörteren Eindruck machte der arme Schutzmann.

Als der Advokat seines norwegischen Freundes ansichtig wurde, winkte er ihm. Er drückte ihm die Hand, was dem Polizeileutnant besonders angenehm auffiel.

»Unsere Widerwärtigkeiten sind noch nicht zu Ende,« sagte der Advokat. »Haben Sie schon gehört?«

»Von dem ermordeten Mann? Ja. Aber ich begreife nicht, was das uns angeht.«

»Nein, nein, das meine ich auch nicht. Haben Sie nicht das Neueste von dem Mann mit dem Halstuch, unserem Freund von heute nacht gehört?«

»Nein, der sitzt doch hoffentlich hinter Schloß und Riegel.«

Der Advokat faßte ihn unterm Arm und zog ihn mit sich.

»Wir haben es eilig,« sagte er. »Ich will Ihnen das Ganze unterwegs erzählen. Lieber Freund, der Mann mit dem Halstuch ist heute nacht gar nicht im Gefängnis gewesen.«

Das Gesicht des Polizeileutnants drückte maßloses Erstaunen aus.

»Ich begreife nicht,« sagte er, »er wurde heute nacht doch verhaftet. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen.«

»Sehr richtig, aber er kam nicht bis zum Gefängnis. Das ist leider die Wahrheit. Wir hätten ihn nicht von uns lassen sollen. Das ist eine neue Wahrheit.«

Hier mischte sich der Schutzmann, der mit ihnen ging, ins Gespräch.

»Wenn wir es nur mit dem einen zu tun gehabt hätten,« sagte er, »hätten wir es ja mit ihm aufnehmen können, aber die beiden Spitzbuben zusammen, das war zu viel.«

»Stellen Sie sich vor, wir vergaßen ja den andern, der draußen auf Wache stand und flüchtete, als er Sie kommen sah,« sagte der Advokat. »Er hat sich natürlich dennoch in der Nähe der Villa aufgehalten, um zu beobachten, wie es seinem Kameraden ergehen würde. Er hat die Verhaftung und die Fortführung seines Kameraden zum Gefängnis gesehen.«

Hier mischte der Schutzmann sich wieder ins Gespräch.

»Er griff uns von hinten an,« sagte er, »wir wußten ja nichts von ihm. Er schlug meinen Kollegen mit einem Faustschlag zu Boden. Es war ein furchtbarer Schlag, denn er ist noch immer ganz schwindlig davon. Wie ich mit den beiden allein war, konnte ich mich ihrer nicht erwehren. Außerdem hatte der andere einen Revolver, und ich hatte keinen, darum mußte ich sie laufen lassen. Sie verschwanden im Walde.«

»Aber zum Donnerwetter, warum weckten Sie nicht Leute, um Jagd auf sie zu machen!« sagte der Polizeileutnant.

Der andere antwortete bedächtig:

»Sie dürfen nicht vergessen, daß wir auf dem Lande sind. Außer meinem Kameraden und mir gibt es hier keine Polizisten. Mein Kamerad lag auf der Erde, und ich wußte nicht einmal, ob er tot oder lebendig sei, darum mußte ich mich erst um ihn kümmern. Was konnte ich auch in dem dunklen Wald mitten in der Nacht ausrichten?«

»Der Mann hat recht,« sagte der Advokat, indem er seine Schritte beschleunigte, »hier ist ein Fehler begangen worden, der nicht wieder gut zu machen ist. Ich will an die Polizei in Kopenhagen telegraphieren und um Mannschaften bitten.«

»Es ist wahrlich kein angenehmes Bewußtsein,« sagte der Polizeileutnant, »daß diese schrecklichen Strolche sich in der Nähe des friedlichen Badeortes herumtreiben.«

»Wenn sie nicht schon über alle Berge sind.«

Der Polizeileutnant blieb plötzlich stehen.

»Sollte etwa der Ermordete einer von den beiden Banditen sein?«

»Aber man hat ja meinen Namen in seiner Tasche gefunden.«

»Ein Grund mehr, daß es einer der Banditen sein könnte,« antwortete der Polizeileutnant. »Vielleicht hat er Ihren Namen und Ihre Adresse wegen des Einbruchs aufgeschrieben.«

Der Advokat überlegte und schwieg. Er dachte an das falsche Telegramm. Wenn die Banditen die Absender waren, und daran war ja nicht mehr zu zweifeln, so war es wahrscheinlich, daß einer von ihnen seinen Namen und seine Adresse in der Tasche trug. Darum war es möglich, daß der Ermordete wirklich einer von den beiden Strolchen war. Aber welcher von beiden?

Schließlich erreichten sie die kleine Dorfpolizei. Der Polizeileutnant schüttelte bedenklich den Kopf, als er das wackelige Hofgebäude sah, das als Gefängnis diente. Hätte er es heute nacht gesehen, würde er unzweifelhaft andere Maßregeln getroffen haben. Er war sich darüber klar, daß, wenn der Verbrecher nicht schon auf dem Transport geflüchtet wäre, er sicher im Laufe der Nacht einen Fluchtversuch gemacht hätte.

Als die drei Männer aufs Polizeiamt kamen, begegnete ihnen der Arzt in der Tür. Seinem vergnügten Gesicht konnte man gleich ansehen, daß er etwas Gutes mitzuteilen habe.

»Der Mann kann von Glück sagen,« meinte er, »er erholt sich.«

»Er ist also nicht tot?«

»Nein, und ich hoffe, daß ich ihn durchbringen werde.«

»Ist er bei Bewußtsein?«

»Nein, er redet nur sinnlose Worte vor sich hin.«

»Französisch?«

»Nein, dänisch. Er spricht von einem Graben und einem Motor. Nach den Kleidern zu urteilen, scheint er ein Sportsmann zu sein.«

Der Advokat wurde plötzlich sehr unruhig und drängte hastig ins Nebenzimmer.

Der Arzt öffnete die Tür und zeigte auf eine Gestalt, die mit geschlossenen Augen zwischen weißen Bettüchern auf dem Sofa lag.

Der Advokat näherte sich ihr und blickte ihr ins Gesicht. Dann hob er den Kopf. Er war sehr ernst.

»Lieber Freund,« jagte er, indem er sich an den Polizeileutnant wandte, »wir haben noch mehr auf dem Gewissen. Den da hatte ich ganz vergessen. Es ist mein Chauffeur von heute nacht.«

Hier fügte Asbjörn Krag in seinem Manuskript hinzu:

»Diese Menschen begehen doch Fehler über Fehler. Jetzt haben sie wieder Frau Sonja allein gelassen.«

 


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