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Achtundzwanzigstes Kapitel

Die verlorene Spur

Asbjörn Krag und Helmersen folgten den Spuren längs des Grabenrandes. Die Abdrücke der Reifen zeichneten sich deutlich in der feuchten Erde ab.

»Sie kann uns nicht entgehen,« sagte Krag. »In einer Viertelstunde sind wir in Söderköping. Dort kann ich ein Fahrrad bekommen, und dann übernehme ich es, ihren Spuren auf allen Landstraßen der Welt zu folgen.«

Hierauf antwortete der Polizeileutnant nichts. Seine Augen hatten einen geistesabwesenden und ängstlichen Ausdruck bekommen. Krag guckte ihn von der Seite interessiert und prüfend an.

»Na,« fragte er, »wollen Sie mit von der Partie sein?«

»Ja,« antwortete der Polizeileutnant mürrisch.

Krag klopfte ihn beruhigend auf die Schulter.

»Nur heraus mit Ihren Bedenken!«

»Ich möchte sie natürlich furchtbar gern wiedersehen,« antwortete der Polizeileutnant mit Überzeugung. »Aber ich überlege, wen wir eigentlich verfolgen. Anfangs glaubten wir, hinter einem internationalen Verbrecher her zu sein, den wir in Verdacht hatten, oder richtiger gesagt, von dem wir mit Bestimmtheit annahmen, daß er einen Mord begangen habe. Jetzt aber haben wir den Verbrecher verloren und verfolgen eine Dame, die sich aus irgendeinem Grunde als Mann verkleidet hat –«

Der Polizeileutnant warf einen Blick auf den schwedischen Amtmann, der ihnen in einiger Entfernung folgte.

»Ich habe das bestimmte Gefühl,« sagte er, »daß wir keinem Verbrecher mehr auf der Spur sind. Diesem Mann aber haben wir ein Verbrechen gemeldet, darum sind wir gezwungen, die Meldung zurückzunehmen.«

»Warum?«

Der Polizeileutnant schnitt eine Grimasse.

»Meinen Sie vielleicht,« fragte er, »daß wir noch immer auf einen Verbrecher Jagd machen?«

Asbjörn zeigte auf die Fahrradspuren.

»Ich meine,« antwortete der Detektiv, daß diese Spuren uns der Aufklärung eines Verbrechens näherbringen werden.«

»Welches Verbrechen?«

»Eines, daß wir nicht kennen, das wir vielleicht ahnen. Vielleicht ist es noch gar nicht begangen, sondern schwebt nur wie eine Drohung in der Luft.«

»Und sie sollte an diesem Verbrechen teilhaben?«

»Lieber Freund,« sagte Krag – und jetzt war wirklich ein Ton von Mitleid in seiner Stimme »bisher haben wir geglaubt, einen Verbrecher zu verfolgen. Ich sehe nicht ein, weshalb wir unsere Auffassung ändern sollten.«

Da fuhr der Polizeileutnant auf und blieb stehen.

»Weitergehen!« sagte Krag barsch. »Ich werde mit dem Amtmann sprechen.«

Er wandte sich zu ihrem schwedischen Begleiter um, der sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte, weil er begriff, daß die beiden norwegischen Herren etwas Privates zu verhandeln hatten.

Jetzt hatte Krag eine hastige Unterredung mit ihm am Wegsaum. Aus der schlecht verborgenen Munterkeit des Amtmanns ersah Krag, daß dieser den ganzen Aufwand für lächerlich hielt. Das Benehmen der beiden Norweger und ihre vielen rätselhaften Bemerkungen waren nicht dazu geeignet gewesen, ihm einen Eindruck von der Ernsthaftigkeit der Situation zu geben. Darum fiel es Krag nicht schwer, ihn davon zu überzeugen, daß man seine Hilfe nicht mehr brauchte, und daß diese Affäre vorläufig nicht mehr als Kriminalsache zu betrachten sei.

Krag dankte dem Amtmann für seine Hilfeleistung und bat ihn noch, ihnen in Söderköping ein oder zwei Fahrräder zu verschaffen. Dies versprach der Amtmann mit größter Bereitwilligkeit.

Dann gingen sie alle drei zusammen weiter. Und dadurch wurde der Polizeileutnant daran verhindert, Krag eine nähere Erklärung betreffs seiner sonderbaren Bemerkung über Frau Gade abzufordern. Aber er konnte nicht vergessen, was Asbjörn Krag gesagt hatte. Er war die ganze Zeit stumm, während die andern lebhaft über andere Dinge sprachen, über die neuesten schwedischen Rechtsfälle und dergleichen. Krag verriet in all diesen Dingen eine Lokalkenntnis, die den schwedischen Amtmann in Erstaunen setzte.

So verging einige Zeit, und sie näherten sich bereits Söderköping. Der Morgen schritt immer weiter vor. Hin und wieder begegnete ihnen ein Wagen, oder ein Fußgänger kam der sie ehrerbietig grüßte, verwundert, an diesem Ort und zu dieser Zeit Fremde zu treffen. Plötzlich blieb Asbjörn Krag mit einem Ausruf stehen.

Sie waren zu einer Brücke gekommen, die über einen kleinen Bach führte. Oder richtiger, es waren eigentlich zwei Brücken. Eine Kombination von einer Eisenbahnbrücke und einer Brücke für Fußgänger und Fuhrwerke. Die eine über der andern. Darunter floß der Bach. Er war schmal, aber tief und reißend. Da die Landstraße zur Brücke abfiel, war es dort ziemlich morastig.

Krag war stehengeblieben, weil er entdeckt hatte, daß die Fahrradspuren hier plötzlich aufhörten. Sie führten in den Graben hinunter und verschwanden.

Er untersuchte die Landstraße in weitem Umkreis und folgte den Spuren ein Stück rückwärts. Man sah, daß ein Gedanke von ihm Besitz ergriffen hatte der ihn sehr beschäftigte.

»Die Flüchtende,« sagte er, »ist sehr schnell gefahren. Das kann ich an den Fahrradspuren sehen, die wie mit dem Lineal gezogen sind. Plötzlich aber hat sie nicht weiterfahren wollen und ist hier abgesprungen.«

»Vielleicht ist sie der Brücke wegen abgestiegen,« schob der Amtmann ein.

Asbjörn Krag schüttelte den Kopf.

»Nein,« antwortete er, »dann würde man die Spuren des Rades in der weichen Erde sehen können. Sie ist abgestiegen und nicht weitergefahren. Wo aber ist sie geblieben, zum Teufel? Und das Rad? Hier ist die Erde ja überall so weich, daß sie jede Spur festhalten würde. Und ich kann nicht das Geringste sehen.«

Krag betrachtete den Weg von neuem mit größter Aufmerksamkeit. Seine Augen schweiften über die Brücke zur Eisenbahnbrücke und in den rinnenden Bach hinunter.

Dann sah er auf seine Uhr.

»Die Uhr ist jetzt 7,« sagte er, »und ich nehme an, daß der Flüchtling einen Vorsprung von 35 oder 40 Minuten gehabt hat. Lieber Amtmann, Sie wissen gewiß die Fahrzeiten der Züge, nicht wahr?«

»Ich kenne ihre Ankunftszeit und Abgangszeit in Söderköping genau,« antwortete der Amtmann.

»Dann können Sie wohl auch ausrechnen, ob hier vor ungefähr einer halben Stunde ein Zug vorbeigefahren ist?«

Der Amtmann dachte nach.

»Ja,« sagte er, »das kann stimmen. Um die Zeit ist der Schnellzug nach Helsingborg hier vorbeigekommen. Er soll um ½7 in Söderköping sein. Das stimmt also auf ein Haar.«

»Dann ist mir alles erklärlich,« rief Krag. »Die Flüchtende hat den Schnellzug kommen sehen und gleichzeitig einen Plan gefaßt. Sie hat erkannt, daß es ihr nicht mehr möglich sein würde, mit dem Fahrrad zu entkommen, wenn die Telephonämter an den verschiedenen Orten ihren Tagesdienst eröffneten. Da hat sie den verzweifelten Entschluß gefaßt, auf den Zug zu springen. Über diese alte gebrechliche Brücke fährt der Zug natürlich sehr langsam. Gleichzeitig hat sie ihre Verfolger auf eine falsche Fährte bringen wollen. Meine Herren, das scheint mir ganz klar. Sie hat das Fahrrad in den Bach geworfen, ist auf die Brücke geklettert, und es ist ihr gelungen, sich auf den Schnellzug zu schwingen. Ich nehme an, daß Frau Sonja bereits in Helsingborg ist.«

Der Polizeileutnant unterbrach seinen Kollegen zornig:

»Hier ist die Rede von einer Dame,« sagte er, »und nicht von einem Akrobaten.«

Lieber Freund,« antwortete Asbjörn Krag, »ich sehe, daß ich Frau Sonja besser kenne als Sie. Wir reisen jetzt nach Helsingborg. Wenn mich nicht alles täuscht, erwartet uns dort ein kleines Abenteuer.«

 


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