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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Der Bewohner der Villa

Der Schuppen war ziemlich eng; man sah, daß er früher zum Aufbewahren von Gerätschaften gedient hatte, denn vereinzelte Dinge lagen umher oder hingen an rostigen Nägeln an den Wänden.

Im übrigen war der Schuppen sehr baufällig, da er sicher seit Jahren nicht instand gesetzt war. Die Tür war eingeschlagen und lag mit zersplitterten Brettern über der Schwelle. Durch diese Öffnung konnten Asbjörn Krag und seine Begleiter alles sehen, was in der unmittelbaren Nähe der Villa vorging, ohne selbst gesehen zu werden. Es war die höchste Zeit, daß sie das Haus verlassen hatten, denn sie hatten noch nicht viele Minuten gewartet, als ein Geräusch im Walde verriet, daß jemand sich näherte. Es war eine menschliche Gestalt. In der grauen Dämmerung konnte niemand von ihnen die Gestalt genau unterscheiden. Es war ein Mann in einem gewöhnlichen Jackettanzug, mit einer Sportmütze auf dem Kopf. Es sah aus, als ob er geradewegs auf das Haus zuging. Er ging langsam und schlendernd und schien niemanden zu fürchten. Die Sportmütze war tief in die Augen gezogen, so daß man das Gesicht nicht sehen konnte. Um den Hals trug er ein Tuch.

»Kennen Sie ihn?« flüsterte Krag dem Polizeileutnant ins Ohr.

Der Polizeileutnant war sehr erregt. Er strengte sich an, den durch die Dämmerung Näherkommenden zu mustern. Aber sein Gesicht konnte er noch immer nicht sehen.

»Es scheint alles zu stimmen,« flüsterte er, »der Anzug, das Halstuch, der Gang, die Gestalt, das Ganze. Er muß es sein.«

Eine Weile schwiegen alle drei. Der Mann näherte sich dem kleinen Haus mehr und mehr. Er blickte zu Boden. Und plötzlich blieb er stehen. Er war auf etwas aufmerksam geworden. Und jetzt beugte er sich herab.

»Er hat unsere Fußspuren entdeckt,« flüsterte Krag. »Verflucht, daß er nicht etwas früher gekommen ist, damit die Dunkelheit ihn daran verhindert hätte.«

Der Fremde schien wirklich erstaunt zu sein. Er untersuchte den Boden in weitem Umkreis. Schließlich richtete er sich auf und blickte sich um, als ob er jemanden erwarte. Er lauschte. Als aber alles still blieb, ging er ins Haus.

Jetzt war es Zeit. Die drei Männer verharrten noch ein paar Minuten in größter Spannung. Jeder glaubte mit Bestimmtheit, daß der Fremde jetzt bereits entdeckt haben müsse, daß Gäste in der Villa gewesen seien. Jetzt mußte er den Hund gefunden haben. Warum aber war er so still? Warum geschah nichts mehr? Nichts rührte sich in der Villa oder außerhalb. Es war, als ob niemand da sei.

Der Polizeileutnant sagte leise, wie wenn ihm die Worte in der Kehle stecken blieben:

»Ein furchtbarer Gedanke, daß der Mörder der armen Frau Sonja dort im Hause ist!«

Er griff mit der Hand in die Tasche, und Krag verstand, daß er nach seinem Revolver fühlte.

»Kaum zwanzig Schritt von mir entfernt,« fügte er hinzu.

Asbjörn Krag klopfte ihn beruhigend auf die Schulter.

»Seien Sie vorsichtig,« sagte er, »eine Dummheit oder eine leidenschaftliche Handlung kann alles verderben. Ich will mich allein zur Villa begeben.«

Krag legte seinen Begleitern ans Herz, unbeweglich stehen zu bleiben, bis er sie riefe, und dann schlich er über einen Umweg durch den Wald zur Villa. Er wollte den offenen Platz vermeiden, um nicht vom Fenster aus gesehen zu werden. Die anderen folgten seiner Wanderung Schritt für Schritt mit den Augen.

Inzwischen war es ganz hell geworden, und die schöne, blanke Herbstsonne legte ihr Gold auf die flimmernden Fensterscheiben. Asbjörn Krag schlich sich bis zum Fenster. Die anderen, die nur auf sein Zeichen warteten, um auch heran zu kommen, sahen von ihrem Versteck aus, wie er sich nach vorn beugte und ins Fenster hineinguckte. Sie hatten erwartet, daß er die größte Vorsicht beobachten würde. Statt dessen stellte er sich mitten vors Fenster, und an seiner Haltung konnten sie sehen, daß im Zimmer etwas Besonderes vorging. Die anderen warteten umsonst, daß er ihnen ein Zeichen geben würde, näher zu kommen.

Fast hätte der Polizeileutnant die Geduld verloren. Endlich sah Krag zum Schuppen hinüber und winkte seinen Begleitern.

Sie wollten sich mit größter Vorsicht auf demselben Weg näherschleichen, den Asbjörn gegangen war – erst durch den Wald und dann auf einem Umweg zum Hause. An Krags Gebärden aber sahen sie, daß sie sich diese Mühe nicht zu machen brauchten. Und darum kamen sie auf dem kürzesten Weg heran.

Sie waren beide sehr gespannt, denn Krags Benehmen war höchst auffällig, vor allen Dingen sehr unvorsichtig. Was hatte der Detektiv gesehen?

Als er das Fenster erreicht und ins Zimmer geblickt hatte, entdeckte er den Fremden sofort. Der Apache – und jetzt konnte er sehen, daß es wirklich ein typischer Apache war – kniete auf der Erde und hatte die Arme um den Hals des toten Hundes geschlungen.

Das Fenster war geschlossen, so daß Asbjörn Krag nicht hören konnte, was der Apache sagte. Denn der Apache sagte etwas. Man konnte es an seinen Bewegungen, an dem nervösen Zucken der Schultern erraten. Fast sah es aus, als ob er dem toten Hund liebevolle und verzweifelte Worte ins Ohr flüsterte. Es sah aus, als ob er weinte. Nichts in der Welt hätte ihn in diesem Augenblick stören können, so hingenommen war er von seinem grenzenlosen Kummer über den Tod des geliebten Tieres. Einmal schien es Krag sogar, als ob der Apache zum Fenster aufblickte und ihn entdeckte. Aber er schien vollkommen stumpf gegen diese Entdeckung zu sein und warf sich wieder über den Hund. Da hatte Krag den anderen gewinkt.

Die näherten sich behutsam dem Fenster. Asbjörn Krag ging ihnen entgegen und flüsterte dem Polizeileutnant zu:

»Kommen Sie allein! Der Amtmann soll zurückbleiben.«

Krag faßte seinen Freund unter Arm und zog ihn mit ans Fenster.

Der Detektiv lächelte. Er war bei guter Laune.

»Ich will Ihnen mal was zeigen,« sagte er. »Einen solchen Apachen habe ich noch nicht gesehen. Vielleicht ist die Zeit der Romantik doch noch nicht vorbei.«

Der Polizeileutnant und Krag stellten sich ans Fenster und spähten hinein.

Der Apache lag noch immer in seiner seltsamen Stellung, den Kopf in das schmutzige Fell des Hundes vergraben.

Seine Mütze hatte er verloren. Sein Haar war kohlschwarz und fiel ihm in unordentlichen Strähnen in die Stirn.

»Erkennen Sie ihn wieder?« flüsterte Krag.

»Ich glaube, daß ich ihn erkenne,« antwortete der Polizeileutnant, aber es war etwas Unruhiges und Nervöses über ihn gekommen. Er preßte sein Gesicht gegen die Fensterscheibe und starrte ins Zimmer, als ob er ein Gespenst sähe.

»Woran denken Sie?« fragte Krag.

Aber der Polizeileutnant antwortete nicht. Er war viel zu sehr in den Anblick des Hundes und des Menschen in der Stube drinnen vertieft.

Da plötzlich hob der Apache den Kopf, sie konnten beide sein Gesicht sehen. Es war vom Weinen vergrämt.

Im selben Augenblick fuhr der Polizeileutnant zurück, als ob er von einer Kugel getroffen sei, und er wäre gefallen, wenn der Detektiv ihn nicht in seinen Armen aufgefangen hätte. Er war blaß wie ein Toter.

Da erklang drinnen in der Hütte ein Schrei. Die Tür wurde aufgerissen, und im nächsten Augenblick verriet ein Sausen durch den Wald, daß ein Mensch flüchtete.

Der schwedische Amtmann lief herbei.

»Der Bandit brennt durch,« schrie er.

Krag hob seinen Revolver.

Durch die Baumstämme konnten sie die flüchtende Gestalt sehen, die sich mit fabelhafter Geschwindigkeit über den weichen Waldboden bewegte.

Krag, der ein vortrefflicher Revolverschütze war, wollte gerade abdrücken, als der Polizeileutnant sich an seinen Arm hing.

»Um Gottes willen, nicht schießen!« rief er atemlos. »Es ist nicht der Apache.«

Die flüchtende Gestalt rannte jetzt über die Landstraße.

Dort stand an einen Baum gelehnt ein Zweirad, auf das der Apache sich schwang. Er raste mit wahnsinniger Schnelligkeit davon. Im nächsten Augenblick hatten sie ihn aus dem Gesicht verloren.

Jetzt trat der schwedische Amtmann zu ihnen. »Ihr Norweger seid komische Leute,« sagte er. »Erst sucht Ihr jemanden, und wenn Ihr ihn gefunden habt, laßt Ihr ihn laufen. Was soll das bedeuten?«

»Das soll bedeuten,« antwortete der Polizeileutnant, »daß wir uns in der Person geirrt haben.«

»Haben Sie den Apachen erkannt?« fragte Krag.

»Ja,« antwortete der Polizeileutnant, »ich habe sie erkannt.«

Sie‹ hatte er ausdrücklich gesagt.

 


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