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Viertes Kapitel

Eine schreckliche Nachricht

Obgleich die junge Dame sich als Frau Gade vorgestellt hatte, dachte der Polizeileutnant doch keinen Augenblick an seinen Bekannten in Dänemark.

Er verband nichts mit diesem Namen.

Aber er hatte sich plötzlich bis über beide Ohren verliebt.

Die bezaubernde Anmut der jungen Dame entzückte ihn.

Die Angst, die sie durchgemacht hatte, und die sich noch auf ihren weichen, rosigen Wangen malte, verlieh ihr eine gewisse nervöse Unruhe, die sein Herz zum Beben brachte. Er fühlte sie an seiner Seite. Als sie aus dem Wald herauskamen, wünschte er, daß er nie ein Ende genommen hätte, sondern so unendlich gewesen wäre wie die großen norwegischen Wälder. So ging es zu, daß unser armer Polizeileutnant plötzlich sein Herz verlor. Er dachte nicht mehr daran, was er seinen Freunden erzählen wollte, wenn er zu dem langweiligen Polizeiamt zurückkehrte. Es war nicht mehr der Kurmacher, der hier Arm in Arm mit einer neuen Eroberung ging. Es war ein verliebter Mensch, und er merkte es selbst. Es flüsterte in seiner Phantasie, während er plaudernd an ihrer Seite ging: Ich bin verliebt ... verliebt...

Frau hatte sie gesagt, Frau Gade – –

Er fragte sie nach ihrem Vornamen.

»Sonja,« sagte sie.

Und als er diesen fremdartigen Namen hörte, wurde er auf etwas Fremdartiges in ihrem Wesen aufmerksam.

»Sie sind also nicht Dänin?« fragte er.

»Nein,« antwortete sie. »Ich bin in Rußland geboren. Meine Eltern waren Russen.«

Es war ihm, als ob ein Schatten von Unbehagen über ihr Gesicht glitt, indem sie es sagte.

Sollte sie ein Geheimnis haben? dachte er – er meinte es an der Atmosphäre um sie herum zu merken, an ihrem nervösen und unruhigen Wesen. Er nahm sich vor, ihrer Herkunft nachzuforschen. Jetzt erinnerte er sich auch wieder, wie ängstlich sie gewesen war, als sie entdeckte, daß der eine Apache einen Schnitt im Ohr hatte – wie eine gezeichnete Kreatur.

Als er sah, daß sie ihn auf einen Weg geleitete, der nicht zum Badehotel führte, fiel ihm erst ein, sie zu fragen, wo sie wohne. Er hatte als selbstverständlich angenommen, daß sie zu den Hotelgästen gehörte.

Sie zeigte geradeaus auf eine hübsche Ziegelsteinvilla, die halb hinter üppigen Bäumen verborgen lag.

»Dort wohne ich,« sagte sie, »das ist unser Haus. Mein Mann hat es vor einigen Jahren bauen lassen. Wir wohnen hier den ganzen Sommer und ziehen erst spät im Herbst, wenn es kalt wird, nach Kopenhagen.«

»Ich sehe ein Kleid zwischen den Bäumen,« murmelte der Polizeileutnant und blickte aufmerksam hinüber.

»Das muß eines der Mädchen sein,« sagte sie, »ich habe zwei Mädchen. Sonst bin ich heute ganz allein. Mein Mann ist im Gericht.«

»Ist Ihr Mann oft im Gericht?« fragte der Polizeileutnant; im selben Augenblick fühlte er, wie er über die Frage errötete.

Sie aber merkte es gar nicht oder tat jedenfalls, als ob sie es nicht bemerkte.

»Ach ja,« antwortete sie, »recht oft.«

Und im selben Augenblick seufzte sie. Helmersen fühlte die Bewegung ihrer Brust an seinem Arm. Ein Schauer durchbebte ihn. Er seufzte. Sie liebte also ihren Mann.

Jetzt waren sie bis zum Gitter gekommen, einem fast zwei Meter hohen Eisengitter, das den Garten umgab. Ein gelber Kiesweg führte von dem breiten, schmiedeeisernen Tor zum Haus. An der Pforte nahm sie freundlichen und herzlichen Abschied von ihrem Ritter. Sie sandte ihm einen merkwürdigen, fernen und prüfenden Blick, indem sie sagte:

»Ich hoffe, daß Sie uns besuchen werden, wenn mein Mann aus Kopenhagen zurückkommt.«

Helmersen dankte und versprach es gern.

Dann ging sie über den Kiesweg auf das Haus zu. Der Polizeileutnant konnte sie lange zwischen den Eisenstäben des Gitters verfolgen.

Als Helmersen in sein Zimmer zurückkehrte, war er ganz verwirrt von der sonderbaren Begegnung. Er meinte ihre Augen überall zu sehen – die großen, tiefen Augen mit den langen Wimpern.

Am nächsten Tag spazierte er mehrmals an der Villa vorbei. Einmal meinte er ihr Kleid ganz von weitem zu erblicken, aber es war zu tief zwischen den Bäumen des Gartens, als daß er es genau erkennen konnte.

Zufällig kam er nachmittags an der kleinen Landstation vorbei.

Er stand gerade vor dem Bahnhofsgarten, als der Kopenhagener Zug herangebraust kam; wenn man den Ausdruck »brausen« bei dem elenden kleinen Zug gebrauchen kann, der über die Schienen geklappert kam. Er betrachtete das helle Sommergewimmel auf dem Bahnsteig, lachende und flirtende und kaffeebraune Badegäste, heitere, farbenreiche Toiletten, Winken mit Schleiern und weißen Taschentüchern aus den Coupéfenstern. Das ganze herrliche Leben, das die Abwechslung des Badeortes ausmachte: die Ankunft des Zuges aus Kopenhagen.

Da mitten im Gedränge sah er sie. Sie trug eine kleidsame weiße Toilette, keinen Hut, Blumen an der Brust. Ein Herr stieg aus dem Zug und näherte sich ihr.

Ihr Mann, dachte Helmersen, und sein Herz klopfte. Der Polizeileutnant konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen, denn er hatte seinen Panamahut tief in die Augen gedrückt.

Da nahm er den Hut vor seiner Frau ab und begrüßte sie, sie küßten sich. Sie lächelte und schien glücklich.

Und da erkannte er den Mann wieder. Das war ja der dänische Advokat Aage Gade, dem er früher einmal in Christiania behilflich gewesen war. Unbewußt freute er sich darüber, daß er auf diese Weise einen neuen Berührungspunkt mit der Familie gefunden hatte.

Das glückliche Ehepaar verläßt den Bahnhof, und als Frau Gade des Polizeileutnants ansichtig wird, führt sie ihren Mann auf ihn zu.

Kaum aber sind sie halbwegs, als der Advokat den Fremden selbst entdeckt und ihm mit ausgestreckten Händen entgegengeht.

Es wurde ein warmes Wiedersehen.

»Lieber Freund,« sagte der Advokat, »es freut mich außerordentlich, Sie zu treffen. Warum haben Sie mich in Kopenhagen nicht besucht?«

Der Polizeileutnant gibt einige Redensarten zum besten.

Dann sagt der Advokat:

»Wie schön, daß ich Gelegenheit habe, Sie meiner Frau vorzustellen!« Er dreht sich zu Frau Sonja um und sagt einige sehr hübsche Worte über seinen norwegischen Freund.

Der Polizeileutnant ist gerade im Begriff zu sagen daß er bereits die Ehre gehabt habe, die schöne Frau kennen zu lernen, als ihn ein Blick aus Frau Sonjas Augen trifft.

Ein Blick... Der Polizeileutnant erbebte bei diesem Blick.

Noch nie war er solchen flehenden Augen begegnet.

Um was bat sie?

Er wußte es nicht. Aber von einem Instinkt geleitet, tat er, als ob sie ihm unbekannt sei. Und sie beugte den Kopf dankbar und beifällig.

Plötzlich ist es, als ob der Advokat sich auf etwas besinnt. Er wird auf einmal ernst, wendet sich an seine Frau und sagt:

»Weißt du, Sonja, der Mann mit dem Schnitt im Ohr ist aus Kiew geflüchtet.«

Sie wurde plötzlich totenblaß.

 


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